zum Hauptinhalt
Der Gerontologe Eckehard Schlauß vom Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Lichtenberg.
© Mike Wolff

Delir bei Demenzpatienten: Kein Fall für die Psychiatrie

Oft fallen Demenzpatienten nach einer Operation ins Delirium – ein Problem auch für Ärzte und Pfleger. Im Krankenhaus Herzberge werden sie dafür geschult.

Die 83-jährige Patientin sitzt am Tisch, vor sich ein Stapel CDs. Eine kleine Anlage steht daneben – wenn sie möchte, kann sie Musik einlegen. Der Tisch ist geschmückt mit einem Gesteck, die Frau trägt hellblaues T-Shirt mit beiger Hose. Wären da nicht die anderen Patienten, Pfleger und Krankenzimmer, könnte man meinen, das hier wäre gar kein Krankenhaus. Sie sei jetzt wahrscheinlich schon die zweite Woche hier, sagt die Patientin. Ganz genau weiß sie es nicht. „Die Zeit vergeht hier ja sehr schnell.“

Laut Eckehard Schlauß, Gerontologe am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH), ist die alte Dame eine Hochrisikopatientin: „Hochbetagt und mit Sicherheit dement.“ Nach einer Blutung im Gehirn ist sie drei Wochen zur geriatrischen Komplexbehandlung im Krankenhaus. Faktoren, die in ein Delir münden können, bei dem Patienten in einen akuten Verwirrtheitszustand fallen. Wird dieser missdeutet, endet er in einem Teufelskreis aus Maßnahmen, die schnell zu einer starken Verschlechterung des Zustands führen. Eine Studie am KEH ergab: Nach einer Operation erleiden bis zu 30 Prozent der über 70-Jährigen ein postoperatives Delir. Die Klinik hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, mit verschiedenen Präventionsmaßnahmen diese Quote zu senken und medizinisches Personal über das Risiko aufzuklären.

Delir wird oft fälschlicherweise mit Alkohol gleichgesetzt

Viel zu oft herrsche noch Unklarheit über den Begriff „Delir“ – in der Bevölkerung, aber auch bei Fachleuten. Das sagt Albert Diefenbacher, Chefarzt der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am KEH. „Das Delir wird mit Alkohol und Alkoholentzug gleichgesetzt“, sagt er. „Das berühmte Weiße-Mäuse-Sehen.“ Dabei ist das eine Sonderform des Delirs, das „Delirium tremens“.

Schlauß und Diefenbacher geht es hingegen um den akuten Verwirrtheitszustand, der häufig nach einer OP eintritt. Der Patient weiß nicht mehr, wo er ist, fühlt sich unter Umständen von seiner Umgebung bedroht, bekommt Panik. „Und da geht dann das Schlamassel los“, sagt Diefenbacher. Wenn der Patient zum Beispiel aus seiner Orientierungslosigkeit heraus auf den Gang uriniere oder aggressiv werde, lande er viel zu schnell in der Psychiatrie. „Dabei sind diese Patienten nicht psychisch krank“, sagt Diefenbacher.

Die Herausforderung: Bewusstsein und Haltung des Personals zu verändern

Zur Aufklärung existiert am KEH seit eineinhalb Jahren ein Demenz-Delir-Management, mit Schulungen und Ausbildung von Pflegeexperten. Zudem wird das Programm auf Tagungen und Kongressen vorgestellt. Dafür wurde das Projekt mit dem Innovationspreis 2014 der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ausgezeichnet. Die Zahlen der nach einer OP deliranten Patienten hätten sie mit den Maßnahmen mehr als halbieren können, sagt Eckehard Schlauß. Die schwierigste Aufgabe dabei sei es, „Bewusstsein und Haltung des Personals zu verändern“, sagt Albert Diefenbacher. Ärzte und Pflegepersonal im KEH erhalten inzwischen ein kleines, laminiertes Kärtchen: die „Delir Pocketcard“. Darauf werden Symptome eines Delirs beschrieben, das Personal kann anhand mehrerer Punkte überprüfen, wie wahrscheinlich es sich um einen deliranten Patienten handelt. Dazu gehören die Fragen: Ist der Schlaf-wach-Rhythmus gestört? Gibt es eine „wahnhafte Situationsverkennung oder Halluzinationen“? Und: Ist der Verlauf fluktuierend? Das sei typisches Merkmal eines Delirs, sagt Diefenbacher. „Und das ist oft auch das Problem: Da ist der Patient morgens verwirrt, Sie rufen den Psychiater, der kommt mittags um 12 Uhr und dann ist der Patient wieder normal.“ Das Delir ist reversibel – nur die Demenz, die darunter rasant fortschreiten kann, ist es nicht. Daher kann schon die Prävention für die Patienten von äußerster Wichtigkeit sein.

Ein Knackpunkt dabei ist auch: die Matratze. Um Druckgeschwüre zu vermeiden, liegen Patienten oft auf sogenannten Antidekubitusmatratzen, die das Gefühl aufheben, auf einer festen Unterlage aufzuliegen. „Da wissen Sie dann gar nicht mehr, wo Sie sind im Raum“, sagt Diefenbacher. „Sie würden dann einfach die Augen aufmachen, aber der Demenz-Patient verfällt unter Umständen in Panik.“ Solche Matratzen sollten bei Demenz-Patienten also nicht zum Einsatz kommen. Zur Vermeidung der Druckgeschwüre sollte der Patient stattdessen so schnell wie möglich wieder aufstehen – das ist ohnehin gut für Risikopatienten, damit sie gar nicht erst in Orientierungslosigkeit verfallen.

Daher gibt es im KEH etwa auf der chirurgischen Station einen Aufenthaltsraum, in den die Patienten auch zum Essen kommen können. Auch die ganz banale Maßnahme, das Kopfteil des Patienten hin und wieder zu verstellen, kann helfen. Wenn man in der Notaufnahme liege, starre man schließlich die ganze Zeit nur an die Decke, sagt Diefenbacher. „Tun Sie das mal, dann beginnen Sie auch, da oben Dinge zu sehen.“ Zudem sollte das Personal darauf achten, die Patienten nicht zu oft von einem Zimmer ins andere zu verlegen, denn auch damit steigt das Risiko eines Delirs durch die zunehmende Orientierungslosigkeit. Es gebe Forschung dazu, wie viele Gesichter sich ein Mensch merken muss, der mehr als fünf Tage auf einer chirurgischen Station liegt, sagt Eckehard Schlauß. „Es sind über 30.“ Das müsse sich das Personal erst einmal bewusst machen.

Überforderung des Patienten und damit einhergehend des Personals bewirken zusammen oft Hilflosigkeit und eine Entmündigung des Patienten, die im Fall einer Demenz fatale Folgen haben können. Die 83-jährige Patientin aus der Geriatrie dagegen wirkt selbstständig, trotz ihres langen Klinikaufenthalts und einiger deutlicher Anzeichen von Demenz. Ihre Kleidung hat sie sich heute selbst herausgesucht, auch für die Wahl des Mittagessens muss sie sich noch entscheiden. „Und ich kann mir aussuchen, wo ich esse“, sagt sie – die möglichen Maßnahmen zur Vermeidung eines Delirs sind denkbar vielfältig.

Franziska Felber

Zur Startseite