Narzissmus: Die Sorge um (s)ich
Ist Narzissmus nur eine Charakterschwäche - oder eine ernsthafte Persönlichkeitsstörung? Ein Gespräch mit Stefan Röpke, der an der Charité ein Forschungsprojekt zum Thema leitet.
Herr Röpke, über das Ende des schönen Jünglings, nach dem die narzisstische Persönlichkeitsstörung benannt ist, gibt es verschiedene Erzählungen: Der Selbstverliebte findet sich so toll, dass er vor Sehnsucht nach seinem Spiegelbild verschmachtet; in einer anderen Version stirbt er aufgrund des Schocks, weil Wellenschlag das Spiegelbild hässlich entstellt; oder er ertrinkt beim Versuch, sich mit dem eigenen Spiegelbild zu vereinigen. Welche Variante finden Sie am treffendsten?
Was ich als Bild vor mir sehe, ist die Version: wie hinter ihm die liebeskranke Nymphe, die er abweist, stirbt, und er selbst wird zur Narzisse. Das ist eigentlich ungerecht, denn die Nymphe kann sich kaum artikulieren – aber er wird bestraft, weil er sie verschmäht, wofür er nichts kann.
Sie sind also auf der Seite Ihrer Patienten?
Ja.
Hat die Aufmerksamkeit für das Phänomen Narzissmus nach der German Wings-Katastrophe Ihrer Arbeit genutzt?
In der Klinik merken wir von diesem Medienecho eigentlich nichts. Narzissmus bot da wohl das beste Erklärungsmodell, wenn man sich den gesamten Ablauf anguckt. Eine Depression reicht in diesem Fall nicht: Wer sich aus diesem Grund umbringen möchte, hat nicht das Ziel, Unschuldige mit in den Tod zu reißen. Und wenn er so schwer depressiv gewesen wäre, wäre das auch aufgefallen. Eine schwere Persönlichkeitsstörung fällt dagegen nicht auf. Das einzige, was passen würde, weil es auch mit einer Rache und einer Zeichensetzung an die Welt, um zu zeigen, wie schlecht es mir geht, verbunden wäre, ist jemand, der sich von der Welt gekränkt und im Sich gelassen gefühlt. Hier: Weil er seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Das wäre der narzißtische Aspekt, dass einer diese Kränkung massiv nach außen zeigt und wenig Empathie hat.
Umgangssprachlich gilt Narzissmus als Charakterproblem – ab wann wird es ein Fall für die Krankenkasse? Wo liegt die Grenze zwischen Selfies, Fitnesswahn und Massenmord?
Da macht es sich die Medizin einfach, sie definiert: Wer Leid oder Beeinträchtigung hat, ist krank.Wer nicht kommt, weil ihm nichts fehlt, ist nicht krank.
Wer zu Ihnen kommt, muß es aber nicht Narzissmus nennen?
Bei Persönlichkeitsstörungen nehmen die Menschen meistens ihre Symptome nicht als solche wahr, sondern als normal. Sie bemerken nur die Folgen. Die Störung zeigt sich beziehungsgestaltend in der Interaktion, für sich alleine ist so was schwer denkbar.
Auf der einsamen Insel wäre alles ok?
Da kann man nicht narzisstisch sein. Ein Depressiver auf der Insel steht halt morgens nicht auf, aber der Narzisst hat da kein Gegenüber. Eines seiner Kriterien ist ja, die Motiviation da aufzutreten, wo man auch höchstmögliche Sichtbarkeit hat. Der Narzisst ist nie der gute Zuarbeiter, der im Hintergrund dem anderen die Daten liefert. Er setzt auf möglichst wenig Aufwand mit größtmöglicher Wirksamkeit. Oder er verweigert sich, um einen Misserfolg zu vermeiden und erklärt alle zu Idioten, die so viel arbeiten, wertet alles ab und dann läuft viel nur noch in der Fantasie: Wenn ich wollte, dann könnte ich ja. Es kann jemand sein, der auf der sozialen Leiter oben angekommen ist, oder auch jemand, der wenig Kontakte hat und in der Gedankenwelt lebt, er sei extrem genial und hätte eigentlich alle Fähigkeiten.
Die Küchenpsychologie sagt, jeder brauche eine Portion Narzissmus.
Ein gesundes, hohes Maß an Selbstwertgefühl ist positiv. Damit wird man weniger krank, kann berufliche Konflikte besser lösen, hat stabilere Partnerschaften. Und was ist Narzissmus? Es gibt ganz verschiedene Definitionen. Zuerst diese Mythos-Erzählung von Ovid, dann den Begriff der autoerotischen Störung von Havelock Ellis. Dann Freud, der es eine normale Entwicklungsstufe nennt, während der späte Freud das revidiert und den Narzissmus als Problem des Erwachsenenalter bezeichnet. Heinz Kohut sagt, man rutscht da zurück auf eine kindliche Entwicklungsstufe. Otto F. Kernberg spricht von kalten, indifferenten oder aggressiven Eltern. Millon hingegen argumentiert lerntheoretisch, dass die Kinder, die ein kleines Knetmännchen gemacht haben, von ihren Eltern als hochbegabt bestätigt werden und später mit der Realität konfrontiert sind, wenn nicht mehr alle sagen, wie toll du bist. Eine einheitliche Definition über gesunden Narzissmus existiert gar nicht.
Könnte ich als Narzisst mein „Ego-Marketing“ anschnippen und dann schalte ich es wieder aus und bin ein netter, empathischer Mensch?
Nein, es ist ja definiert als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Der Narzisst wird in jeder Partnerschaft, jedem Berufsumfeld gleiche Probleme haben. Es gibt Menschen, die sind nicht klinisch krank, aber auffällig. Sie können keine stabilen Beziehungen haben. Trennen sich immer wieder, der Partner sagt dann: Ich habe das Gefühl, du bist ein total kalter Typ, nicht einfühlsam, du siehst nur dich, ich bin nur eine Nummer für dich. Und er sagt: Du solltest mal sehen, wie großartig ich bin und was ich dir alles bieten kann. Wissenschaftliche Studien, auch bei Gesunden, verwenden fast immer das „Narzissmus-Persönlichkeitsinventar“. Da beantwortet man Fragen wie: Bin ich von meinem Temperament aus eine gute Führungspersönlichkeit – oder der, der in der zweiten Reihe steht? „Führungspersönlichkeit“ anzukreuzen wäre ein Merkmal von Narzismuss. Diese Folgerung wird aber zunehmend hinterfragt, solch ein Narzissmus-Begriff korrelliert dann doch sehr mit „Selbstwert“.
So kommt dieses Alltags-Klischee vom Narzissmus zustande.
Ja, diese Studien sind nur ein Teil des Bildes. Es gibt eben auch normale Menschen, die ein hohes Selbstwertgefühl haben, Verantwortung übernehmen, im Leben etwas erreichen wollen. Wir alle sind irgendwo auf dieser Skala. Jeder von uns hat Anteile davon, mehr oder weniger ausgeprägt, kontrollierbar, damit kann man gut durchs Leben gehn. Nun stellt man aber fest, dass die entsprechenden Umfragewerte der Menschen immer höher schnellen auf diesen Fragebögen, die Gesellschaft fördert das: Ich muß mich überall darstellen. Insofern gibt es anhand der Fragebögen Überlappungen mit selbstbewussten, gesunden Menschen. Aus Untersuchungen weiß man aber auch: Menschen mit der Persönlichkeitsstörung erkennen oft, sie haben solche Merkmale, benennen das vielleicht nicht als narzisstisch. Sie denken aber, sie können Regeln überschreiten, für andere gilt das nicht, sie halten sich für etwas besseres. Sie werten Leute, die für sie wichtig sind, erst mal auf, und wenn sie sie nicht mehr brauchen, machen sie das Gegenteil. Der Partner ist eine Art Trophäe; sobald es ihm schlecht geht, geht man auf Distanz. Das sind Merkmale, die sich durchziehen, aus dem Zirkel kommen die Leute nicht raus.
Narzissten sagen, Sie könnten andere nicht verstehen. In Wahrheit interessiert es sie nur nicht.
Sie leiten dazu ein klinisches Forschungsprojekt?
Seit 2006. Unsere Frage ist: Wie kann man die Menschen charakterisieren, die klinisch auffällig krank sind und wegen dieser Störungen zum Psychiater gehen? Welche Konzepte von Narzissmus stimmen, welche nicht?
Wie machen Sie das?
Menschen, die bei uns in Behandlung sind, fragen wir, ob sie an Forschungsprojekten teilnehmen möchten. Dann untersuchen wir verschiedene Aspekte der Erkrankung.
Wissen die Patienten, was Ihr Arbeitsthema ist?
Ja. Wir sagen denen schon recht deutlich, dass wir meinen, sie sind in diesem Kästchen. Die sind alle von sich aus gekommen. Nur wenn Leidensdruck da ist, kann man eine Persönlichkeitsstörung haben. Jemand, der sagt „Alles gut, komme gut klar im Leben, habe einen tollen Beruf, habe ständig wechselnde Partnerschaften, aber ist doch toll, so mag ich mein Leben“: Der hat keine Diagnose. Eine andere spannende Frage ist, was die ohne Leidensdruck und die, die kommen, eigentlich unterscheidet: Das weiß man nicht! Es kann fast jeden treffen, also auch den, der sehr erfolgreich war, und auf einmal Privatinsolvenz anmelden muß und der Partner sagt nach Jahren, ich mach das nicht mehr mit.
Leidensdruck entsteht erst, wenn’s nicht mehr klappt?
Aber: Warum klappt’s nicht mehr? Liegt das an Intelligenz, an einer Fertigkeit, die jemand hat? Hat einer mehr Glück, sitzt auf einer unkündbaren Stelle, hat eine Partnerin, die alles mitmacht? Ein Zufallsfaktor – oder mehr? Wir fixieren unsere Forschung auf die Menschen, die klinisches Leiden haben, das wollen wir verstehen. Das Ziel des Arztes ist dann zu schauen, wie kann man den Menschen rausbekommen aus diesem Leid.
Wieviele Patienten haben an Ihrer Studie teilgenommen?
Über hundert. Wir haben zuerst die verbreitete Vorstellung untersucht, dass Narzissten vor allem eine Störung des Selbstwert-Regulativs haben und versuchen, ihren zu kleinen Selbstwert immer wieder zu steigern. Dafür gibt es einen Test, der uns – in dieser einen Studie! – zeigte, dass die Patienten nicht weniger Selbstwert hatten als andere. In der nächsten Studie ging es um Schamempfinden, das man als emotionale Seite des Selbstwertes sehen kann. Wenn Sie einen Fehler gemacht haben, können Sie sagen: Ich habe die Nacht zu wenig geschlafen, sonst wäre das nicht passiert, deshalb bin ich mit dem Auto dagegen gefahren. Da haben Sie ein Schuldgefühl. Sie können aber auch sagen: Ich bin als Mensch total nichts wert, ich kann nicht mal Auto fahren, ich kriege gar nichts gebacken im Leben, Sie werten sich als ganze Person ab: Dann würden Sie ein Schamempfinden haben. Die Hypothese ist: Narzissten reagieren nicht mit Schuld, sondern vor allem mit Scham, bei kleinsten Fehlern. Nicht: Ich hätte mal lernen müssen, dann hätte ich die Prüfung geschafft –
Nicht Verantwortung übernehmen, sondern: Ich bin eine gescheiterte Person.
Genau. Das konnte die Studie bestätigen. – Eine andere Sache ist das Konstrukt, Narzissten hätten wenig Mitgefühl. Da hatten wir einen spannenden Befund: Wenn Sie jemanden fragen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, wie viel Mitgefühl hast du denn mit anderen, sagt der: Genauso viel wie andere. Und wenn man fragt, wie gut kannst du verstehen, was andere denken, fühlen, wollen, sagt der: Das fällt mir ganz schwer, ich versteh die Leute einfach nicht. Wenn man das aber mit weiteren Testergebnissen abgleicht, zeigt sich genau ein Spiegelbild dieser Aussagen: Die können sehr gut andere verstehen, sogar ein bisschen besser als andere, aber sie haben weniger Mitgefühl, es interessiert sie nicht. Eine einzige Studie bedeutet zunächst mal noch nichts, aber: In dieser zumindest haben wir zeigen können, dass das offenbar mit Strukturveränderungen im Gehirn zusammenhängt. Die genetischen Befunde kommen von einer großen Studie aus Norwegen.Wenn Sie ab morgen Taxi fahren, würde man Ihr Gehirn in einem Jahr vergleichen mit heute und sehen, dass in dem Zentrum, das man für räumliche Orientierung braucht, mehr Hirnsubstanz entstanden ist, durch das Trainieren räumlichen Denkens. Bei den Narzissten ist in Hirnregionen, wo es um das Mitgefühl geht, einfach nicht so viel graue Substanz da.
Aber was ist die Henne und was ist das Ei?
Es gibt Umweltfaktoren, Erziehungsverhalten spielt eine Rolle. Aber man weiß, die genetische Komponente bei Persönlichkeitsstörungen liegt bei 70 Prozent.
Einmal Narzisst, immer Narzisst?
Nach zwei Jahren sind ungefähr 50 Prozent zwar nicht gesund, aber sie erfüllen nicht mehr alle Kriterien, sie sind unter die kritische Schwelle gerutscht.
„Herr Doktor, es macht mir nichts mehr aus“.
Anscheinend nimmt der pathologische Narzissmus im Alter ab, der Selbstwert steigt.
Sind Sie selbst zufällig an das Thema geraten?
Das sind Patienten, die auffallen. Im Kontakt mit den Menschen bekommt ein feines Gespür für deren Verhaltensmuster. Das sind Menschen, die es einem schwer machen. Die zeigen einem, dass man keine Ahnung hat. Das weckt einen auf. Man wird herausgefordert. Da ist jemand, der Sie in Frage stellt. Diese Patienten sind Typen, die mag man einfach nicht. Wenn man das Leiden dahinter sieht, hat man natürlich auch dafür Mitgefühl. Aber in einem normalen menschlichen Kontakt, als Freund wollen Sie keinen haben, der schwer narzisstisch ist. Das fühlt sich nicht gut an: jemand, der in extremer Konkurrenz zu Ihnen steht, der Ihnen nichts gönnt, der sich immer für was besseres und größer hält. Diese Patienten brechen auch ihre Therapien früher ab, sie begehen Suizidversuche, auch wenn sie nicht depressiv sind. Man wird als Arzt nicht als gleichwertiges Gegenüber gesehen, sondern, das passt zum Muster, erst gelobt und dann abgewertet. Wir hatten eine Reihe solcher Patienten in der Sprechstunde, waren jeden Tag konfrontiert mit dem Phänomen: So entstand das Interesse, es besser zu verstehen.
Liebe kann nie asymmetrisch sein
Ist Narzissmus, wie man nun sagt, die Krankheit unserer Gesellschaft?
Es gibt eine empirische Studie, die in den 1970er, 80er Jahren und nach 2010 Fragebögen ausgeteilt hat und die belegt, dass die Werte steigen. Wir haben uns wohl generell verändert von einer kollektivistischen zu einer individualistischen Gesellschaft.
Seit zwei Jahren soll bei Umfragen zu Lebenszielen Selbstverwirklichung der Spitzenwert sein. Ist der Narzissmus eine Sackgasse des Individualismus?
Es ist insgesamt kein häufiges klinisches Problem.
Deshalb muss man differenzieren, zwischen Merkmalen, die jeder hat, und wo es anfängt, weh zu tun.
Weder für den „gesunden Narzissmus“ noch für die klinische Persönlichkeitsstörung gibt es eine gute Definition. Mit der vorhandenen sind alle unzufrieden, deswegen kam der Vorschlag, dass man das als Krankheit streicht, weil man zu wenig darüber weiß. Ein Problem ist auch, dass diese Patienten ungern in Gruppen und Krankenhäuser gehen: Das widerspricht der eigenen Vorstellung, grandios und einzigartig zu sein. Am ehesten akzeptieren sie ambulante Psychotherapie. Wir sehen ein Teil unserer Patienten in unserer Autismus-Sprechstunde, die sagen: Ich versteh die Welt nicht, die Welt versteht mich nicht, ich muß Autismus haben – was nicht stimmt.
Würde ein Narzisst sagen, er liebt? Und wie würden Sie Liebe definieren?
Liebe geht nicht asymmetrisch. Es hat irgendetwas von „auf Augenhöhe sein“: Der eine hebt den anderen hoch, der andere macht das umgekehrt ebenso. Das ist das Problem von diesen Patienten, weil sie dazu nicht in der Lage sind. Die können einen Riesenwind machen und sich extrem kümmern, der Partner ist total verliebt und wenn das ein bisschen nachlässt, merken die, in was für einer Art Beziehung sie drinstecken. Für eine Studie hatten wir Annoncen geschaltet, anderntags Tag klingelten die Telefone heiß, das waren keine Patientenanrufe! Aber die Partner haben sich gemeldet: Mein Mann, meine Frau … Da kommt das Leiden raus, was damit verbunden ist, wenn man aufwacht und sieht: Der interessiert sich gar nicht für mich.
Stefan Röpke ist Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité. Das Gespräch führte Thomas Lackmann.
Thomas Lackmann