Berliner Schnauzen: Wie Schneegeier im Himalaya bei der Bestattung von Menschen helfen
Der Geier ist selbst schuld an seinem schlechten Ruf. In Indien wurde fast der gesamte Bestand ausgerottet - wegen eines beliebten Schmerzmittels.
Man muss schon sagen, dass der Geier, auch der Schneegeier, einen Imageberater bräuchte. „Hol’s der Geier!“ ist kein Ausruf der Lebensfreude. Wenn der Geier kommt und durch die Lüfte kreist, sind am Boden meist schon alle Messen gelesen, das Zielobjekt des Geiers ist Aas. Es muss mal eine Lanze gebrochen werden für den Geier, besonders für den Schneegeier hoch oben im Himalaja, aber auch für die drei, die im Tierpark in großer Voliere auf Naturfelsen hocken.
Die Kollegen im Himalaja sind Umweltschützer, Seuchenverhinderer, Gesundheitspolizisten, und die in Berlin tun niemandem etwas zuleide. In Tibet etwa wird der Schneegeier als Bestatter beschäftigt, erzählt Martin Kaiser, der Kurator der Greifvögel. Dort ist der Boden in den kalten Monaten zu hart, um gestorbene Mitmenschen zu beerdigen. Holz für eine Verbrennung ist knapp. Also gibt es eine Himmelsbestattung. Dabei wird der verstorbene Mensch auf eine Anhöhe gebracht, er wird präpariert, was eine angenehmere Formulierung für die tatsächliche, schnabelgerechte Zerstückelung ist. Den Rest macht der Schneegeier, übrig bleiben nur die Knochen.
Man könnte sagen, dass der Geier selbst schuld ist an seinem miesen Ruf. Aber das ist nun mal die Natur der Sache. Und wenn der Natur im Tierpark ihren Lauf gelassen wird, also wenn die Pfleger den Geiern einen ganzen Körper zum Fraß vorlegen – nein, keinen Tibeter, aber vielleicht mal ein verstorbenes Schaf –, ist Geiers Sturzflug aufs Aas kein appetitanregender Anblick. Man verzichtet im Tierpark lieber auf das Ganzkörperangebot und verfüttert unkenntliche Brocken. Wie beim Menschen, für den das Schnitzel auch seine Herkunft verleugnet.
Diclofenac tötet Geier
Vielleicht liegt es an dieser ökologischen Nützlichkeit, dass der Schneegeier kaum natürliche Feinde hat. Vielleicht aber auch daran, dass er mit seinem harten, scharfen Schnabel gegebenenfalls heftige Hiebe austeilen kann und mit einer Spannweite seiner Flügel von mehr als drei Metern ziemlich mächtig daherkommt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er im Himalaja so auf 4000 bis 5000 Metern nistet und brütet, welcher Fuchs oder Bär traut sich da schon hoch an schwer zugänglichen Felswänden.
Es ist der Mensch, der am Bestand rüttelt. Er macht das mit Diclofenac, einem Wirkstoff, den wir Zweibeiner uns bei Gelenkschmerzen auf die Haut schmieren, der aber auch in der Nutztierhaltung eingesetzt wird. Geiern, die Diclofenac über das verendete Rind aufnehmen, versagen die Nieren, sie verenden. Anfang der 90er Jahre reduzierte der Stoff in Indien den Geierbestand um 90 Prozent.
Die beiden Weibchen und das Männchen im Tierpark sind davor geschützt. Derzeit turtelt eine der beiden Schneegeierinnen, gebürtig in Nürnberg, intensiv mit dem Schneegeier, einem gebürtigen Tschechen. Man hofft stark auf Nachwuchs, auf ein Ei, das die beiden, wie unter ihresgleichen üblich, dann über 50 Tage hinweg gemeinsam ausbrüten und es in den ersten Wochen mit vorverdautem und ausgebrochenem Fraß füttern, bis das Junge groß und fit genug ist, um sich selbst in den ökologischen Kreislauf zu stürzen. Das mutet nun auch nicht sehr appetitlich an, aber andere Völker, andere Sitten. Und wenn’s doch der Umwelt dient?
Schneegeier im Tierpark
Lebenserwartung: Bis zu 50 Jahren
Natürliche Feinde: Die Pharmaindustrie
Interessanter Nachbar: Tiger