Neuausgabe von "Mein Kampf": Adolf Hitler ins Wort gefallen
Siebzig Jahre war in Deutschland die Verbreitung von „Mein Kampf“ unter Berufung auf das Urheberrecht unterbunden. Am 1. Januar lief es aus - eine kommentierte Neuausgabe erscheint am 8. Januar.
Es war nie wirklich weg und doch offiziell nicht mehr da, jenes „Buch der Deutschen“, wie es im NS-Reich zwölf Jahre lang annonciert wurde. Adolf Hitlers „Mein Kampf“, ob gelesen, angelesen, ungelesen, es ist, mit einer dämonischen Aura behaftet, das wohl berühmteste Unbuch der Welt.
Die oft beschworene „Stunde null“ existiert eigentlich nicht in der Geschichte, die über Brüche und Zäsuren hinweg doch immer weiterläuft. Aber eine Stunde null schien es im Jahr 1945 wirklich gegeben zu haben für Hitlers „Mein Kampf“, eine zweibändige, 782 Seiten dicke Mischung aus Autobiografie und politischer Programmschrift. Joseph Goebbels hatte als Propagandist des Autors noch vom „größten Bucherfolg aller Zeiten“ geschwärmt, und tatsächlich gab es bis zum Kriegsende allein in Deutschland 1031Auflagen: mit 12,4 Millionen gedruckten Exemplaren. Weit mehr als von Karl May, den auch Hitler schätzte.
Kaum war der Krieg für die Deutschen verloren, hatten sich freilich ebenso die Buchbesitzer verloren. Die bekennende Leserschaft tendierte plötzlich gen null. Und zur Ironie der Historie gehört, dass die größte Bücherverbrennung in deutschen Kaminen damals offenbar das Werk des obersten Bücher- und Menschenverbrenners traf. Man verheizte, was man angeblich nie gelesen hatte. Selbst Albert Speer, Hitlers Baumeister und Rüstungsminister, der dank geschickter Selbstdarstellung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess dem Galgen entronnen war, sprach 1969 in seinen zum Bestseller gewordenen „Erinnerungen“ von den „vergeblichen Ansätzen, das Buch zu lesen“.
Sollen wir es nun heute lesen? Auf Arte lief eine knapp einstündige Dokumentation mit dem Titel „Mein Kampf. Das gefährliche Buch“. Es ist ein seriöser Film, der gleichwohl mit Bildern heutiger Flüchtlinge und Pegida-Demonstrationen arbeitet. Zwar sei Hitlers zeitgeschichtlicher Kontext Vergangenheit, aber „Ultranationalismus und Rassismus“ wirkten als „Grundgedanken“, so der abschließende Kommentar, für viele noch immer „verführerisch“.
2000 Seiten, 3500 wissenschaftliche Anmerkungen
Der aktuelle Anlass: Am 8. Januar 2016 wird das Institut für Zeitgeschichte in München erstmals eine kritisch edierte, mit 3500 wissenschaftlichen Anmerkungen versehene Ausgabe von „Mein Kampf“ vorstellen. Das sind dann zwei Bände in grauem Leinen: 2000 Seiten, auf denen jeweils rechts oben in leicht gefetteter Schrift der Text der Originalausgabe erscheint, während Randspalten Varianten in Folgeauflagen vermerken und in Fußnoten sowie längeren Kommentaren auf der gegenüberliegenden Seite die Entstehung des Haupttextes erläutert und über historische Hintergründe, Hitlers Quellen (wie die von Antisemiten erfundenen „Protokolle der Weisen von Zion“), über Anspielungen, Irrtümer oder Lügen aufgeklärt wird.
Bislang war eine gedruckte Neuauflage von „Mein Kampf“ in Deutschland politisch, moralisch und auch juristisch tabu. 1945 hatte die amerikanische Militärverwaltung Hitlers Vermögen konfisziert. Das Erbe trat dann der Bayerische Staat an, da der verblichene „Führer“ bis zuletzt mit seiner Neun-Zimmer-Privatwohnung im bis heute unversehrt erhaltenen Altbau Prinzregentenplatz 16 in München-Bogenhausen polizeilich gemeldet war. Ende 2015 jedoch erlischt, 70 Jahre nach Hitlers Tod, das gesetzliche Urheberrecht, und der Autor A. H. wird sodann „gemeinfrei“, wie das heißt.
Ganz dahin will es die Bayerische Staatsregierung zwar nicht kommen lassen und prüft, inwieweit ein schierer Nachdruck der einstigen „Kampf“- Schrift noch vom Straftatbestand der Volksverhetzung erfasst werden könnte. Doch gegen eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe greift nun kein weiterer Einspruch. Ohnehin ist der Verkauf antiquarischer Exemplare nicht als verfassungswidrige Propaganda verboten, weil sie vor Inkrafttreten des Grundgesetzes gedruckt wurden, und im Internet steht der Text sowieso zu lesen.
Auch im Ausland kursiert „Mein Kampf“ in zahllosen Varianten. Hitler sells. Vor allem in arabischen Ländern ist das Buch ein Hit, es existieren weltweit Übersetzungen, vollständig oder gekürzt, gleich mehrere allein in Indien, auch Japan kennt eine populäre Manga- Version. Da sind die bayerischen Rechteschützer faktisch machtlos. Nur gegen einige (längst nicht alle) europäische Ausgaben oder die Pläne eines englischen Verlegers, „Mein Kampf“ mit einem kürzeren Begleittext an die deutschen Kioske zu bringen, hat man sich zuletzt erfolgreich wehren können.
Als das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) vor gut drei Jahren die Arbeit an seiner kritischen Edition begann, war dies dem Bayerischen Staat noch eine Anschubfinanzierung von 500 000 Euro wert. Eine Reise nach Israel (wo eine vom Historiker Moshe Zimmermann herausgegebene Studienausgabe von „Mein Kampf“ existiert) und der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ließen Ministerpräsident Horst Seehofer dann anderen Sinnes werden. Von der weiteren Förderung des Projekts wurde abgesehen, im IfZ empfand man dies als „Nackenschlag“ und machte trotzdem weiter.
Vorsicht scheint indes geboten. Bevor Andreas Wirsching, seit 2011 Leiter des Instituts, und sein Historikerkollege Christian Hartmann, Projektleiter und Mitherausgeber der neuen „Mein Kampf“-Edition, im Januar mit den beiden grauen Bänden vor die deutsche Medienöffentlichkeit treten, haben sie in Berlin gleichsam als Test einen einstündigen Auftritt vor der hier akkreditierten Auslandpresse absolviert. Also drängten sich im kleinen Saal des Magnus-Hauses am Kupfergraben, gegenüber der Museumsinsel und neben dem Wohnsitz der Bundeskanzlerin, Anfang Dezember Kamerateams und Journalisten aus aller Welt.
Die ersten Fragen galten da der Auflage sowie der Verwendung der Verkaufserlöse. Andreas Wirschings Antwort: Es werden zwischen 3500 und 4000 Exemplare gedruckt, 400 übernimmt davon die Bundeszentrale für politische Bildung, und der Verkaufspreis von 59 Euro lasse „zunächst mal keine Gewinne erwarten“. Über drei Jahre lang seien vier promovierte Wissenschaftler mehr oder weniger hauptamtlich tätig gewesen, dazu über hundert Hilfskräfte und externe Experten, nicht nur Historiker, Soziologen und Psychologen, auch Naturwissenschaftler. In der Ausgabe würden rund 150 Mitarbeiter namentlich benannt. Man habe auch einen eher niedrigen Selbstkostenpreis gewählt, falls aber „irgendwann“ trotzdem Erlöse anfielen, „werden wir die zu gemeinnützigen Zwecken stiften“.
Mit dem Buch soll kein Geld verdient werden
Tags darauf in der „New York Times“ war diese Bemerkung so nicht zu lesen, womöglich aus sprachlichen Verständigungsgründen (die Pressekonferenz wurde auf Deutsch gehalten), wobei die „Times“ an der Seriosität des Unternehmens nicht zweifelte und eigens betonte, dass auch Vertreter jüdischer Gruppen keine Einwände erhöben. Tatsächlich setzt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf die kritische Kommentierung. Und Margot Friedländer, die in Berlin geborene, spät zurückgekehrte Holocaust-Überlebende, sagt in dem Arte-Film, sie finde es richtig, wenn die Erklärung des schrecklichen Buchs das Gewissen „der jungen Menschen“ aufrütteln helfe. Dabei trägt sie vor der Kamera, wie oft auch bei Besuchen in Schulen, die Bernsteinkette, die sie als einzige Hinterlassenschaft ihrer in Auschwitz ermordeten Mutter besitzt.
In der „Bild“-Zeitung, die einen Tag nach der „New York Times“ mit Bezug auf das Blatt erscheint, schaut Hitler von der Titelseite und neben ihm die balkenhohe Schlagzeile „Es ist wieder da“. Gemeint ist „Mein Kampf“, die „widerliche Kampfschrift (...) in neuer kommentierter Auflage. Warum?“ Acht Seiten später wird halb gruselnd, halb achtungsvoll auf die eben noch als neue „Auflage“ bezeichnete Ausgabe des Münchner Instituts hingewiesen, freilich mit der Unterzeile „Und wer verdient daran?“ Erst ganz am Ende steht die Aussage von IfZ-Pressesprecherin Simone Paulmichl, dass man mit der aufwendigen Edition „auf absehbare Zeit kein Geld verdienen“ werde.
Hitler sells. Das wird auch dann noch suggeriert (oder insinuiert), wenn es eigentlich um wissenschaftliche Aufklärung gehen sollte. Tatsächlich war „Mein Kampf“ einst ein ökonomischer Erfolg. Der erste Band mit dem Untertitel „Eine Abrechnung“ ist 1925, vor 90 Jahren, im rechten Münchner Franz Eher Verlag erschienen. Hitler hatte den Text auf einer Schreibmaschine der Marke „Meteor“ und später einer moderneren Remington selbst getippt, als er wegen des Münchner Novemberputsches von 1923 neun Monate in der Festung Landsberg in Haft saß. Der gescheiterte Kunstmaler und Weltkriegsgefreite war zwar schon Anführer der NSdAP, galt als begabter Redner, doch noch nicht als politische Größe. Und nach dem Gerichtsprozess war er pleite – da sollte das Buch helfen, obwohl er sich selber mehr als Rhetoriker denn als „Mann der Feder“ begriff.
Hitler erhielt rund 15 Millionen Reichsmark an Honoraren
Erstaunlich, dass man vom ersten Band gleich 10 000 Exemplare druckte, zum stolzen Preis von 12 Reichsmark. Zur Jahreswende 1926/27 folgte der seinem Sekretär und späteren Stellvertreter Rudolf Hess diktierte zweite „Kampf“-Band („Die nationalsozialistische Bewegung“). Von beiden zusammen betrug die Auflage bis zur Machtergreifung 1933 immerhin bereits 241 000 Exemplare. Danach explodierten die Zahlen, es gab immer neue Volksausgaben, Brautpaare erhielten die nationale Bibel auf dem Standesamt, für die Gauleiter gab es Großversionen in Leder mit Goldschnitt. Nach Kriegsende wurden auf Hitlers Bankkonto 15 Millionen Reichsmark als Honorare ermittelt, davon waren acht Millionen abgerufen worden, unter anderem für den Kauf und monumentalen Ausbau von Hitlers „Berghof“ auf dem Obersalzberg.
Auf dem Obersalzberg übrigens hat das Instituts für Zeitgeschichte eine exzellente, jährlich von fast 200 000 in- und ausländischen Besuchern aufgesuchte Dokumentationsstätte eingerichtet, eines der besten deutschen Museen zur NS-Geschichte. Das 1949 in München gegründete Institut mit seinen etwa 120 Mitarbeitern hat zudem eine Forschungsstelle in Berlin-Lichterfelde sowie eine Dependance im Auswärtigen Amt, wo dessen Akten erforscht und ediert werden. IfZ-Direktor Andreas Wirsching und Projektleiter Christian Hartmann, beide fast zeitgleich 1959 in Heidelberg geboren, erscheint auch nur der Verdacht einer „Spekulation“ mit Hitler und seinem Buch angesichts des weltweiten Renommees ihres Instituts als „absurd“.
Wir treffen uns in Berlin im Café des Deutschen Historischen Museums, zu dessen Beirat Wirsching gehört. Ist „Mein Kampf“ also heute noch ein „gefährliches Buch“? Christian Hartmann glaubt, dass Rechtsradikale und Verrückte meist ohne wirkliche Kenntnis eher den Mythos als den tatsächlichen Text instrumentalisieren. Und Andreas Wirsching betont: „Wir fallen Hitler mit unserer Ausgabe immer wieder ins Wort, lassen keine Seite und wichtige Stelle unkommentiert. So wird er eingekreist.“ Das gab es noch nie. Unter den Nazis galt „Mein Kampf“ als „Offenbarung“, die durfte nicht weiter interpretiert werden.
"Es reicht jetzt auch", sagt einer der Wissenschaftler
Historiker haben immer auf den frühen Judenhass, auf Hitlers paranoide Idee einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung hingewiesen, auf seinen Arier-Wahn und Stilblüten wie die „zu Hunderttausenden“ herumliegenden „Eier des Kolumbus“. Von der literarischen Schwäche wurde so bisweilen auf einen nicht politisch, aber persönlich „schwachen Diktator“ geschlossen. Diese Aufspaltung findet Hartmann nicht plausibel. Auch seien die autobiografischen Partien zu Anfang des Buchs, die Beschreibung des Braunauer Elternhauses, der Armut in Wien und der Grausamkeit des Ersten Weltkriegs durchaus berührend und „manchmal gekonnt geschrieben“. Anders als die eifernd holprigen, sich langatmig wiederholenden programmatischen Passagen, die Indizien und Ankündigungen, aber „keine Blaupausen“ (Hartmann) für Hitlers spätere Politik liefern. Trotzdem liest sich Hitlers auf den Ersten Weltkrieg bezogene Wunschfantasie, man hätte „einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber unter Giftgas“ halten mögen, im Nachhinein grausig.
Was die Forscher überrascht hat? „In einer Ausgabe von 1937 wurde im Text die Kopfleiste ,weg von Rom’ vermutlich von einem bayerischen Drucker in ,los von Berlin’ geändert“, sagt Andreas Wirsching und lacht. Das sei schnell wieder korrigiert worden, aber offenbar gab es diesen kleinen Akt der Subversion gegen das Un- und Überbuch der Deutschen.
Am 19. Januar wollen sie die Ausgabe auch in Berlin präsentieren. Es gebe nun viele Anfragen, aber: „Wir haben keine Marketing-Strategie und machen keine Lesungen aus dem Buch“, sagt Wirsching. Und Herausgeber Christian Hartmann seufzt, „es reicht jetzt auch“. Er möchte sich nach über drei Jahren „Mein Kampf“-Lektüre endlich mal wieder befreit fühlen: „vom Widerlegungszwang“.
Hinterher will es wieder niemand gewesen sein. Lesen Sie hier die Erinnerungen von Eva Sternheim-Peters aus ihrem Buch "Habe ich denn allein gejubelt?" - Eine Abrechnung mit der eigenen Verführbarkeit durch die Nazis