Experimentelle Wohnformen in Berlin: Wie die Baugruppe Spreefeld lebt
Halb Kommune, halb Appartement, diese Wohnform schafft Raum – auch fürs Miteinander. Ist das die Zukunft des Bauens?
Sie könnten das an der Köpenicker Straße alles auch ganz anders machen. Ihr Grundstück einzäunen und die Rasenflächen für sich behalten. Die Angler vertreiben, die ein paar Meter von ihren Häusern entfernt sitzen. Und das alte Bootshaus an der Spree nicht andere Menschen nutzen lassen. Wäre kein Problem, gehört ja alles ihnen.
Rund 7 000 Quadratmeter, Berlin-Mitte, wo mal der Club Kater Holzig und die Strandbar Kiki Blofeld die Szene lockten, zwischen Ruinen einer Eis- und einer Seifenfabrik. Für eine Berliner Immobilie absolute Bestlage.
Hier leben rund 100 Erwachsene und geschätzt 50 Kinder als genossenschaftliche Baugruppe „Spreefeld“ seit einem guten Jahr in drei Häusern und sind in der Gegend Pioniere. Und das nicht nur, weil sie ihr Grundstück mit zufälligen Besuchern teilen. Sondern auch, weil sie ihre Wohnungen teilen. Mit ihren Nachbarn, die aber eher Mitbewohner sind. Klingt kompliziert. Scheint aber einfach zu sein.
Ein Sommerabend. Im Erdgeschoss eines der Häuser wird eine Ausstellung eröffnet, Christian Schöningh kommt kurz dazu, Nachbarn begrüßen, geht dann hoch zur Wohnung. Oder zu den Wohnungen? Wie man’s nimmt, alles eine Frage der Perspektive.
Elf Menschen teilen sich 600 Quadratmeter
Elf Menschen teilen sich hier anderthalb Etagen auf gut 600 Quadratmetern. Auf den ersten Blick wirken die eher karg, das Treppenhaus roh, Betonwände, unverputzt. In der ganzen Etage sei keine Innenwand tragend, sagt Schöningh, der als Architekt von Anfang an in die Planungen involviert war.
Theoretisch könnten die Bewohner also alles umbauen, wenn sie möchten. Vorläufig aber ist die Aufteilung diese: Man öffnet vom Treppenhaus kommend die Haustür und steht in einem Flur, einem wirklich langen. Links herum ist am Flurende ein offenes Wohnzimmer, daneben eine offene Küche und ein großer Balkon. Zweiter Eindruck: alles sehr geräumig. Rechts öffnet sich der Flur nach mehreren Metern zu einer großen Wohnküche, wo gerade ein knappes Dutzend Menschen zu Abend isst, Geschirrklappern, Gesprächsfetzen, WG-Anmutung.
Das ist es, was die Wohnungen im Spreefeld auszeichnet und dafür sorgt, dass der Nachrichtenstrom über diese Genossenschaft nicht abreißt: Sie leben allein und doch in Gemeinschaft. Was sie hier machen, nennt sich „Clusterwohnung“, irgendwo zwischen Mini-Appartement und Wohngemeinschaft.
Denn von der anderen Seite des Gangs gehen die Türen ab, die zu den Privaträumen führen. Autarke Wohnungen, für einen Single rund 30 Quadratmeter mit kleiner Küche und Bad. Mikrowohnungen. Pärchen leben auf etwa 70 Quadratmetern, Familien haben gut 100 Quadratmeter. Der Clou aber ist, wer seine eigenen vier Wände verlässt, steht nicht im Treppenhaus. Sondern in den Räumen, die sie gemeinsam nutzen – zwei Küchen, ein Wohnzimmer, ein Balkon. Rechnerisch vergrößert sich so jede Wohnung um rund 30 Prozent.
Wie das Projekt finanziert wurde
Die Grundidee ist simpel: Es gibt Dinge, die jeder in einer Wohnung braucht – einen Platz zum Kochen, Essen, Sitzen, zum Waschen. Aber eben nur manchmal. Warum diese Dinge nicht miteinander teilen? Das führt dazu, dass die Preise niedriger sind als bei klassischen Häusern. Gemeinschaftlich genutzte Quadratmeter werden gemeinschaftlich bezahlt.
Die Baukosten im Spreefeld lagen bei rund 2100 Euro pro Quadratmeter, deutlich weniger als die Hälfte des Üblichen. Das liegt auch daran, dass sie vor sechs Jahren für das Grundstück nur 2,3 Millionen Euro gezahlt haben – nach heutigen Maßstäben günstig. Und die Bewohner brachten viel Eigenkapital mit, umgerechnet 40 Prozent für das 17-Millionen-Euro-Projekt. Der zu tilgende Kreditanteil ist entsprechend gering. Anders als bei anderen Genossenschaften wie etwa im Möckernkiez scheinen Finanzierungsprobleme am Spreefeld keine große Rolle gespielt zu haben.
Fünf Euro Kaltmiete! Direkt an der Spree
Die Rahmenbedingungen waren also günstig, und da sie als Genossenschaft keine Profitinteressen verfolgen, kommen sie im besten Fall auf eine durchschnittliche Kaltmiete von fünf Euro pro Quadratmeter.
Fünf Euro kalt. Im Neubau in Mitte direkt an der Spree. Das sind die Fakten.
Das andere sind die Motive, jenseits der Zahlen. Zum Beispiel die Frage, wie in einer wachsenden Stadt dennoch genug Platz für die Menschen geschaffen werden kann. Sie könnten etwas zusammenrücken, findet Schöningh. Mit dieser Ansicht ist er derzeit nicht alleine.
Es scheint, als würden derart genutzte Wohnungen in Mode kommen. Anfang August endete eine Bewerbungsfrist der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Zu verteilen sind 30 Millionen Euro für „Experimentellen Geschosswohnungsbau in Berlin“. Und experimentell dürften Clusterwohnungen sein, gut geeignet, sagt Schöningh, für Studentenheime oder betreute Wohngemeinschaften älterer Menschen.
Und wer wohnt hier eigentlich?
Im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt betrachtet man Wohnformen wie im Spreefeld als zukunftsweisend. Vergangene Woche öffnete die Ausstellung „Daheim – Bauen und Wohnen in Gemeinschaft“, eine Art Werkschau von 26 in Deutschland und im Ausland realisierten Bauprojekten; darunter auch das Spreefeld sowie vier weitere aus Berlin.
Ob als Baugruppen, Genossenschaften oder Wohnungsbaugesellschaften, alle Projekte gleichen sich darin, dass sie „gemeinschaftliches Wohnen als einen Ausdruck veränderter Lebensentwürfe betrachten“, sagt Laura Kienbaum vom Architekturmuseum. Bis ins hohe Alter generationenübergreifend in der Familie zu leben werde seltener, Freundschaft hingegen immer wichtiger. Das bedeute aber, dass künftig mehr Menschen im Alter alleine sein werden. Oder eben nicht, wenn sie gemeinsam wohnen.
Wer macht so was? Herr Schöningh macht so was, gebürtig in Paderborn, der 1980 zum Studium nach Berlin kam und blieb. Hat lange in Kreuzberg 36 gelebt, ein politisch denkender Mensch, der in Baugruppen zumindest in deren Anfängen eine Weiterentwicklung der Hausbesetzungen sieht. Nur gehören die Häuser einem nun auch rechtlich. „In Baugruppen trifft sich meist der Mittelstand“, sagt er „in sozialer, kultureller und intellektueller Hinsicht.“ Im Spreefeld sei die Spannbrei- te größer. Mit seinen 55 Jahren sind er und seine etwa gleichaltrigen Mitbewohner die Ausnahme, die Alten- WG. Aber auch nicht ganz, da sei eine dreiköpfige Familie in der Etage, mit einem Kind, das es „gegen alle Erwartungen klasse findet, hier zu wohnen“.
Normalerweise gibt keine Bank so leicht Kredit
Bei einer Baugruppe, die 40 Prozent der Kosten aus eigener Tasche bezahlt, kann man von gehobener Mittelschicht ausgehen. Doch Schöningh ist stolz, dass auch Menschen ohne viel eigenes Kapital und hohes Einkommen hier wohnen. Normalerweise gibt denen keine Bank den nötigen Kredit, doch die Genossenschaft hat das Grundstück als Sicherheit angeboten. Die Alternative wäre eine höhere Miete gewesen, wie es üblich sei unter Genossen, deren unterschiedliches Eigenkapital sich in den Miethöhen abbildet. Dann wäre das Geld weg gewesen. So aber, sagt Schöningh, tragen die Ärmeren mit der Kredittilgung zu ihrer Vermögensbildung bei. Besser auf Pump etwas zu besitzen, als ewig Miete zu zahlen.
Als sie vor Jahren mit ihrer Idee an die Öffentlichkeit gingen, schienen sie einen Nerv getroffen zu haben. Der Andrang war so groß, dass sie freie Plätze auslosen mussten. Für Schöninghs Elf-Personen- Haushalt gilt das nicht: Sie kannten sich, wenn auch nicht alle. „Wir machen hier erklärtermaßen ein Experiment“, sagt er, man könne in der Architektur ohnehin keine Experimente im Reagenzglas machen: „Man muss die Häuser halt bauen und schauen, ob es funktioniert.“
Wie richtet man sich ein? Wer räumt auf?
Dazu gehören auch die Fragen des Alltags. Wie richtet man sich ein? Wie füllt man die Regale, und wer räumt auf? Die Antwort: Man bespricht recht viel. Und so hätten sie beschlossen, dass jeder ein Bild in die Gemeinschaftsflächen hängt. Dass in die Wohnzimmerregale Kunstbände passen, ebenso wie Sigmund Freud und Reiseliteratur. Dass sie einen Kühlschrank für alle haben, den sie jeden Sonntag gemeinsam leeren. Und dass niemand die Schuhe ausziehen muss, wenn er in die Wohnung kommt.
Das sind im Moment die einzigen Regeln. Der ganze Rest: eine Leerstelle. Muss man füllen. Muss man wollen.