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Turm des Schweigens. Auf diesem umfriedeten Gelände setzen die Parsen ihre Toten den Geiern aus.
© picture alliance / arkivi

Indien: Dezimierung der Geier bedroht Bestattungen der Parsen

Seit Jahrhunderten bestattet die Religionsgemeinschaft der Parsen ihre Toten mithilfe der Geier. Doch in Mumbai geht der Bestand der Aasfresser dramatisch zurück.

Die Geier sind verschwunden. Stattdessen durchziehen Hochhäuser und Hochstraßen Malabar Hills, eine der exklusivsten und teuersten Adressen in Indiens Wirtschaftsmetropole Mumbai. Dass die Aasfresser ausbleiben, stört nur eine Minderheit der Anwohner: die kleine, aber einflussreiche Parsen-Gemeinschaft, wie die Anhänger des Zoroastrismus hier genannt werden. Die Parsen sind Anhänger der ältesten noch praktizierten Religion der Welt. Sie erlaubt ausschließlich „Himmelsbeerdigungen“ – ein wohlklingendes Wort für die makaber wirkende Praxis, Leichen den Geiern zum Fraß auszusetzen. Die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft gelten den Parsen als heilig und dürfen nicht durch einen unreinen Leichnam entweiht werden, so verlangt es die mehr als 3000 Jahre alte Religion.

Die Parsen wanderten im 8. und 9. Jahrhundert aus Persien nach Indien ein, als dort ihr Glaube durch den Islam verdrängt wurde. Um die 60.000 von ihnen leben in Indien, fast drei Viertel davon in Mumbai, dem früheren Bombay. Obwohl die Parsen in dem 1,2 Milliarden Einwohner zählenden Land eine winzige Gemeinschaft sind, ist ihr wirtschaftlicher und kultureller Einfluss groß.

Vier der zehn reichsten und einflussreichsten Inder sind Parsen. bei nur 0,005 Prozent Anteil der Gruppe an der Gesamtbevölkerung. Ratan Tata, Chef des gleichnamigen Konzerns, der unter anderem die Automarken Jaguar und Land Rover besitzt, ist ebenso Mitglied der Minderheit wie Cyrus Poonawalla, der größte Impfstoffhersteller der Welt, Adi Godrej, der Chef des gleichnamigen Industrie-Empires und Immobilien-Mogul Pallonji Mistry.

Die „Himmelsbestattung“ der Parsen war einst eine effiziente Methode. Die Toten der Parsi-Gemeinschaft in Mumbai wurden in den „Turm des Schweigens“ gebracht: eine runde, nach oben offene Stein-Plattform inmitten einer 22 Hektar großen, bewaldeten Fläche in Malabar. Ein Schwarm von Geiern kreiste erwartungsvoll bereits um den Turm; eine halbe Stunde später waren von der Leiche nur noch die Knochen übrig. Doch dann verschwanden die Geier. „Wir schauten in den Himmel, aber seit Jahren hat niemand einen Geier gesehen“, erinnern sich die Bestattungsmitarbeiter in Malabar. Als der erste „Turm des Schweigens“ 1670 in Malabar Hills gebaut wurde, war das Gebiet noch ein Dschungel mit Tigern und Hyänen. Inzwischen liegt das Areal mitten in der dicht besiedelten 20-Millionen-Metropole.

Es gibt nur noch 100.000 Geier

Indien hatte 1980 noch 40 Millionen Geier, jetzt ist der Bestand laut einer Erhebung der „Bombay Natural History Society“ auf etwa 100.000 gesunken. In einem Land, in dem Kühe aus religiösen Gründen nicht geschlachtet werden dürfen, hatten die Greifvögel ein gutes Nahrungsangebot. Doch in den 90er Jahren begannen Landwirte in der Rinderzucht das Arzneimittel Diclofenac anzuwenden, ein Entzündungshemmer, der offenbar die Nieren der Geier zerstört. Inzwischen ist Diclofenac zwar verboten, der Wirkstoff ist aber weiter illegal in Gebrauch.

Mit dem Niedergang der Geier wurden die Toten der Parsen-Gemeinschaft zu einem Problem. Anwohner beschwerten sich über den Gestank der verrottenden Leichen, Krähen begannen, sich über die verwesenden Körper herzumachen, und mit kleinen Leichenteilen davonzufliegen – zum Leidwesen der Nachbarschaft, wo Finger und andere Leichenteile auf Balkonen oder Terrassen landeten.

Händeringend wurden Alternativen gesucht. Doch Chemikalien, die die Körper schneller verwesen lassen sollten, wurden vom Regen weggewaschen. Ein Projekt, die Geier-Population mit einem Brutprogramm wiederzubeleben, scheiterte. Die Parsi-Gemeinschaft begann mit der Installation von Sonnenreflektoren, um die Leichen auszutrocknen. Doch das braucht Wochen und funktioniert im Winter und in der Regenzeit gar nicht.

Reformwillige Parsen in Mumbai fordern seit Jahren eine klare Entscheidung, um die Missstände in Malabar zu beheben. Im indischen Bundesstaat Gujarat erlaubt die Gemeinschaft inzwischen ausdrücklich die Erdbestattung. Die Gemeinde stimmte im Januar mehrheitlich dafür, gegen den Willen aller fünf Priester. Diese Entscheidung dürfte den Weg für Reformen auch in Malabar Hills ebnen. Denn niemand erwartet, dass die Geier irgendwann zurückkehren.

Von Agnes Tandler

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