Narzissmus: Ich, ich, ich
Narzissten imponieren anderen Menschen durch ihren grandiosen Auftritt auf der Bühne des Lebens. Aber hinter der glänzenden Fassade verbirgt sich oft Verunsicherung.
Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein. Und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“ Es waren andere Zeiten, als sich dieser Vers in fast jedem Poesiealbum fand. Mädchen, die Supermodel werden wollen, sind damit schlecht beraten. Selbstsicherheit und ein starkes Streben nach Lob und Anerkennung, das sind die Ingredienzien, die heute Karrieren befördern.
Doch nimmt der Narzissmus wirklich zu, nur weil kaum einer mehr „bescheiden, sittsam und rein“ sein will, sondern lieber am Zaun des Kanzleramtes rüttelt? „Der Narzisst begegnet uns immer häufiger, manchmal sogar im eigenen Spiegelbild“, behauptet der österreichische Psychiater Reinhard Haller in seinem Buch „Die Narzissmusfalle“. Keine ganz neue Warnung, die der Chefarzt einer Klinik für Abhängigkeitskranke ausspricht. Schon im Jahr 1979 rief der amerikanische Historiker Christopher Lasch „Das Zeitalter des Narzissmus“ aus.
Empirisch untermauert hat dies die Psychologin Jean Twenge von der Staatlichen Universität in San Diego. Sie testete zehntausende Studenten, um deren Grad der Selbstverliebtheit zu ermitteln. 1985 hatte jeder Siebte erhöhte Werte, 2006 war es schon jeder Vierte. Besonders die jungen Frauen, bisher im Bereich narzisstische Persönlichkeitsstörungen unterrepräsentiert, holten im Lauf der Jahre auf. „Generation Me“ nannte sie das.
TV-Showmaster sind die größten Diven
Die Medien machen es den Jugendlichen vor. Die amerikanischen Psychologen Mark Young und Drew Pinsky, in Los Angeles Nachbarn der Schönen und Reichen, untersuchten Prominente mit dem „Narcissism Personality Inventory“. In der im Jahr 2006 veröffentlichten Studie stellten sie fest, dass Prominente wesentlich höhere Werte erreichten als Studenten oder der Durchschnitt der Bevölkerung. Die größten Diven waren dabei TV-Showmaster. Sie waren deutlich selbstverliebter als Schauspieler und Musiker. Glaubt man Twenge, dann könnten die Jugendlichen bald nachziehen: So berichtet sie von einer Schülerin, die an ihrem 16. Geburtstag über einen roten Teppich schreiten wollte. Deshalb sollte für sie eine Hauptstraße gesperrt werden.
Der Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff von der Universität Bochum, zusammen mit Michael Jürgen Herner Autor des Buches „Narzissmus – die Wiederkehr“, nennt das Beispiel einer 17-Jährigen, die selbstbewusst und offen davon spricht, ein „Superstar“ werden zu wollen. Der Narzisst passt sich seiner Ansicht nach „perfekt dem kulturellen Klima des Individualismus an, indem er anderen Menschen durch einen überzeugenden Auftritt auf der Bühne des Lebens imponiert“. Da die Bindungskraft sozialer Normen in den letzten 50 Jahren in den westlichen Kulturen abgenommen habe, könne sich dieser aggressive Narzissmus gut behaupten, so seine These.
Dabei ist die Geschichte von der Selbstverliebtheit junger, schöner Menschen ein Klassiker. Am Anfang steht Narziss, der Jüngling aus der griechischen Mythologie, der sich in sein eigenes, im Wasser gespiegeltes Bild verliebte. Er konnte es nicht erreichen und ging daran zugrunde. Später verhalf Sigmund Freud dem selbstzentrierten Knaben zu größerer Popularität: In seiner Schrift „Zur Einführung des Narzissmus“ sprach Freud 1914 vom normalen „primären“ Narzissmus des Kleinkinds, der später – in Erinnerung an die seligen Zeiten, in denen der Mensch „sein eigenes Ideal war“ – in krankhafter Weise reaktiviert werden könne.
Über die Ursachen der Störung wird seit langem debattiert
Aber wo beginnt die Krankheit? Im Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) taucht die in der Psychoanalyse bedeutsame Vokabel „narzisstisch“ nur am Rande eines Kapitels auf. Unter „sonstigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen“ wird sie neben „exzentrisch“, „haltlos“, „passiv-aggressiv“ und „psychoneurotisch“ genannt. Im Diagnosehandbuch der amerikanischen Psychiater (DSM-5) ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung dagegen ausdrücklich aufgeführt. Erkennbar sei sie an: übertriebenem Selbstwertgefühl, ständigem Verlangen nach Bewunderung, Mangel an Einfühlungsvermögen und arrogantem, überheblichen Verhalten.
Unumstritten ist das nicht. Als das Kompendium überarbeitet wurde, plädierten etliche Psychiater für eine Streichung. Auch über die Ursachen wird seit langem debattiert. „Die Theorien gehen weit auseinander, es ist eine ausgesprochen ideologische Diskussion“, sagt Stefan Röpke, der an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Persönlichkeitsstörungen erforscht.
Die einen gehen davon aus, dass mit den körpereigenen Mechanismen zur Selbstregulation etwas nicht stimmt, wenn Menschen ununterbrochen Anerkennung brauchen und die eigene Person grandios überhöhen. Die anderen sehen diese Menschen vor allem als Opfer grenzenloser elterlicher Bewunderung oder aber erzieherischer Vernachlässigung. Röpkes Arbeitsgruppe erforscht unter anderem die Ost-West-Unterschiede in den Persönlichkeitsstrukturen.
Die Spuren sind im Gehirn zu sehen
Die Auswirkungen der Ein-Kind-Politik in China interessieren die Wissenschaft inzwischen ebenfalls: Lisa Cameron von der australischen Monash-Universität zum Beispiel untersuchte erwachsene Pekinger, die als „kleine Kaiser“ aufgewachsen waren. Die Einzelkinder waren unter anderem empfindlicher und weniger kooperativ, schrieb sie in „Science“. „Es spricht einiges dafür, dass selbstverliebtes, andere abwertendes Verhalten Heranwachsenden eher in solchen Gesellschaften antrainiert wird, die sich bemühen, aus jedem Einzelnen ein Maximum herauszuholen“, resümiert auch Röpke.
Die Grenzen zwischen gesunder Selbstdarstellung, wünschenswertem Individualismus und unangenehmer Ichzentriertheit sind fließend. Auch wenn die Mitmenschen angesichts des übermäßig zur Schau gestellten Egos und der unverhohlenen Arroganz eines Kollegen stöhnen: In niedrigerer Dosierung ist sie eine Ressource; ein Motor, der große gesellschaftliche Leistungen ermöglicht. Eine behandlungsbedürftige seelische Störung wird erst daraus, wenn der Betroffene selbst darunter leidet. „Das ist ein reales Problem, mit dem wir ständig konfrontiert sind“, berichtet Röpke.
Die Spuren sind auch im Gehirn zu sehen. Röpke und seine Kollegen haben 17 Patienten, die nach den amerikanischen Kriterien eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben, in einen Magnetresonanztomographen (MRT) gebeten. Ein Vergleich mit den Gehirnen von 17 gleich alten, gesunden Probanden sollte ihnen zeigen, ob es charakteristische Unterschiede gibt. Tatsächlich war bei Patienten mit pathologischem Narzissmus die graue Substanz der Inselregion – ein Areal der Großhirnrinde, das bei der Erzeugung und Verarbeitung von Mitgefühl beteiligt ist – deutlich dünner, schrieben sie im Fachblatt „Journal of Psychiatric Research“. Damit haben die Forscher erstmals eine neurobiologische Entsprechung für die umstrittene Diagnose gefunden. Ein Meilenstein.
Die emotionale Verbundenheit mit Hilfsbedürftigen fehlt
Der „Hirnscanner“ ist damit nicht zum Routine-Instrument für die Diagnostik geworden, psychologische Tests bleiben unverzichtbar. Und keiner kann sagen, ob die anatomische Auffälligkeit die Ursache der Persönlichkeitsstörung ist, die Menschen im Extremfall zu Psychopathen machen kann, oder ob sie sich im Laufe des Lebens – durch Erziehung und Lebenserfahrung – entwickelt.
Sicher sind zwei andere Dinge: Der Ort der Ausdünnung passt zum Symptom „Mangel an Empathie“. Dieses Defizit haben Röpke und seine Arbeitsgruppe zwei Jahre zuvor bei 47 narzisstischen Patienten in Tests gefunden. Wenn sie auf Bilder und Filmclips reagieren sollten, zeigten sie im Vergleich mit einer Kontrollgruppe deutlich weniger Mitgefühl; gleichzeitig überschätzten sie ihre eigenen Fähigkeiten. Im Gegensatz zu Patienten mit anderen psychischen Störungen hatten sie allerdings keine Schwierigkeiten, eine eher kognitive, emotional distanziertere Form von Empathie aufzubringen. Was fehlte, war die emotionale Verbundenheit mit leidenden, hilfsbedürftigen Mitmenschen, die als Voraussetzung für altruistisches Engagement gilt.
Stattdessen können „die anderen“ für Menschen mit einer ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstörung die Hölle sein: „Sie sind extrem leicht kränkbar. Und sie gehen oft davon aus, dass sie andere beneiden“, sagt Röpke. Sozialpsychologe Bierhoff spricht von den „zwei Gesichtern“ des Narzissten, dem großartigen und dem verunsicherten.
Hinter einem „Burn-out“ kann Narzissmus stecken
Nicht zuletzt im Beruf ist das problematisch. Bei vielen Patienten, die wegen eines berufsbedingten „Burn-outs“ in die Ambulanz oder Tagesklinik kommen, sieht Iris Hauth, Chefärztin der Psychiatrie im St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee, „Defizite im Selbstwertkonzept, die auf eine narzisstische Problematik hindeuten“. Viele sind gleichzeitig abhängig oder leiden unter Depressionen und sind deshalb in Behandlung.
Diese Menschen passen eigentlich wunderbar in die moderne Berufswelt. Schließlich sind sie bereit, viel zu leisten, perfekte Arbeit abzuliefern und große Verantwortung zu tragen. Kein Wunder, dass sie oft Führungspositionen übernehmen. „Die Parallele zwischen Narzissten und machtorientierten Menschen ist deutlich. Beide beanspruchen für sich Privilegien und halten eine Bevorzugung ihrer Person für das Natürlichste der Welt“, sagt Bierhoff. Aber wo die Anforderungen von außen wachsen, mit Lob gegeizt wird und womöglich auch noch die Kräfte altersbedingt abnehmen, kann dieses überfordernde Selbstkonzept auch krank machen.
Auch Forscher geraten ins Schwelgen
Dass ihr „Ausgebranntsein“ zumindest teilweise einer Persönlichkeitsstörung entspringt, höre keiner gern, sagt Hauth. „Das geht an den Kern der Person. Doch man kann es erklären, so dass es akzeptiert wird.“ Und man kann daran arbeiten. Eine kognitive Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kann die Patienten bestärken, Selbstsicherheit nicht von pausenloser Leistung und andauernder Überlegenheit gegenüber anderen abhängig zu machen. Denn anscheinend stimmt, was der Psychoanalytiker Erich Fromm 1956 in seinem Kultbuch „Die Kunst des Liebens“ festgehalten hat: „Der selbstsüchtige Mensch liebt sich nicht zu viel, sondern zu wenig.“
Das klingt paradox, passt aber zum verwirrenden Bild der narzisstischen Symptome, das von der Überzeugung der eigenen Grandiosität bis zum brüchigen Selbstwertgefühl reicht. Für Haller ist der Narzissmus „das wahrscheinlich interessanteste, vielseitigste und schillerndste psychische Phänomen“. Ausgerechnet der Narzissmus wird so für manche Fachleute zur „stolzen Rose“ in der Landschaft der menschlichen Seele – bewundert, aber schwer zu greifen. Im Narzissmus sei etwas Grenzenloses angelegt, meint auch Bierhoff. Als Wissenschaftler und Buchautor habe er sich deshalb bewusst selbst Grenzen gesteckt. Sicher eine kluge Maxime, denn für empirische Wissenschaftler bleibt die Bescheidenheit des „Veilchens im Moose“ eine Zier.
Adelheid Müller-Lissner
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