Drogenabhängigkeit: Mit Chili und Yoga gegen die Sucht
Das Kreuzberger Projekt "Kibo" hilft Abhängigen, nicht nur vom Heroin loszukommen – sondern auch von der Ersatzdroge Methadon.
Wenn das Verlangen zu groß wird, so dass sie es fast nicht mehr aushält, beißt Lisa L. (Name geändert) in eine Chilischote. In ihrer Tasche hat die Jurastudentin aus Berlin oft Chilis dabei. Ein Jahr lang nahm sie Heroin, jetzt bekommt sie von ihrer Ärztin die Ersatzdroge Buprenorphin, jede Woche ein bisschen weniger, immer an der Grenze des gerade noch Aushaltbaren entlang. Der Biss ins schrecklich Scharfe lenkt sie von akutem Suchtdruck ab. Er ist einer der Tricks, die sie in der ambulanten Drogentherapie „Kibo“ in Kreuzberg gelernt hat. Hier geht man alternative Wege: Ambulant, mit Verhaltensseminaren und Sport sollen Heroinsüchtige den Weg ins komplett drogenfreie Leben mit einer praktisch ausgelegten Verhaltenstherapie finden. Zuerst ohne Heroin, dann auch ohne Ersatzmedikamente. Das ist die „Vision“ in den Worten einer Broschüre von Kibo.
Lisa geht fast jeden Tag in das Therapiezentrum in der Obentrautstraße. Gerade kommt sie vom Yoga mit ihrer Therapiegruppe. Sie ist 24 Jahre alt, schlank, elegant in Schwarz gekleidet, die langen dunklen Haare zuerst nach hinten gekämmt, dann seitlich über die Schulter gelegt. Ihre strahlend weißen Zähne sind kurz zu sehen, als sie ihre Zigarette absetzt und leicht verlegen lächelt. Es gehe ihr gut, sagt sie. „Meine Dosis vom Ersatzstoff ist ja auch noch relativ hoch.“
Normalerweise sieht eine Therapie für Heroinsüchtige so aus: Die Droge wird durch einen Substitutionsstoff ersetzt – Ärzte verschreiben Ersatzdrogen, die pharmazeutisch hergestellt und kontrolliert werden und eine höhere Halbwertszeit haben, also nur einmal am Tag eingenommen werden müssen. So können Süchtige in einen geregelten Tagesablauf zurückfinden und haben nicht mehr die Beschaffungsprobleme, die sie in die Kriminalität treiben. Die wichtigsten Substitutionsmittel Methadon und Buprenorphin stehen in der „Liste der unentbehrlichen Arzneimittel“ der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die sozialen und gesundheitlichen Erfolge sind unbestritten.
Auch vom Substitutionsstoff müssen die Patienten entwöhnt werden
Selbst diejenigen, die es schaffen, vom Heroin loszukommen, werden in der Regel aber ihr ganzes Leben substituiert. Doch obwohl durch Substitution das Leben der Süchtigen stabilisiert werden kann, bleiben sie doch eines: drogensüchtig. Immer sind sie auf die tägliche Dosis angewiesen. Und während der Entzug von Heroin in der Regel bis zu drei Monaten dauert, brauchen Patienten oft dreimal so lange, um vom Methadon herunterzukommen. Und „viele Patienten berichten, dass sie das Methadon gefühlstaub macht, als wären sie immer in Watte gebauscht“, sagt Hanspeter Eckert, Leiter des Kreuzberger Therapiezentrums. „Deshalb wurden wir 2012 von Patienten um Hilfe gebeten, auch vom Substitutionsstoff wegzukommen“, sagt er. Seitdem gibt es bei Kibo die Substitutionsentwöhnung als Programm. Etwas, das in Deutschland nur sehr selten angeboten wird. Wer daran teilnehmen möchte, sagt Eckert, müsse unbedingt clean sein. Das heißt, der Körper muss vom Heroin und allen anderen illegalen Drogen sowie Alkohol entgiftet sein; nur noch das Substitut darf bei den täglichen, vom Therapiepersonal überwachten Urintests noch sichtbar sein. Dann wird Letzteres herunterdosiert, und es beginnt der harte Weg ins drogenfreie Leben.
Nur wer ausgeglichen ist, kann über seine Entscheidungen nachdenken
Bei Kibo geht dieser Weg über Verhaltenstherapie – und nicht über eine Psychotherapie, die die Gründe für die Sucht erforscht. „Man muss lernen, wie man Selbstkontrolle etablieren kann“, sagt der Psychologe Eckert. Dies gehe vor allem über Achtsamkeit, dem ständigen Auf-der-Hut-Sein vor dem Rückfall. „Nur in einem ausgeglichenen Zustand kann man bewusst über seine Entscheidungen nachdenken“, sagt er. Deshalb biete er für seine Patienten auch das Yoga an. Zudem gibt es zahlreiche Gruppenseminare und Wochenendausflüge, Theater und Volleyball. Und die Patienten erarbeiten ganz bestimmte Techniken. Eine davon ist, sich so konkret wie möglich an die schlimmste Drogenerfahrung zu erinnern: Bei Lisa war das der Moment ihrer letzten Überdosis, als sie sich nicht mehr bewegen konnte und der Notarzt sie ins Krankenhaus bringen musste, als es „um Leben und Tod“ ging. „Doch wenn mein Suchtdruck richtig stark ist, dann helfen mir keine Gedankenspiele mehr“, sagt sie. Dann braucht sie körperliche Ablenkung: Jeden Tag viele Stunden Sport, oder den Biss in die Chilischote. „Da hat der Körper zu tun und muss schauen, wie er klarkommt“, sagt sie. In den schlimmsten Minuten des Suchtdrucks macht das die Droge dann punktuell vergessen.
Die "Selbstmedikation" gibt es am Kottbusser Tor
Lisa hat mit zwanzig Jahren zum ersten Mal Heroin gespritzt, da war sie im zweiten Semester ihres Jurastudiums an der FU Berlin. Andere Drogen hat sie nie konsumiert, nicht davor und nicht danach. In ihrer fanatisch-religiösen Familie verbrachte sie eine Kindheit und Jugend, in der ihr „alles Schlechte, was man sich vorstellen kann“ widerfahren sei. Ständige Konflikte – zuletzt ein Todesfall. Daraufhin habe sie sich an das Opium erinnert, das man ihr im Krankenhaus nach einem Autounfall verabreichte. Lisa sagte sich: Das brauche ich wieder – das ist das Einzige, was mich noch retten kann. „Selbstmedikation“ nennt sie das. Deswegen fuhr sie eines Tages mit der U-Bahn zum Kottbusser Tor, kaufte Heroin und ließ sich zeigen, wie man spritzt. Über all das hat sie nie gesprochen. Von ihrer Sucht durfte nie jemand erfahren, auf keinen Fall ihre Familie und auch nicht der Mann, mit dem sie eine Beziehung versucht hat. „Natürlich hat man mir angemerkt, dass etwas nicht stimmt. Aber der Gedanke, dass ich heroinsüchtig bin, war wahrscheinlich für alle zu abwegig“, erinnert sich Lisa. Mit ihren Problemen und ihrer Sucht hat sie sich so stark von der Welt abgekapselt, dass sich am Ende auch niemand mehr wunderte, als sie für zwanzig Tage verschwand – sie war zur Entgiftung im Krankenhaus.
Mit den Tricks und Gruppengesprächen bei Kibo hält Lisa sich nun über Wasser. Sie kämpft sich zu immer kleineren Dosen Buprenorphin hindurch. Sie fühle sich jeden Tag müde und krank, habe Gliederschmerzen und Kopfweh durch den Entzug. Aber sie komme schon „irgendwie klar“. Ihr größter Wunsch sei einfach nur, wieder gesund zu werden. Dann will sie auch mit ihrem Studium weitermachen. „Es macht doch Spaß etwas zu machen, was einem liegt“, sagt sie. Hanspeter Eckert sagt, die Erfolgsaussichten der Substitutionsentwöhnung lägen bei fünfzig Prozent. „Das heißt, dass die Patienten während der 14 Monate Behandlungszeit weitestgehend drogenfrei leben“, sagt er. Und danach? Zu wenigen Ex-Patienten habe Eckert noch Kontakt, manche kämen immer noch ab und an zum Yoga. Zum Langzeiterfolg der Therapie gibt es keine Zahlen. Kibo ist übrigens japanisch und heißt „Hoffnung“.