zum Hauptinhalt
Joint
© dpa

Cannabis-Therapie: Jugendliche sollen weg vom Stoff

In Berlin sind 14.000 Menschen von Cannabis abhängig. Viele von ihnen sind Jugendliche. In deren Gehirnen kann die Droge großen Schaden anrichten. Ein neues Therapieprogramm hilft ihnen.

Die Lehrer haben nie etwas dazu gesagt. Tayfun* saß immer in der letzten Reihe. Und drehte Joints auf Vorrat. Am Ende der Stunde lagen meist fünf, sechs ordentlich vor ihm auf dem Tisch. Mit 14 hatte er zum ersten Mal gekifft. Mit 15 rauchte er jeden Morgen den ersten Joint auf dem Weg zur Schule: „Nur so war es da lustig und cool.“ Viele Mitschüler hätten „wie die Lokomotiven geraucht“ – Joints natürlich. Seine Vorbilder.

Die erste Stunde ließen er und sein bester Kumpel meistens ausfallen, nach der dritten Stunde zogen sie wieder los. Um Nachschub zu organisieren und an Kreuzberger Straßenecken damit zu dealen. So finanzierte Tayfun den eigenen Konsum. Schließlich handelte er auch noch mit dem starken Schmerzmittel Tilidin, das bei türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen zurzeit eine Modedroge ist. „Ich habe es nur einmal selbst genommen, der Trip war einfach schrecklich.“ Denn Tilidin macht aggressiv, Cannabis hingegen wirkt eher entspannend und benebelnd. Nach einem Joint fühlte er sich gut, konnte seine Probleme zu Hause und in der Schule vergessen. „Ich war immer fett“, sagt Tayfun. „Bekifft“, meint er. Aber abhängig? Er doch nicht!

Inzwischen ist er 17 und sieht das anders. Der schmale Junge mit der Zahnspange, der wesentlich jünger wirkt, sitzt vor einem villenartigen Haus auf dem Gelände des Vivantes-Klinikums Neukölln. Hier lebt er zurzeit für drei Monate, in einer sogenannten Clearing-Einrichtung. Tayfun profitiert von einem Kooperationsprojekt von Vivantes und dem Jugendhilfeträger Karuna. Das „Clearing“ ist Phase zwei des Programms: Motivation und Vermittlung in eine ambulante oder stationäre längere Therapie. Und es ist der Beginn des psychischen Entzugs. Vorher war Tayfun sechs Wochen in der im April eröffneten Kinder- und Jugendpsychiatrie im Vivantes-Klinikum im Friedrichshain. Das war Phase eins: der medizinische, körperliche Drogenentzug. Der dauert bei Cannabis länger als bei Alkohol oder Opiaten.

Sechs Kinder- und Jugendpsychiatrien gibt es in Berlin und eine ganze Reihe von stationären oder ambulanten Therapieprogrammen für cannabisabhängige Jugendliche. Oberarzt Tobias Hellenschmidt, der in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Friedrichshain für die Cannabisabhängigen zuständig ist, hält das Vivantes-Karuna-Kooperationsprogramm jedoch für „einmalig in Berlin“. Das besondere sei die Verknüpfung von Jugendhilfe und Klinik, die ermöglicht, dass die Jugendlichen von der ersten Kontaktaufnahme bis zur Nachsorge in einem „durchgängigen System“ betreut werden können. Ein Sozialarbeiter von Karuna kümmert sich die ganze Zeit um sie – sowohl im Klinikum als auch in den Jugendhilfeeinrichtungen.

In keinem Bundesland wird so viel Cannabis konsumiert wie in Berlin. Laut Landesdrogenbericht sind 14 000 Berliner cannabisabhängig – und die meisten Konsumenten 15 bis 29 Jahre alt. Wenn man mit 25 den ersten Joint rauche und danach ab und zu kiffe, habe das kaum Folgen, sagt Oberarzt Hellenschmidt. Bei Jüngeren sei das anders: Studien an 14- bis 19-Jährigen hätten erwiesen, dass die Droge in ihre Gehirnen, die gerade in der Entwicklung sind, großen Schaden anrichten kann. Jüngere Kinder wurden nicht mit einbezogen, aber für sie sei es wahrscheinlich noch gefährlicher.

Nur aus weiblichen Hanfpflanzen wird Marihuana.
Nur aus weiblichen Hanfpflanzen wird Marihuana.
© ddp

Hellenschmidt spricht nicht von „Cannabis“, sondern von „Cannabinoiden“ – 99 Substanzen, die „im Joint, Haschisch oder Gras immer alle dabei sind.“ Das bekannteste Cannabinoid, Tetrahydrocannabinol (THC), sei also nicht die einzige suchterregende Substanz in der Droge. Stattdessen wirkten eine ganze Reihe von Cannabinoiden auf bestimmte Rezeptoren im Gehirn der Jugendlichen. Dadurch bestehe die Gefahr, dass sich Verbindungen im Nervensystem nicht richtig entwickelten. „Es können irreversible Schäden entstehen“, sagt Hellenschmidt. „Etwa im Bereich der Emotions- und Motivationsverarbeitung.“ Auch eine Intelligenzminderung sei möglich. Und das Risiko, an Depressionen und Psychosen zu erkranken, könne sich erhöhen.

Mit 15 Jahren haben Cannabisabhängige im Durchschnitt mit dem Kiffen begonnen. Und 35 Prozent der Schüler konsumieren mehr als einmal pro Woche Cannabis. Das kam bei Befragungen heraus. „Insgesamt geht der Drogen- und Alkoholkonsum bei Jugendlichen zwar zurück“, sagt Hellenschmidt. Aber eine bestimmte Risikogruppe konsumiere immer früher immer größere Mengen. Gerade sei ein zehnjähriges Kind zur Entgiftung im Klinikum. Das sei zwar ein Einzelfall. Aber schon 12-Jährige kommen häufiger vor.

Mit zwölf hat Jenny* aus Reinickendorf ihren ersten Joint geraucht. „Da haben sich meine Eltern getrennt und mir ging’s dreckig.“ Der Joint bot Trost. „Mit 13 war ich abhängig.“ Auch noch von anderen Drogen. Mit 15 ging sie nicht mehr zur Schule. Heute ist Jenny 16 und lernt wie Tayfun in der Karuna-Einrichtung in Neukölln, zurück ins Leben zu finden.

Siebzig Prozent seiner jugendlichen Suchtpatienten behandle er zusätzlich wegen einer psychischen Störung, sagt Hellenschmidt. Man wisse aber oft nicht, ob die Sucht eine Folge der Störung sei – oder umgekehrt. Und auch im Leben der restlichen 30 Prozent finde er immer psychische Belastungen, die sie schneller als andere Jugendliche „in ein Suchtmuster rutschen lassen“. Wie bei Tayfun und Jenny: Zu Problemen im Elternhaus kamen bei beiden Schwierigkeiten in der Schule hinzu. Jenny ist autoaggressiv und leidet an dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom ADHS. Seit dem Klinikaufenthalt nimmt sie ein Medikament. Auch Tayfun zeigt eine Tendenz zu ADHS. Außerdem hat er eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Jenny fehlt vor allem die Überzeugung, etwas schaffen zu können im Leben – einen Schulabschluss zum Beispiel, und ohne Drogen weiterzumachen. Sie sieht Tayfun bewundernd an: „Du kannst gut Nein sagen. Ich bin nicht so stark.“ Sicher ist: Vor beiden liegt noch ein langer Weg.

*Namen geändert

Weitere Informationen, Beratung und viele andere medizinische Themen finden Sie auch in unserem Gesundheitsportal: www.gesundheitsberater-berlin.de

Zur Startseite