Was ist dran am Phänomen "Maternal Gatekeeping"?: Wer zuerst die Windel riecht
Sind die jungen Väter von heute zu faul, sich um ihre Kinder zu kümmern, oder werden sie etwa von den Frauen weggebissen? Einen Begriff dafür gibt es jedenfalls schon mal: Maternal Gatekeeping.
Der Satz klingt harmlos: „Ich mach schon.“ Und nach einer guten Neuigkeit. Vor allem, wenn die Windel voll ist und die Duftfahne schon durch die ganze Wohnung zieht. Wenn man diesen Satz als Vater hört und meint, jetzt könnte man sich bequem zurücklehnen, dann hat man möglicherweise die erste Niederlage bereits hinter sich. Ganz unmerklich. Aber nachhaltig.
In so manchem „Ich mach schon“, das im klebrigen, fleckigen, reiswaffelkrümeligen Alltag der ersten Jahre mit einem Kind gesagt wird, steckt nämlich ein tiefer Misstrauensbeweis der Mutter gegenüber dem Vater.
Der oberflächlich affirmative Ausdruck des Handelns heißt im Subtext: Ich hab’s zuerst gerochen, du hast es wieder nicht gemerkt, du hättest bestimmt so lange gewartet, bis der Baby-Po wieder pavianrot und das Kind die ganze Nacht unleidlich ist. Du hättest beim Wickeln wahrscheinlich die Flügelchen der Windel nicht ausgestülpt, was zu fiesen Flecken im Body geführt hätte, die du dann nicht mit Gallseife rechtzeitig rausgeschrubbt hättest. Kurz: Du kapierst es nicht. Besser, ich mach das gleich selbst, dann geht nicht wieder alles schief.
Der Begriff wurde 1999 von US-Familienforschern eingeführt
Früher hätte mancher Vater gesagt: Na ja, das ist halt mütterlicher Perfektionismus, meinethalben auch ein bisschen Kontrollwut. Gerade so kurz nach der Geburt, wenn die Hormone brodeln, die Nächte kurz sind und die neue Familienkonstellation sich erst finden muss. Seit einiger Zeit ist dafür jedoch ein Schlagwort populär, das eine Menge Aufregungspotenzial in sich birgt: Maternal Gatekeeping.
Der Begriff ist englisch, die wörtlich übersetzte mütterliche Zugangskontrolle beschreibt eine Form des Verhaltens, mit dem eine Mutter verhindern will, dass der Vater sich um Kinderpflege und -erziehung kümmert. Das mag paradox erscheinen, wünschen sich doch die meisten Frauen, dass die Männer genau das tun: sich mehr einbringen. Aber hier geht es um etwas anderes als darum, wer wie oft das Baby badet oder mit Brei füttert. Es geht um Machtstrukturen.
Ganz neu ist der Begriff nicht. 1999 haben ihn die amerikanischen Familienforscher Sarah Allen und Alan Hawkins eingeführt. Ihrer Untersuchung von 622 berufstätigen Elternpaaren nach halten etwa 20 Prozent der Frauen ihre Männer von den Kindern fern, weil sie sonst ihre Autorität als Mutter untergraben sehen. Typisch für diese „Türsteherinnen“ sei, dass sie sich weigern, die Verantwortung abzugeben, indem sie strenge Standards ansetzen, ihre Identität vor allem über die Mutterrolle definieren und allgemein in einem traditionellen Familienbild verhaftet sind.
Diese These, dass Mütter den Rahmen bestimmen, in dem die Väter sich einbringen, stellt das bisherige Deutungsmuster auf den Kopf. Bislang galt: Schuld sind die Männer. Sie halten an ihrer traditionellen Geschlechterrolle fest. Seit der Maternal-Gatekeeping-Debatte hat sich die Fragerichtung indes umgedreht: Tragen möglicherweise die Frauen selbst Schuld daran, dass die Männer nicht mehr machen? Weil die Frauen sie davon abhalten?
Tatsächlich gibt es sie ja, diese neuen Väter. Jedenfalls in der Theorie. Seit einigen Jahren boomt die Väterforschung. Erstaunliches wurde auf dem Gebiet herausgefunden. Männer können eine Co-Schwangerschaft inklusive Hormonschwankungen haben, Männer können postnatale Depressionen bekommen und vor allem: Männer sind viel wichtiger für die emotionale Entwicklung der Kinder als lange angenommen.
Und in der Praxis? Da ist von den neuen Vätern nicht so viel zu sehen. Immerhin gehen achtbare 30 Prozent in Elternzeit. Die meisten davon, 77 Prozent, nehmen allerdings nur die Mindestzeit von zwei Monaten. Und die werden oft gesplittet und gern für einen Familienurlaub genutzt anstatt für den eigentlichen Zweck: dass die Mutter wieder ihre Arbeit aufnehmen kann.
Darum haben es die neuen Väter leichter
Nach der Elternzeit geht in 90 Prozent der Fälle allerdings der Mann zurück in die Vollerwerbstätigkeit. Statistisch gesehen bleiben die meisten sogar länger im Büro als vorher. Frauen mit minderjährigen Kindern sind dagegen zu 69 Prozent in Vollzeit tätig. Insgesamt arbeiten Frauen heute sogar weniger als vor 15 Jahren. Retraditionalisierung der Paarbeziehung nennt das die Soziologie.
Daran sollen jetzt ausgerechnet die Frauen schuld sein, weil sie ihre Männer vom Kinderbett weg ins Büro verjagen? Unfair, aber wenig überraschend. Nach den Rabenmüttern, den Macchiato- Müttern, den Bio-Müttern, den Helikopter-Müttern passen die Gatekeeper-Mütter gut in das Muster. Als Mutter macht man es in der öffentlichen Wahrnehmung immer falsch: Man ist hysterisch, übervorsichtig, narzisstisch, nachlässig, überfordernd, egoistisch, ehrgeizig, antreibend, karrieregeil, gluckig. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Irgendwer hat immer was auszusetzen.
Vom Ideal der elterlichen Gleichberechtigung sind wir weit entfernt
Die neuen Väter haben es leichter. Weil der historische Standard so niedrig ist. Dass sich Väter einfühlsam um ihre Kinder kümmern und mehr Zeit mit dem Nachwuchs verbringen, ist in der Geschichte vergleichsweise neu. Im Grunde sank die Wichtigkeit des Vaters im familiären Geflecht seit der Industrialisierung. Arbeiteten zuvor viele Bauern, Handwerker, aber auch einige Bürger zu Hause, wo sie ein mehr oder weniger patriarchalisches Regiment ausübten, zog es sie nun in die Fabriken. Ihre Rolle als Erzieher und Beschützer übernahm die Mutter allein. Dem Vater, dessen alltäglicher Kontakt mit den Kindern stetig abnahm, blieb fortan die Funktion des Ernährers und der Autoritätsperson.
Immer wieder gab es Debatten, ob das auch gut sei. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hieß es, Jungs, die von ihren Müttern erzogen würden, drohten zu verweichlichen. Andererseits überhöhten Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi die Rolle der Mutter als Erzieherin. Statt für Strenge sorge sie für Empathie, das forme den Charakter der Kinder. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das traditionelle Familienbild mit seiner klaren Aufgabenteilung restauriert. Mutter war für die Kinder zuständig, Vater fürs Geldverdienen. Wissenschaftlich fundiert wurde das Familienmodell durch die Bindungstheorie, die die Wichtigkeit der Mutter für das Kind als naturgegeben annahm.
So überholt das alles heute klingt, vom Ideal einer elterlichen Gleichberechtigung sind wir weit entfernt. Das fängt schon bei den Grundlagen an. Mehr Väter verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern. Wie viel das jedoch ist, hängt davon ab, wen man fragt. Symptomatisch war das Ergebnis einer amerikanischen Studie: Die Hälfte der Männer sagte, sie kümmere sich gleichwertig um ihr Kind. Die Frauen dagegen sahen sich in zwei Dritteln der Fälle für hauptverantwortlich an.
Die wohl profundeste Studie zum Verhalten von Paaren mit Kindern kommt ebenfalls aus Amerika und wurde von der University of California in Los Angeles durchgeführt. Ein Team von Wissenschaftlern war jeweils eine Woche zu Hause bei 32 Familien aus der Mittelschicht, bei denen beide Partner berufstätig waren, und beobachtete deren Alltagsleben. Insgesamt sammelten sie 1540 Stunden Videomaterial.
Zu den vielen Daten, die sie daraus ermittelten, zählte etwa, dass die häufigste Raum-Person-Konstellation so aussah: der Vater alleine in einem Zimmer. Außerdem wurden bei den Probanden regelmäßig Speichelproben entnommen, um das Level an Cortisol zu messen, dem Antistresshormon. Das Ergebnis: Je länger sich Väter zu Hause aufhielten, desto niedriger war ihr Cortisolspiegel. Sie entspannten sich also zu Hause von der Arbeit. So weit, so vorhersehbar.
Das Stresslevel der Mütter sank kaum, wenn sie zu Hause waren
Überraschend war dagegen, dass das bei Müttern nicht so war. Ihr Stresslevel sank kaum, wenn sie zu Hause waren. Auf den Stress im Büro folgte der nächste im Kinderzimmer. Ihr Cortisolspiegel sank jedoch deutlich, wenn sie sahen, wie sich ihr Mann um die Kinder und um die Hausarbeit kümmerte. Angesichts der häufigsten Raum-Person-Konstellation geschah das jedoch nur selten.
Maternal Gatekeeping? Oder doch eher väterliche Faulheit? Vielleicht ist es mit dem Phänomen ja wie mit der Laktoseintoleranz oder der Glutenunverträglichkeit: Jeder spricht darüber, wirklich betroffen sind extrem wenige.
Sicher, Väter machen heute mehr. Mütter machen aber noch mehr. Immerhin hat sich in den vergangenen Jahren auch die Elternrolle deutlich verändert. Das Familienleben ist oftmals eine ziemlich durchgetaktete Angelegenheit. Heute gehen Kinder zum Flamencotanzen, ins Mantrasingen, zum Kinderyoga. Mag sein, dass Papa die Tochter zum Ballett bringt, das ganze Mikromanagement dahinter übernehmen oft die Frauen.
Ebenso die Planung für den Kindergeburtstag, das Auffüllen der Adventskalender, die Weihnachtsgeschenke für den Babysitter, die Organisation des Schwimmkurses und des Familienurlaubs – all das Drandenken, all die To-do-Listen, das machen die Mütter. Allein die Kita-Logistik: montags die Vesperdose, dienstags die Fünf-Cent-Münzen für den Fön in der Schwimmhalle, donnerstags die Sporthose, alle drei Monate das Monatsgeld (Feuchttücher, Taschentücher, Eintritt für Museen und den Besuch in der Obstpresse) überweisen und auch noch die Betreuung für Kita-Ferientage klarmachen. Das erledigen praktisch immer die Mütter.
Und die Väter? Die picken sich auf der endlosen To-do-Liste ein paar Punkte raus, arbeiten sie ab und beziehen daraus gar nicht so wenig Stolz.
Mindestens eins hat die Debatte um das Maternal Gatekeeping jetzt schon gebracht: Faule Väter haben jetzt faule Ausreden. Für jede Form des übergriffigen Ratschlags, eines ungebetenen Monitorings beim Babybaden oder der schlichten Aufforderung, mehr Verantwortung zu übernehmen, haben sie nun das passende Schlagwort.
Wer diese Kämpfe übrigens kaum auszufechten hat, sind gleichgeschlechtliche Eltern. Die empfinden sich laut einer amerikanischen Studie in der Erziehung ihrer Kinder als gleichberechtigt.
Silke, Felix Denk
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