Kino-Doku: "Im Keller" von Ulrich Seidl: Abgründe von nebenan
Der Wiener Dokumentarfilmer Ulrich Seidl geht gern dahin, wo es wehtut. Seine neue Forschungsarbeit "Im Keller" führt in die - heimlichen und unheimlichen - Zonen des privaten Alltags seiner österreichischen Landsleute.
Davon träumt wohl jeder engagierte Dokumentarfilmer: dass er mit seiner Arbeit nicht nur den Blick auf gesellschaftlich verdrängte Zonen der Wirklichkeit lenkt, sondern damit die Wirklichkeit auch verändert, zumindest in Ansätzen. In Österreich mussten vor wenigen Wochen zwei Gemeinderäte zurücktreten, weil sie als Figuranten in Ulrich Seidls „Im Keller“ identifiziert worden waren. In burgenländischen Lokalzeitungen schlug die Sache hohe Wellen, und sogar die stets aufregungsbedürftige Online-Redaktion des „Spiegel“ berichtete.
Nun trug sich die Sache nicht etwa in einer Großgemeinde wie Wien zu, sondern im burgenländischen 2000-Seelen-Kaff Marz, dessen Ortsparlament aus 19 Mitgliedern der konservativen ÖVP und zweien der rechtsextremen FPÖ besteht. Auch waren die beiden Herren der lokalen Blasmusikkapelle beim Dreh 2009/2010 noch gar nicht Mitglieder im Gemeinderat. Weil sie aber ausgerechnet im Keller eines ortsbekannten Nazi-Devotionaliensammlers ordentlich betrunken volkstümliches Lied- sowie Herrenwitzgut dargeboten hatten, mussten sie gehen – überführt durch Seidls Kamera.
Wie eine burleske Pointe passt das zu Seidls jüngster Sondierungsarbeit in den Untiefen der österreichischen Seele. Denn der eigentliche Skandal ist eher, dass dort ein gewisser Josef Ochs in mehreren Räumen hinter seiner Garageneinfahrt reichlich Hakenkreuzflaggen und – „mein schönstes Hochzeitsgeschenk“ – allerlei großformatige Hitler-Bilder auch sonst dorföffentlich herumzeigt, ohne dass irgendjemand daran Anstoß nimmt. Das regelrechte Nazi-Sanktuarium ist in Marz offenbar ein Keller wie jeder andere, in dem man Partys feiert oder Wäsche wäscht oder die Fitness stählt. Oder wo lebenslang nicht erwachsen gewordene Männer ihre Modelleisenbahnen im Kreis fahren lassen.
Bei Seidl hingegen, der schon im Zusammenhang mit seinem Spielfilm „Hundstage“ (2001), lange also vor den Horrorfällen Fritzl und Kampusch, zum Thema recherchierte, fällt der Keller des Josef Ochs auch sonst kaum auf. Denn Seidl, immer auf der Suche nach den „menschlichen Abgründen“, wollte bei der nun endlich konkreten Bebilderung seiner Fundamentalmetapher ohnehin nur im alltäglich Absonderlichen fündig werden. Der Keller ist ihm der Ort für das Heimliche wie das Unheimliche zugleich, jener offenbar unverzichtbare kollektive Flucht- und Folterwinkel, in dem, fernab vom Über-Ich-Dachstübchen, die Triebe ungezügelt toben dürfen.
Starre Kamera und Zentralperspektive
Wie stets seit „Tierische Liebe“ (1995), seiner unübertroffen bedrängenden Erforschung der Hundenarrenwelt, komponiert Seidl nicht nur präzis seine Bilder – gern mit starrer Kamera und besonderer Vorliebe für die Zentralperspektive –, sondern auch die Situationen. Da ist die Masochistin, bei der Caritas zuständig für misshandelte Frauen, die – bekleidet nur mit dicken Seilen – von ihren gewalttätigen Verflossenen berichtet. Oder das Paar, das sich inmitten von ausgestopften Wildtierköpfen seiner Safari-Sausen rühmt. Oder der „Ehesklave“, der als Grunzeschwein nackt durchs Bild kriecht. Oder auch die einsame Alte, die tagtäglich die paar Treppen ihres Mietshauses hinunterläuft, um in ihrem Kellerverschlag lebensecht wirkende Säuglingspuppen vorsichtig aus Kartons zu heben und singend zu liebkosen.
Die Mittel des Dokumentarfilms dehnt Seidl dabei so weit ins Fiktive, wie er in seine Spielfilme, zuletzt die „Paradies“-Trilogie, stets auch Realmaterial integriert. Im echten Leben, Seidl bekennt das offen, schmust die Puppensammlerin mit ihren Reborn-Babys im Wohnzimmer; nur um dem räumlichen Kohärenzbedürfnis des Filmemachers zu genügen, marschiert sie in den Keller. Nicht nur dieses beherzte Arrangement, das alle Authentizität des Gezeigten infrage stellt, schafft Unbehagen; auch scheint Seidls Blick diesmal generell unentschieden. Mal dürfen sich seine kuriosen Charaktere durchaus mit anrührender Würde selbst inszenieren. Dann wieder ist massiv die Lust fühlbar, die Leute erst in Gemütlichkeit zu wiegen, um ihnen umso ärger in die Fratze ihrer Borniertheit, ihres Fremdenhasses hineinzuleuchten.
Der gedankliche Gewinn von „Im Keller“ bleibt entsprechend schmal. Manch umfänglich ausgebreitetes Gesellschaftsfeld, etwa die SM-Szene, ist längst landauf, landab bis zum Überdruss beschrieben. Anderswo, etwa im erinnerten Opernsänger-Lebenstraum des Besitzers eines Schießübungskellers, wirkt der mit 85 Minuten knapp geratene Film sogar noch gestreckt: Ausführlich knödelt der Rentner in den unterirdischen Hallen herum. Nur das hohe C, sein Lieblingston, ist nicht dabei.
Ab Donnerstag in den Kinos Central, Filmkunst 66, Moviemento, Kulturbrauerei
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität