Erste Filme bei den 71. Filmfestspielen in Venedig: Eine Überdosis Wirklichkeit
Die ersten Filme bei der Biennale in Venedig sind angelaufen. Sie zeigen indonesische Massenmörder ohne Reue und suchen die österreichische Seele im Keller.
Unter den Top-Filmfestivals der Welt ist Venedig das entspannteste. Noch herrscht Ferragosto am Lido, am Strand springen Kinder zwischen den Festivalgästen herum, die Carabinieri schlendern in voller Montur vor dem Palazzo del Cinema hin und her. Zur Eröffnung mit Staatspräsident Napolitano waren sie in Scharen gekommen, weil die städtischen Angestellten gegen drastische Kürzungen protestierten. Knapp 2000 Demonstranten: die größte Demo am Lido seit den Siebzigern, mit Volksfestcharakter.
Alejandro Iñárritu, der mexikanisch-amerikanische Regisseur des Eröffnungsfilms „Birdman“, sitzt auf der Hotelterrasse an der Lagune, ein kräftiger Sommerwind hat die Luft blitzblank gewischt. La Serenissima am anderen Ufer ist zum Greifen nah, klarer Blick bis in die Berge. Während Iñárritu über die lateinamerikanischen Kinder spricht, die über die mexikanische Grenze illegal nach Amerika kommen, über 50 000 allein in diesem Jahr. Dass Obama sie schnellstmöglich deportieren lässt, nennt er eine Schande und erläutert, wie alle von den „Illegalen“ profitieren. Mexiko wegen des Drogengeschäfts, Amerika, weil der Laden dort nicht läuft ohne die Dienstleistungen der Latinos. Iñárritu spricht auch über die Ehrlichkeit beim Filmemachen, über die Tricks, mit denen man im Schneideraum Fehler vom Dreh kaschiert. Den virtuosen Montagekünsten seiner bisherigen Filme misstraut er jetzt.
Schon verrückt. Das Kino, die Traumfabrik, will dem Publikum die Träume partout für wahr verkaufen. Wehe, man bemerkt die Tricks. Wenn Ramin Bahranis US-Wettbewerbsbeitrag „99 Homes“ mit drastischem Realitätsanspruch die Machenschaften von Immobilienhaien einschließlich der Familientragödien bei Zwangsräumungen in Szene setzt, wiegt er das Publikum im Glauben, ein einziger geläuterter bad guy könne der Profitgier der Spekulanten Einhalt gebieten. Andrew Garfield spielt Nash, den verzweifelten Familienvater, der dem Teufel nach der Räumung seine Seele verkauft, indem er sich selber als Zwangsvollstrecker anheuern lässt. Bis Nash bereut. So färbt der Film schön, was er anprangern will.
Die Wirklichkeit verändert sich, sobald man sie mit der Kamera heimsucht
Die stärksten Beiträge der ersten Festivaltage laufen unter dem Etikett „Dokumentarfilm“ – dem ebenfalls etwas Zweideutiges anhaftet. Weil Ulrich Seidl und Joshua Oppenheimer, die Regisseure von „Im Keller“ und „The Look of Silence“ wissen, wie sehr die Wirklichkeit sich verändert, sobald man sie mit der Kamera heimsucht. Nach der Tragödie von Natascha Kampusch und dem Fall Fritzl kam der Österreicher Seidl auf die Idee, in den Kellern seiner Landsleute nachzuschauen, was sich dort sonst noch so alles verbirgt. Neben kurzen stilisierten Tableaux von Partykellern, Hobbykellern, Fitnessgeräten, Schlagzeugbatterien und Waschräumen zeigt „Im Keller“ (deutscher Filmstart am 4. Dezember) genau das, was man in einem Seidl-Film erwartet. Waffen, Sex, Sadomasochisten, Nazis, Ausländerhasser, Kitsch, Jagdbeute, Anstößiges und Abstoßendes, kurz: die Abgründe der Nation.
Nichts gegen Seidls Kunst, die Tabuzonen der bürgerlichen Gesellschaft zu erhellen – und gleich zu Beginn eine Riesen-Viper im Terrarium ein Meerschweinchen verspeisen zu lassen. Es steckt auch nichts Unmoralisches darin, wenn das Domina-Liebessklave-Ehepaar en detail seine Sexpraktiken demonstriert. Wie immer in Seidls Filmen inszenieren die Protagonisten sich selbst, zeigen sich so nackt, wie sie sich zeigen wollen, mit unverwandtem Blick in die Kamera. Aber es fragt sich, welchen Erkenntnisgewinn es bringt, neben dem Nazi im Hitler- und Hakenkreuz-Devotionalienkeller etwa eine Prostituierte im winzigen Käfig eingepfercht zu sehen. Alles Freaks oder wie? Seidls Horrorfilm haftet etwas Berechnendes an. Einzig die Einsamkeit jener Frau, die Babypuppen aus Schachteln hervorkramt und in ihren Armen wiegt, geht einem nicht aus dem Kopf.
Massenmörder im Fokus: Joshua Oppenheimers Doku "The Look of Silence"
Seidls Film läuft außer Konkurrenz, Joshua Oppenheimers Dokumentation „The Look of Silence“ gehört zu den 20 Wettbewerbsfilmen. Eine Fortsetzung seiner erschütternden, Oscar-nominierten Täterstudie „The Act of Killing“: Wieder geht es um die indonesischen Todesschwadronen, die 1965/66 eine Million Menschen töteten, angeblich alles Kommunisten. Aber diesmal stehen nicht die Massenmörder im Fokus, die bis heute als Volkshelden gefeiert werden und machtvolle Positionen bekleiden, sondern die Angehörigen eines Opfers. Der Vater, ein gut 100-jähriger Greis, die Mutter mit Gicht in den Fingern, sie sind allein mit ihrer Trauer, ihrem Trauma. Der 1968 geborene zweite Sohn Adi recherchiert den entsetzlichen Tod des Bruders, sucht die Täter auf, befragt sie, will über Moral und Verantwortung reden.
Vergeblich, es gibt kein Unrechtsbewusstsein. Die Mörder weichen aus, ihre Familien wissen von nichts, sie bedrohen den Bruder. Oppenheimer befragt einige von ihnen ohne Adi mit der Kamera, sofort brüsten sie sich ihrer Gräueltaten und spielen sie nach. Der Film zeigt auch, dass der US-Sender NBC die Täter damals unwidersprochen ins Mikro sagen ließ, diese Kommunisten hätten ihren Tod ja gewollt. Die ganze Welt schaute zu.
Adi Rukum ist mit dem Regisseur nach Venedig gekommen. In Indonesien musste die Familie den Wohnort wechseln, es wurde zu gefährlich für sie. Oppenheimer selbst kann dort nicht mehr einreisen, wie im ersten Film firmiert das halbe Team im Abspann unter „Anonymous“. Und an den Schulen des Landes wird Kindern noch heute der Hass auf „Kommunisten“ gelehrt. Die Vergangenheit ist zum Greifen nah.