Flucht vor Krieg und Gewalt: Späte Folgen erlebten Leids
Studierende der FU Berlin haben eine Trainingsanleitung zum Umgang mit Traumatisierungen entwickelt – und wurden mit dem Lehrpreis 2018 geehrt.
Der 32-jährige A. war über die Balkanroute vor dem Krieg in seiner Heimat geflüchtet. In Deutschland knüpfte er schnell soziale Kontakte, lernte die deutsche Sprache, wollte zügig Arbeit finden. Doch drei Monate nach seiner Ankunft wirkte er zunehmend abwesend, klagte über Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten, war oft müde, reizbar und impulsiv. Auf laute Geräusche reagierte er mit Zittern, verließ manchmal panisch den Raum.
Das ist ein Beispiel aus der Broschüre „Traumasensibel arbeiten“, die auch über das Internet verfügbar ist. Die Trainingsanleitung, die von Studierenden des Fachbereichs Erziehungswissenschaft und Psychologie im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Freien Universität Berlin erarbeitet wurde, soll Ehrenamtliche bei ihrer Arbeit mit geflüchteten Menschen unterstützen. Wie lassen sich traumabedingte Belastungen erkennen? Und wie reagiert man als Helferin oder Helfer auf diese angemessen?
„Uns erreichten immer wieder Anfragen von Ehrenamtlichen, die sich mit dem Thema überfordert fühlten“, sagt Maria Böttche, promovierte Psychologin am Arbeitsbereich Klinisch-Psychologische Intervention des Fachbereichs Erziehungswissenschaft und Psychologie. „Und auch Studierende, die sich freiwillig engagieren, kamen in unsere Seminare und haben viele Fragen gestellt.“
Maria Böttche, die promovierte Psychologin Nadine Stammel und der wissenschaftliche Mitarbeiter Raphael Cuadros entwickelten ein Seminarkonzept mit dem Titel „Erkennen von Traumatisierung bei Geflüchteten“. Anfang des Jahres wurde es mit dem zentralen Lehrpreis der Freien Universität Berlin 2018 ausgezeichnet. Mit diesem Preis werden jährlich mit wechselndem Schwerpunkt Projekte gewürdigt, die besonderes Engagement in der forschungsorientierten Lehre zeigen und innovative Lehrformate entwickelt haben. Dotiert ist der Preis mit bis zu 10 000 Euro für die Umsetzung des Projekts.
Eine Trainingsanleitung für Ehrenamtliche aus allen Bereichen
Beide Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Trauma. Neben ihrer Arbeit an der Freien Universität Berlin leiten Maria Böttche und Nadine Stammel gemeinsam die Forschungsabteilung des Berliner „Zentrum ÜBERLEBEN“, einer Menschenrechtsorganisation, die geflüchteten traumatisierten Menschen Unterstützung bietet: in Form von Psychotherapie sowie medizinischer Versorgung, psychosozialer Betreuung und Sozialberatung. Raphael Cuadros, Lehrbeauftragter der Freien Universität, ist ehrenamtlicher Mitarbeiter bei der Organisation „Sea-Watch“. Dort leitet er den Bereich zur psychologischen Nachbereitung für ehrenamtliche Aktivistinnen und Aktivisten der Seenotrettung.
Die Trainingsanleitung, die von den Studierenden im vergangenen Sommersemester konzipiert wurde, richtet sich an Ehrenamtliche aus allen Bereichen – an Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften Essen oder Kleidung ausgeben, die in Willkommensklassen vorlesen oder Deutsch unterrichten und die geflüchtete Menschen im Rahmen einer Patenschaft bei Behördengängen begleiten. „Ehrenamtliche haben eine wesentliche Funktion bei der Integration“, sagt Raphael Cuadros. „Unser Ziel war es, sie aus der Universität heraus mit wissenschaftsbasierten Informationen zu versorgen, was hoffentlich dazu beitragen kann, ihre Arbeit ein Stückchen zu erleichtern.“
Ehrenamtliche werden kaum geschult
Menschen in sozialen Berufen könnten sich schulen lassen, Ehrenamtliche aber kaum. Eine Lücke, die die Trainingsanleitung schließen helfen soll. „Wir haben auf Fachbegriffe verzichtet“, sagt Nadine Stammel. „Man kann von ehrenamtlich tätigen Menschen nicht auch noch verlangen, dass sie in ihrer Freizeit komplizierte Fachliteratur lesen, die für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Psychologinnen und Psychologen geschrieben worden ist.“
Jedes Kapitel der Trainingsanleitung wurde von einer Gruppe der insgesamt 27 Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer inhaltlich gestaltet. Sie beschäftigten sich nicht allein mit Fachliteratur zum Thema Trauma, sondern tauschten sich auch mit Expertinnen und Experten aus der Praxis aus.
Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer sollen auf Verhaltensweisen aufmerksam gemacht werden, die als Folge einer Traumatisierung auftreten können. Das können zum Beispiel übermäßige Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Teilnahmslosigkeit, Nervosität oder Reizbarkeit sein. Befragungen von traumatisierten Menschen mit Fluchterfahrung aus 40 Ländern zeigen, dass etwa jeder Dritte eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder Depressionen entwickelt. Schon kleine Reize können dazu führen, dass Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse ausgelöst werden. Manchmal sind es laute Geräusche, dann wieder Gerüche, die quälende Bilder und Gefühle hervorrufen.
Fluchterfahrung als quälende Erinnerung
„Die Aufgabe von Ehrenamtlichen ist es nicht, traumatische Erlebnisse mit den Menschen psychotherapeutisch aufzuarbeiten“, sagt Maria Böttche. „Wenn sie aber die Symptome kennen, können sie sensibel damit umgehen und eine verständnisvolle Haltung einnehmen.“ Ist ein Kind mit Fluchterfahrung beispielsweise beim Vorlesen unruhig und unaufmerksam, muss das nicht an Desinteresse liegen. Vielleicht lenkt es sich durch die Aktivität ab, weil quälende Erinnerungen auftauchen, sobald es zur Ruhe kommt.
Bei Erwachsenen sind auch das Vergessen von Terminen oder häufiges Zuspätkommen mögliche Hinweise auf eine Posttraumatische Belastungsstörung. „Helferinnen und Helfer können geflüchtete Menschen darauf hinweisen, dass sie einem Therapeuten in einem geschützten Raum von ihren Erlebnissen erzählen können“, sagt Nadine Stammel. Zur Abschlussveranstaltung des Seminars am Ende des Sommersemesters kamen mehr als 80 Besucherinnen und Besucher. Darunter waren viele Menschen, die in der Flüchtlingshilfe für verschiedene Initiativen arbeiten.
Das Interesse sei groß gewesen, und es habe Anfragen gegeben, ob Studierende Trainings für Ehrenamtlichen anbieten könnten, sagt Nadine Stammel: „Unser Leitfaden ist aber so konzipiert, dass im Prinzip jeder ein solches Training anleiten kann.“ Das Konzept soll nun von Studierenden evaluiert werden – zum Beispiel im Rahmen von Bachelorarbeiten.
Alice Ahlers