Leben mit dem Trauma: Wenn das Grauen von Afghanistan auch in der Heimat nicht enden will
Seit er als Scharfschütze im Krieg war, leidet Alexander Sedlak an Posttraumatischer Belastungsstörung. Nun will er anderen mit einem Sternmarsch Mut machen.
Die Flashbacks können jederzeit kommen. Einmal fuhr Alexander Sedlak auf der Autobahn, da sah er etwas im Gebüsch am Straßenrand. Vermutlich nur ein Stück Folie, doch er war im Kopf plötzlich zurück in Afghanistan. Durchlebte Erinnerungen noch einmal. Was hier ein Fetzen Plastik ist, konnte dort eine Sprengfalle sein. „Man lässt dieses Detail nicht mehr aus den Augen. Fängt an zu schwitzen“, erzählt er beim Gespräch Anfang Dezember in seiner Kaserne in Baden-Württemberg. „Mir wurde richtig übel, ich musste am nächsten Parkplatz anhalten, erst mal eine rauchen und runterkommen.“
In solchen Momenten hilft Alexander Sedlak eine Methode aus dem Krieg. Er atmet einige Male tief durch, konzentriert sich nur darauf. Als Scharfschütze hat er so seinen Puls verlangsamt, um einen präzisen Schuss abzufeuern. Jetzt bekämpft er damit Panikattacken.
Alexander Sedlak ist Bundeswehrsoldat und leidet an Posttraumatischer Belastungsstörung. Der 30-Jährige wirkt nicht wie jemand, der schnell aus der Fassung zu bringen ist. Kräftiger Händedruck, fokussierter Blickkontakt. Etwas steif in der Haltung. Im Krieg hat er als Ersthelfer Opfer von Sprengfallen behandelt. Nicht alle konnte er retten. Sedlak ist jemand, der Dinge gern unter Kontrolle hat, die Hilflosigkeit schmerzt ihn noch immer.
Laut Definition der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften ist PTBS eine „mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse“, dazu gehören „gewalttätige Angriffe auf die eigene Person“. Betroffen sind vor allem Soldaten, aber auch Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter.
Manche Patienten brauchen nur ein paar Gespräche, um das Problem in den Griff zu bekommen. Alexander Sedlak ist seit 2012 aus dem Krieg zurück, war seitdem sieben Mal in Krankenhäusern zur Behandlung, zuletzt für sechs Monate. Sein längster stationärer Besuch. Er hat mehr Zeit in Kliniken verbracht als in Afghanistan.
Man kann PTBS nicht heilen, nur kontrollieren
1875 Fälle in Behandlung verzeichnete allein die Bundeswehr 2018. Die Zahl steigt kontinuierlich, geschätzt um etwa 100 Fälle pro Jahr. Weil die Auslandseinsätze zahlreicher werden – aktuell zwölf Missionen mit insgesamt knapp 4000 Soldaten –, und weil diese sich heute häufiger in Behandlung begeben als früher. Vermutlich sind es noch weitaus mehr, viele Patienten wollen sich nicht eingestehen, dass sie Hilfe brauchen. Zumal in einer Truppe, in der es immer noch zum Teil verpönt ist, vermeintliche Schwäche zu zeigen.
Sedlak will das Thema deshalb in die Öffentlichkeit bringen. 2017 organisierte er einen Spendenlauf, sprach viel über seine Geschichte, sammelte knapp 10.000 Euro. Ein Erfolg für seine Sache, doch sein eigener Kampf ist noch nicht vorbei. Im Frühjahr wird er wieder losmarschieren. Für die Kameraden, für sich selbst. Bei einem Sternmarsch sollen fünf Teams aus allen Himmelsrichtungen ins thüringische Mühlhausen in der Mitte von Deutschland laufen. Wieder will er Spenden für den Bund Deutscher Einsatzveteranen sammeln, der sich für die Betreuung von Soldaten nach dem Dienst einsetzt.
Dass Sedlak über das Problem reden will, heißt nicht, dass es ihm leichtfällt. Der 30-Jährige sitzt in einem kleinen Büro in der Robert-Schuman-Kaserne in Müllheim. Deutsch-französische Brigade, 30 Autominuten von seinem Geburtsort Freiburg entfernt. Mehr als drei Stunden lang spricht er. Ein Sanitätsoffizier ist die ganze Zeit mit im Raum, „weil einige Fragen den Kameraden triggern könnten“.
PTBS ist nicht heilbar, man könne sie nur kontrollieren lernen, erklärt der Fachmann. Alexander Sedlak sagt, gerade gehe es ihm gut. Bis auf die Schlafstörungen. Er wache nassgeschwitzt auf. Manchmal sei er im Traum auf Patrouille in Afghanistan, plötzlich stehe dort seine Freundin am Straßenrand.
Türen, die ins Schloss fallen, Schubladen, die knallen, lassen ihn erschrecken. Früher wurde er dann ungehalten. Heute könne er sich besser kontrollieren, sagt er. Nicht so einfach, vor allem jetzt, um Silvester rum. Mitternacht selbst sei nicht so wild. Schlimm sind die Tage davor und danach, wenn einige unvermittelt böllern.
Er oder ich heißt oft: sterben oder töten
Sedlak trägt Uniform, blonden Vollbart und Kurzhaarschnitt. Dunkle Ränder umgeben seine hellblauen Augen. Die jüngste Therapie habe viel aufgewühlt, das muss er nun im Alltag bewältigen lernen. „In Koblenz ging es ans Eingemachte“, sagt er. Traumatherapie. Einwurf vom Sanitätsoffizier: „Zunächst geht es bei Soldaten darum, sie zu stabilisieren. Sie können das mit einem Feuer vergleichen, dass man eindämmen muss. Gelöscht wird später.“
Schritt 1: Sedlak musste sich mit den Erlebnissen auseinandersetzen, die seine PTBS ausgelöst haben könnten. In Gruppen darüber reden, es aufschreiben. Insgesamt drei Mal, jedes Mal mit mehr Details, auch soll er notieren, was er damals gefühlt hat und was er heute fühlt.
Eine der Situationen beschreibt Sedlak so: Er sichert die Umgebung, liegt im Versteck, als ein Heckenschütze ihn ins Visier nimmt. Der Freiburger hört den Schuss, das Projektil schlägt knapp unter seinem Kinn in die Mauer, hinter der er in Deckung liegt. Er sieht kein Mündungsfeuer. Weiß nicht, wo der Schütze sitzt. Die zweite Kugel zischt knapp an seinem Ohr vorbei. Wieder kein Mündungsfeuer. Sedlak weiß aus der eigenen Ausbildung: Ein Scharfschütze verfehlt sein Ziel kein drittes Mal. Er zieht sich zurück.
Meist würden Scharfschützen zur Beobachtung eingesetzt, selten, um abzudrücken. Aber eben nicht immer. „In dem Moment geht es darum: Er oder ich. Der andere zögert sicher nicht“, sagt Sedlak. Er oder ich heißt oft: sterben oder töten. Das gilt für jeden Soldaten. Doch anders als etwa ein gewöhnlicher Infanterist hat ein Scharfschütze das Gesicht des Gegenübers durchs Fernrohr klar vor Augen. Ja, man werde auf solche Dinge im Unterricht vorbereitet, darauf hingewiesen, dass es etwas mit einem macht. Dass man nicht auf Pappscheiben schießt. Mit den Bildern im Kopf sind die Soldaten später jedoch allein.
Sie werden auch gewarnt, dass sie immer damit rechnen müssten, selbst angegriffen zu werden. „Das zu hören, ist eine Sache. Das zu erleben eine andere“, sagt der Sanitätsoffizier. Sedlak sieht erleichtert aus, ihn mit im Raum zu haben. Als fachlichen Beleg für seine eigenen Geschichten. Wie oft seine Einheit unter Beschuss geriet, hat er nicht gezählt. „Man zuckt irgendwann nur noch mit den Schultern, wenn es am Fahrzeug mal wieder geklimpert hat.“ So nennt er das, wenn Schüsse fallen. Er rührt Milch in seinen Kaffee. Raucherpause. Sedlak zündet sich zwei nacheinander an.
Schon als Kind habe er sich fürs Militär interessiert, sagt Sedlak. „Soldaten waren für mich immer Respektspersonen.“ Sein Schülerpraktikum absolviert er bei der Bundeswehr. 2008 meldet er sich freiwillig zum Wehrdienst. Nach der Grundausbildung wird er Schritt für Schritt präziser trainiert, vom einfachen Infanteristen zum Ersthelfer, an der Milan-Panzerabwehrrakete und schließlich zum Scharfschützen.
Er wusste, worauf er sich in Afghanistan einlässt. Seine Dienstzeit war fast rum. Er wollte noch einmal losziehen und das tun, wofür er ausgebildet worden war. Es war nicht sein erster Auslandseinsatz, im Kosovo war er 2009. Ruhig sei es da gewesen. Diesmal nicht.
Die Kämpfe in Afghanistan dauerten schon neun Jahre, bis sich der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg dazu durchrang, von „Krieg“ zu sprechen. Drei deutsche Soldaten waren gerade gefallen. Das war 2010. In dem Jahr, sagt Sedlak, hob er die Hand, als die Bundeswehr nach Freiwilligen für die ISAF-Mission suchte. Ein paar Monate später ging es los.
Infrage gestellt hat er das nie. Er ist athletisch gebaut, stramme Körperhaltung, klare Aussagen. Das alles braucht er, wenn er im Zweifelsfall stundenlang regungslos in einem Versteck liegt. Er antwortet präzise und knapp, kommt nur dann ins Reden, wenn es um militärische Dinge geht. Um die Gewehre, die er unter seinem Feldbett verstaut hatte. Das DMR für die mittlere Reichweite, das panzerbrechende G82, das eher nicht gegen Personen eingesetzt werde. Das G22 mit einer quasi garantierten Treffsicherheit von 900 bis 1100 Metern.
Wenn er davon erzählt, wirkt Sedlak wie auf Autopilot. Er ruft ab, was gebraucht wird, ohne zu hinterfragen oder zu zögern. Er funktioniert. So, wie die Bundeswehr es von ihm verlangt hat. Sedlak sagt selten „ich“, meistens „man“. Ein grammatischer Schutzschild.
Die Bundeswehr nennt das „Wehrdienstbeschädigung“
Vier Monate nach der Rückkehr endet seine Dienstzeit regulär. Sedlak fängt bei einem privaten Sicherheitsdienst an, arbeitet tagsüber. Doch weil er sowieso nicht schlafen kann, irgendwann auch nachts. Die Müdigkeit macht ihn nur noch nervöser, jedes Geräusch kann ihn die Fassung verlieren lassen. Er isoliert sich in seiner Wohnung. In den ersten Monaten nach dem Einsatz sei das ganz normal, sagen Mediziner, der Körper steht in so einem Einsatz unter Dauerstress. Aber dann sollte es eigentlich besser werden. Wurde es nicht.
Einmal, in einer Tankstelle, habe ihm ein Freund von hinten auf die Schulter getippt. Sedlak dreht sich um und schlägt dem Bekannten beinahe mit der Faust ins Gesicht. Bei einer Körpergröße von 1,84 Meter wiegt er noch 66 Kilogramm. Sedlak weiß, dass er was machen muss. Im Internet kann man einen Selbsttest machen, ob eine PTBS vorliegen könnte. Wieder und wieder füllt er ihn aus. Das Ergebnis ist immer eindeutig. Er ignoriert es jedes Mal. Bis seine damalige Freundin ihm ein Ultimatum setzt. Entweder er holt sich Hilfe, oder sie geht. Das ist 2015, drei Jahre nach seiner Rückkehr.
Also meldet er sich beim Sozialdienst der Bundeswehr. Soldaten, auch ehemalige, die im Dienst einen Schaden davontragen, haben Anspruch auf Unterstützung. „Wehrdienstbeschädigung“ nennt die Bundeswehr das. Es bedeutet auch: Sedlak wird wieder aufgenommen in den Dienst als Soldat. Sitzt heute am Schreibtisch, bekommt weiterhin seinen Sold und ist sozial und gesundheitlich über die Armee abgesichert.
Es dauert fast ein Jahr, bis Sedlak sich den Therapeuten öffnet. Seine Freundin hat ihn mittlerweile verlassen. Er lernt eine neue Frau kennen, sie treffen sich in einem Motorradladen. Er legt sich einen Rottweiler zu. Der zwingt ihn, vor die Tür zu gehen. Beim Spendenmarsch vor zwei Jahren begleitete er ihn durch ganz Deutschland. Mittlerweile hat er das Tier wieder abgegeben. „Er hat mich an eine dunkle Phase meines Lebens erinnert, deshalb konnte ich ihm nicht mehr die Zuwendung geben, die er braucht. Und ich wollte nicht, dass der Hund depressiv wird.“
In der Klinik übt er, Ängste abzubauen. Das ist die zweite Phase der Therapie. Er fährt mit anderen Patienten im Bus in die Stadt und geht Eis essen. Sedlak meidet Menschenmassen eigentlich. Er kann nicht anders, als seine Umgebung permanent zu taxieren. Je mehr Reize, desto größer der Stress. „Wenn ich auf meinem Balkon sitze, weiß ich genau, welches Auto da am Vortag geparkt hat, welches Fenster gerade offen ist und wo noch Licht brennt.“ Alte Reflexe.
Er hasst es, die Dinge nicht selbst steuern zu können. Viele PTBS-Patienten ertragen zum Beispiel keine U-Bahnen. „Ich muss dem Fahrer vertrauen, ich kann nicht einfach aussteigen. Ständig neue Leute, die Situation ändert sich permanent. Vielleicht finde ich keinen Platz, von dem aus ich alles im Blick habe“, sagt Sedlak.
Einige Soldaten nehmen Medikamente. Sedlak hat selbst einige probiert, sie jedoch später abgesetzt. Für den Ernstfall hat er ein Beruhigungsmittel. „Damit ich nichts kaputtmache.“ Ansonsten will er es aus eigener Kraft schaffen.
Sein Engagement für das Thema sei eine gute Stütze. Gerade ist er mit der Planung für den Sternmarsch ausgelastet. Dann sollen mehr Teams aus allen Himmelsrichtungen loslaufen, so dass noch mehr Leute sie sehen und ihnen zuhören. Er hofft, vielen das Problem ins Bewusstsein zu rufen - und seinen Kameraden zu zeigen: Es ist okay, darüber zu sprechen. Er hat einen klaren Auftrag, den er ausführt. So hat er es gelernt bei der Bundeswehr. Nur diesmal hat er ihn sich selbst erteilt.
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