50 Jahre Suchtzentrum am Jüdischen Krankenhaus: Das Problem mit der Pulle
Seit 50 Jahren therapiert das Suchtzentrum am Jüdischen Krankenhaus Menschen mit Alkoholproblemen – und hat in dieser Zeit viel Erfahrung gesammelt.
Zum Anstoßen: Mineralwasser und Säfte. Alkoholische Getränke wären recht deplatziert bei dieser Veranstaltung im Jüdischen Krankenhaus Berlin: Gefeiert wird das 50. Jubiläum des Suchtzentrums. Bezirksbürgermeister Christian Hanke ist in die Weddinger Klinik gekommen, um die erfolgreiche Arbeit zu loben: „Weltweit findet die Kompetenz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie auf dem Gebiet der Suchtbehandlung großes Ansehen.“ Er wünscht dem Geburtstagskind viele weitere erfolgreiche Jahre. „Unsere Gesellschaft wird es Ihnen danken.“
Unsere Gesellschaft – einer Studie von 2013 zufolge leben in ihr fast zwei Millionen Menschen, die von der Droge Alkohol abhängig sind, und weitere 1,6 Millionen, die ihn in einem Ausmaß trinken, das ihrer Gesundheit mit Sicherheit schadet. Schon im 18. Jahrhundert hatte der schottische Arzt Thomas Trotter Alkoholismus als Krankheit bezeichnet. Als der Internist Lothar Schmidt 1965 in der neu gegründeten psychosomatischen Abteilung des Jüdischen Krankenhauses mit dieser Einsicht Ernst machte und den Betroffenen mit einem wissenschaftlich fundierten Behandlungskonzept Hilfe anbot, schüttelten immer noch viele den Kopf: Kann man denn „Charakterschwäche“ behandeln? „Auch zwei Jahrhunderte nach Trotter rief man den Alkoholikern nach, sie seien zu willensschwach, um mit dem Trinken aufzuhören oder mäßig zu trinken“, erzählte der heute 94-jährige ehemalige Chefarzt beim Symposium „Suchterkrankung zwischen Medizin und Gesellschaft“ an seiner alten Wirkungsstätte.
Die Behandlung erfreute sich bald wachsender Beliebtheit, Menschen aus West- Berlin und Westdeutschland kämpften um Therapieplätze. Allein 1975 mussten 810 Interessenten abgewiesen werden. Im Lauf der Jahrzehnte wuchsen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Behandlung mit Medikamenten und Psychotherapie, Selbsthilfegruppen entstanden, Betriebe interessierten sich für die Schulung ihrer Mitarbeiter, der stationäre Bereich wurde stärker mit dem ambulanten vernetzt. Und die Klinik kümmerte sich ebenso umfassend um Patienten, die von anderen Substanzen abhängig waren. „Ohne eine annehmende, vertrauenerweckende und einfühlende Haltung geht das nicht“, betont Schmidt.
Nur rund zehn Prozent der Abhängigen nehmen ein Therapieangebot an
Respektvolle, vorurteilsfreie Angebote für Alkoholkranke werden auch in der kürzlich erschienenen S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie zu Alkohol gefordert. Dort wird allerdings auch beklagt, dass trotz des inzwischen sehr differenzierten Suchthilfesystems in Deutschland nur rund zehn Prozent der Abhängigen ein Therapieangebot annehmen. Erstmals wird deshalb auch das „kontrollierte“ Trinken als eine Option erwähnt: Einigen Betroffenen könnte eine „risikoarme“, maßvollere Form des Alkoholkonsums, die in den 70er Jahren zuerst der kanadische Forscher Marc Sobell in die wissenschaftliche Debatte geworfen hatte, den Einstieg in den Ausstieg erleichtern – oder zumindest das kleinere Übel sein, wenn Menschen sich auf eine vollständige Abstinenz (noch) nicht einlassen können. Die Praxis zeige überhaupt, dass die Behandlung von Alkoholproblemen individuell sein müsse, sagt Peter Neu, heutiger Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Jüdischen Krankenhaus. „Wir können nicht alle Konsumenten über einen Kamm scheren.“
Sind psychische Auffälligkeiten Folge oder Ursache der Sucht?
Auch hinsichtlich der Ursachen für Suchtentwicklung geht das nicht: Die Psychiater stützen sich heute auf ein „multikausales“ Konzept: Neben genetischen Komponenten spielen Persönlichkeitstörungen, soziale Umstände oder Gewalt- und Vernachlässigserfahrungen eine Rolle – mit unterschiedlichem Gewicht. „Es wäre überheblich, nur eine Ursache anzunehmen“, sagt Neu, „theoretisch kann jeder Mensch suchtkrank werden.“ Welche Auswirkungen Alkohol und andere Drogen auf Erleben und Verhalten haben, sei individuell wiederum sehr verschieden, ergänzt Oberarzt Konrad Müller. Schwer zu entscheiden, ob die psychischen Auffälligkeiten eher Folge des Trinkens sind oder zur Entwicklung der Sucht beigetragen haben. Auffallend viele Patienten haben neben ihrem Suchtproblem jedenfalls eine weitere psychiatrische Diagnose, häufig Angststörung, Depression oder Borderline-Persönlichkeitsstörung. „Das Trinken von Alkohol, das zunächst einen Versuch zur Selbstmedikation darstellt, führt in der Folge dann zur Selbstschädigung“, sagt Neu.
Während früher die Meinung vorherrschte, zuerst müsse die Entzugstherapie stattfinden und der Patient „trocken“ sein, bevor man mit Psychotherapie und Medikamenten auch andere Erkrankungen behandeln könne, versuchen Ärzte und Psychologen heute, beide Probleme gleichzeitig anzugehen. Außerdem wird früh gemeinsam beraten, wie es nach dem Klinikaufenthalt weitergehen soll, welche ambulante Behandlung gebraucht wird und wie im individuellen Fall die wirkungsvollsten Stützen für ein Leben ohne Sucht aussehen könnten. Angehörige können anonym und kostenlos an Gruppensitzungen teilnehmen, die eine Therapeutin leitet. Notgedrungen sind sie von der Suchtkrankheit mitbetroffen, sie sind es zudem oft, die den Anstoß für die Behandlung gegeben haben.
Ungefähr die Hälfte der Patienten, die im Suchtzentrum des Jüdischen Krankenhauses behandelt werden, haben Probleme mit der legalen Droge Alkohol. Doch es gibt einen Trend zum Mischkonsum, dem „polyvalenten Gebrauch“. „Viele, die zu uns kommen, stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Existenz“, sagt Neu. Und längst nicht alle schaffen es auf Anhieb, von den Drogen wegzukommen. Zentrumsgründer Lothar Schmidt berichtete beim Symposium sogar von einem Patienten, der 50 Mal zur Entgiftung in die Klinik kam, alle weiteren Behandlungsangebote aber ablehnte. Neu und seine Mitarbeiter gehen derzeit in einer wissenschaftlichen Studie den Gründen für derartige Therapieabbrüche nach. Damit es in Zukunft seltener dazu kommt.