Airport Walks: Zu Fuß von Kreuzberg nach Kopenhagen
Zu Fuß zum Flughafen: "Airport Walks" sollen den entfremdeten Großstadtbewohner mit seiner Metropolregion versöhnen. Ein Reisebericht.
Donnerstagnachmittag um 15 Uhr brechen wir auf. Nach Dänemark. Zu Fuß.
Na gut, nicht ganz. Aber immerhin von Kreuzberg zum Flughafen Schönefeld, und später wollen wir vom Flughafen Kastrup in die Kopenhagener Innenstadt laufen.
Warum? Weil von A nach B reisen selten etwas mit Bewegung zu tun hat. Oft verbringt man die Zeit hinter schallschluckenden Fenstern, in dunklen Tunneln, angeschnallt in fliegenden oder rollenden Stahlkonstruktionen. Bewegung wird nur noch streckenweise am eigenen Leibe erfahren.
Mein Mann und ich wollen das bei einem Wochenendtrip anders machen. Der Flug nach Dänemark soll eingerahmt werden von zwei langen Spaziergängen durch die Städte, ihre Vororte und Industriegebiete, also durch das, was sonst immer ungesehen bleibt. Um zu erfahren, wo wir überhaupt herkommen – und wo wir hingehen. Was das für Gebilde sind: die Stadt, aus der wir kommen und die, in die wir reisen.
Für den Fußmarsch braucht man Kondition
Die Idee zu diesem Experiment ist nicht von uns. Sie stammt von dem britischen Schriftsteller Will Self, der schon öfter sogenannte „Airport Walks“ unternommen hat. Einmal lief er von London nach New York, einmal von London nach Dubai – also fast. Die Distanz vom jeweiligen Flughafen in die Stadt legte er zu Fuß zurück. Anschließend schrieb er im „Guardian“ über die politische Wichtigkeit des Laufens als Akt des Widerstands gegen staatliche Kontrolle in einer globalisierten Welt. Denn wer zu Fuß läuft, ist unabhängig: von Transportfirmen, von Instanzen, die einem vorschreiben, wie man sich zu bewegen hat. Der Fußmarsch gegen die Entfremdung der Menschen von ihrer Umwelt. Wandern als Weg, dem Massentransport für kurze Zeit zu entkommen.
Dafür braucht man Kondition. Wir kalkulieren mit fünf km/h. Der Flug geht um 19.50 Uhr. Die ersten paar Kilometer sind für uns vertrautes Terrain: die Mariannenstraße, der Landwehrkanal, der Geruch der Dönerbuden am Kottbusser Damm, der wolkenverhangene Himmel über dem Hermannplatz.
Wir biegen in die Karl-Marx-Straße ein. Je weiter wir gehen, desto weniger Altbauten. Langsam brennen die Fußgelenke. So ungewohnt ist das Laufen also schon. Wir haben zum Glück beide nur Handgepäck dabei, das wir in Rucksäcken verstaut haben.
Unser Leben wird murmeltierisiert, zur ewigen Wiederholung verdammt
Will Self bezieht sich bei seinen „Airport Walks“ auf das Konzept der „Psychogeography“, deren wichtigster Vertreter der Franzose Guy Debord war, ein marxistischer Theoretiker und Begründer der Situationistischen Internationale, einer linken Gruppe europäischer Künstler. Debord wollte herausfinden, wie die urbane Landschaft das Verhalten und die Gefühle der Menschen beeinflusst. Debord misst dem Städtebau, den öffentlichen Verkehrsmitteln und der Architektur große Wichtigkeit für unser Erleben einer Stadt bei. Diese geben gewissermaßen vor, wie man sich im urbanen Raum zu verhalten hat, welche Wege man zurücklegen soll. Wir nehmen wie Schlafwandler jeden Tag den gleichen Bus zur Arbeit, müssen jeden Tag um die bekannten Gebäude gehen, abends in den nächsten Supermarkt. Die Bahn hält immer am Potsdamer Platz: Das Leben wird murmeltierisiert, zur ewigen Wiederholung verdammt.
Debord hatte es sich zur Aufgabe gemacht, neue Strategien zu finden, um der Stadt und dem öffentlichen Raum auf anderen Ebenen, mit frischem Bewusstsein zu begegnen. Dabei legte er sehr viel Wert auf Verspieltheit, also auf ein sogenanntes „Driften“ durch die Welt. Er setzte alles darauf an, sich absichtlich zu verlaufen.
Parallelen mit dem Flanieren, über das unter anderem Charles Baudelaire schrieb, bestehen ebenfalls. Mit Flanieren ist der Müßiggang, das Schlendern ohne Eile, gemeint. Und das Verweilen an den Orten, an denen man sich wohlfühlt. Ein Ziel gibt es beim Flanieren jedoch nicht, darin unterscheidet diese Praxis sich von den „Airport Walks“.
So schnell geht das also?
Für uns wird es jetzt langsam knapp, es ist kurz nach 17 Uhr. Hoffentlich sind wir schnell genug. Ohne Pause geht es die Strecke der U7 entlang. Kurz vor der Blaschkoallee biegen wir ab nach Osten, es geht die Rudower Straße hinunter. Erwartungsgemäß wird es ruhiger hier draußen, die kleinen Wege haben Vogelnamen: Kolibriweg, Storchenweg, Buchfinkweg. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Google Maps hilft uns bei der Orientierung.
In Britz bestellen ein paar Männer an einer Bude Currywurst gegenüber einer Auto-Werkstatt, Feierabend. Kaufland, Aldi, Lidl, Video-World. Die Gegend wirkt ärmlicher. Hochhäuser ragen an der Johannisthaler Chaussee in den Himmel. Die vielen Bestattungsinstitute fallen uns auf.
Da! Die Rudower U-Bahnstation – hier kommen alle aus dem X9 Bus aus Schönefeld an. Wir sind fast da.
Das Zeitempfinden hat sich durch den langen Spaziergang verändert
An der Waltersdorfer Chaussee gibt es keine hohen Häuser mehr. Stattdessen säumen Bungalows, Kleingärten und Gartenzwerge den Straßenrand. Dann taucht das Flughafengebäude auf, 90 Minuten später seufzen wir, als wir endlich in unsere Flugzeugsessel fallen und uns anschnallen. Geschafft.
Ein Moment, um nachzudenken. Das Zeitempfinden hat sich durch den langen Spaziergang schon verändert. Kaum abgehoben, ertönt bereits die Durchsage: „Crew, please be seated for landing“. So schnell geht das also? Ist das der Unterschied zwischen abwarten, bis man da ist, und reisen?
Um 21 Uhr steigen wir am Kastrup International Airport aus. Entlang der mehrspurigen Autobahn, auf der die Taxis und Shuttlebusse in die Stadt rasen, laufen wir. Es geht in den Vorort Kastrup hinein. Alles ist grün hier. Große Fußballfelder sind zu sehen. Zwei Füchse spielen darauf. Ein malerisches Bild, das uns sonst entgangen wäre. Wir lernen wieder, richtig hinzuschauen.
Die Glasgebäude im Business-Distrikt Kopenhagens wirken surreal
Kleine Straßen schlängeln sich langsam Richtung Zentrum. Gartenkolonien und Ruhe, bis auf die Flugzeuge, die ab und an noch von Weitem zu hören sind.
Häuser aus Ziegeln, Dunkelheit. Wir erreichen Tårnby. Hotels, Lichter. Nach dem scheinbar endlosen Grün wirken die ersten Glasgebäude im Business-Distrikt Kopenhagens surreal.
Dann der Weg durch Amager Fælled, eine Art Niemandsland in der Mitte Kopenhagens. Früher wurde dieses Grüngelände für Militärübungen genutzt, heute haben Investoren es sich geschnappt, und bald werden hier wohl mehr futuristische Gebäude stehen.
Die Gespräche kreisen stetig um die Umgebung. Wie hat sie sich verändert? Wie sieht es hier gerade aus, wo sind wir? Wie wird an dieser Stelle der Stadt gelebt? „Wo müssen wir jetzt hin?“ frage ich müde, als Zuggleise vor uns erscheinen.100 Meter weiter findet mein Mann einen Tunnel, der uns auf die andere Seite führt.
Über Brücken, an kleinen Seen vorbei. Die Stadt wirkt fern, bis wieder große Straßen auftauchen, Fabrikgebäude und Discounter. An die andere Seite Kopenhagens, Sydhavnen. Hier haben die Straßen Namen von bedeutenden Komponisten: Mozartvej, Wagnervej.
Körperlich sind wir müde, doch der Geist ist wach
Menschen im 19. Jahrhundert legten regelmäßig solche Strecken zu Fuß zurück, um in Städte hinein- und wieder hinaus- zulaufen. Damals war die Beziehung zur Stadt und ihren Vororten eine natürlichere als heute. Das schlaglichthafte Erleben – man verschwindet in einem U-Bahnschacht und taucht kilometerweit entfernt wieder auf – hat bestimmt die Geografie unseres Denkens verändert.
Eine kleine Pause, zwei Datteln für den Blutzucker. Mittlerweile sind wir in Valby, dem Zielort, angekommen. Eckcafés und Supermärkte, die Menschen in den Wohnhäusern bereiten sich aufs Schlafen vor, schalten die Lichter aus. Ein Friedhof.
Körperlich sind wir müde, doch der Geist ist wach. Ein Gefühl, sich zwei Städte auf außerordentliche Weise verinnerlicht zu haben, kommt auf. Wir sind frei. Die 45 Minuten im Flugzeug bemerken unsere Körper nicht. Stattdessen dominiert die Empfindung, den angefangenen Spaziergang lediglich fortgesetzt zu haben.
Es ist beinahe Mitternacht, als wir unser Ziel – die Wohnung einer Freundin – erreichen. Insgesamt gut 30 Kilometer haben wir zu Fuß zurückgelegt. Wir haben sie er- statt durchfahren.
Auf der Rückreise: Schienenersatzverkehr vom Bahnhof Schönefeld Flughafen. Das hätten wir zu Fuß schneller geschafft.
Sarah Pepin
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