Für den Fall der Apokalypse: Was vom Heute übrig bleibt
Zellen des Breitmaulnashorns, Linsensaatgut und der Vertragstext des Westfälischen Friedens: Diese Archive konservieren das Erbe unseres Planeten – für den Fall X.
So nah am Abgrund wie im Moment war die Welt zum letzten Mal vor mehr als 60 Jahren. Seit 1947 bewerten Atomforscher die Gefahren für die Menschheit mit einer symbolischen Weltuntergangsuhr – der sogenannten Doomsday Clock. Anfang 2017 haben sie die Zeiger um 30 Sekunden vorgestellt, unter anderem wegen der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten. Jetzt ist es zweieinhalb Minuten vor Mitternacht, der symbolischen Apokalypse.
Doch wenn die Welt schon in Stücke fliegt, will die Menschheit wenigstens nicht untergehen, ohne ihre Spuren zu hinterlassen. Deshalb kümmern sich überall Archivare darum, dass Zeugnisse unserer Gegenwart und Vergangenheit möglichst auch eine größere Katastrophe überstehen.
Tiefkühlgemüse aus der ganzen Welt
Ungefähr 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt ragt in der Abgeschiedenheit Spitzbergens ein scharf geschnittener Betonklotz aus dem Hang. Er sieht abweisend aus, seine Tore sind verschlossen und alarmgesichert. Sie öffnen sich nur wenige Male im Jahr – wenn eine neue Lieferung in den Berg gebracht wird. Die Svalbard Global Seed Vault ist ein Saatgut-Tresor. Seit 2008 lagern hier die Samen von Nutzpflanzen aus der ganzen Welt. Mehrere Jahrtausende lang sollen sie sich bei minus 18 Grad halten.
Asmund Asdal ist der Koordinator des Speichers. Er sieht in der Anlage eine Art Versicherung für den Erhalt der Nutzpflanzenvielfalt. Sie soll die Ernährungsgrundlage der Menschheit für die Zukunft absichern. Ende 2017 lagen knapp 890 000 Sorten in den drei je 12 mal 27 Meter großen Kammern, darunter zum Beispiel Gerste, Weizen und Linsen. Zurzeit lagern Duplikate von 73 nationalen Samenbanken in Svalbard. Sollte eine dieser Samenbanken zerstört werden, kann sie mithilfe des Global Seed Vault wieder aufgefüllt werden. „In Syrien ist das schon passiert“, erzählt Asdal. Eine Samenbank musste wegen des Krieges zurückgelassen werden, doch auf Spitzbergen befand sich das Back-up.
Die Anlage dort gilt als erdbeben-, raketen- und sogar atombombensicher. Und wenn die Kühlung ausfällt, sorgt die Umgebung für die nötige Kälte, weil der Saatgut-Tresor im norwegischen Permafrostboden angelegt wurde. Allerdings ist der Global Seed Vault gar nicht entstanden, um Schutz vor irgendwelchen katastrophalen Ereignissen zu bieten, sondern weil seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein großer Teil unserer Pflanzenvielfalt bereits verloren gegangen ist.
Geschichte im Berg
Wer sich auf den Weg zum Barbarastollen macht, dringt so tief in den Schwarzwald ein, dass er zur Lokalisierung des Ortes mindestens drei Bezugspunkte braucht: Der Stollen gehört zur Gemeinde Oberried in der Nähe von Kirchzarten bei Freiburg. Dass der Barbarastollen als „Zentraler Bergungsort für den Kulturgutschutz der Bundesrepublik Deutschland“ ausgewählt wurde, hat auch mit dieser Abgeschiedenheit zu tun. Seit 1975 werden Kopien der wichtigsten Dokumente aus deutschen Archiven auf Mikrofilm in den ehemaligen Bergwerksstollen im Gebiet des Schauinsland eingelagert. Inzwischen liegen hier mehr als 1500 knapp 80 Zentimeter hohe Edelstahltonnen, in denen jeweils 16 Mikrofilm-Großrollen stecken. Darauf wurden mehr als eine Milliarde Aufnahmen festgehalten, etwa von der Krönungsurkunde Ottos des Großen aus dem Jahr 936, vom Vertragstext des Westfälischen Friedens oder von der Ernennungsurkunde Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Insgesamt reicht die Fotostrecke der deutschen Geschichte fast einmal um den Äquator.
Der Aufwand, der dafür betrieben wird, ist gewaltig. Deutschlandweit sind 60 aus Bundesmitteln finanzierte Vollzeitstellen dafür vorgesehen, die Dokumente auf Mikrofilm zu bannen. Nach der Entwicklung werden die Aufnahmen in die Edelstahlbehälter gepackt, auf zehn Grad Celsius heruntergekühlt und mit Spezialdichtungen aus Kupfer hermetisch abgeriegelt: „Da kommt kein Molekül mehr raus oder rein“, sagt Bernhard Preuss, der Chefkulturgutschützer beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn. Der Stollen steht als einziges Objekt in Deutschland unter Sonderschutz nach der Haager Konvention zum Kulturgutschutz. Das bedeutet: Kein Flugzeug darf das Gebiet überfliegen, kein Soldat darf ihm zu nahe kommen. Dem Bergmassiv aus Granit und Gneis soll nicht mal eine Atombombe etwas anhaben können.
500 Jahre sollen die Filme ihre Information speichern
Preuss ist überzeugt, dass sich der Aufwand lohnt. Der Stollen sei so etwas wie eine Sicherheitskopie unserer Geschichtsschreibung. Die müsse es geben: „Es ist dem Menschen ein Bedürfnis, zu wissen, woher er kommt und wohin er geht.“ Die Archäologen setzen heute mit detektivischem Eifer jede einzelne Scherbe aus der Vergangenheit wieder zusammen. Aber als das Kölner Stadtarchiv im Jahr 2009 durch den Ausbau der U-Bahn einstürzte, fand man die Kopien wichtiger Dokumente im Barbarastollen. Preuss glaubt, dass es nur mit dem Wissen über unsere Geschichte Fortentwicklung geben kann. „Man muss nicht denselben Fehler zweimal machen.“
Wer auf eine bestimmte Aufnahme zugreifen will, kommt nicht umhin, die Filmrolle mühsam von Hand bis zu der Stelle aufzukurbeln, an der sich das Bild befindet, aber Preuss glaubt trotzdem an das Material: „Das gibt’s seit 160 Jahren, da weiß man, was man hat.“ Mindestens 500 Jahre sollen die Filme ihre Information zuverlässig speichern. Keiner weiß, welche Technologien dann gebräuchlich sein werden, aber für die Mikrofilme reichen Licht und Lupe.
Die Archivare der Bundesländer entscheiden darüber, welche Teile ihrer Bestände gefilmt werden – und welche nicht. Allerdings ist nicht jeder damit einverstanden, dass einzelne Personen bestimmen, welche Teile unserer Geschichte als überlieferungswürdig gelten. Nicht wenige Kritiker wünschen sich mehr Bürgerbeteiligung an dem Prozess. Preuss kann sich aber nicht vorstellen, wie das funktionieren soll: „Wenn Sie 1000 Leute fragen, kriegen Sie 2000 Antworten. Am Ende muss einer das letzte Wort haben.“
Die Arche im Eis
Für den Chinesischen Flussdelfin ist es schon zu spät. Ebenso für den Pyrenäensteinbock und den Östlichen Puma. Thomas Hildebrandt, 54, Wildtierreproduktionsmediziner am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin, hält das weltweite Artensterben für die größte planetare Entgleisung unserer Zeit. Laut WWF galten Ende 2017 fast 26 000 Tier- und Pflanzenarten als bedroht. Allein der Verlust der Insektenvielfalt sei so belastend für das Biogefüge, dass der Kollaps des ganzen Systems drohe, sagt Hildebrandt.
Dabei will der Wissenschaftler nicht zusehen: „Wir fliegen bis zum Mond, da werden wir ja wohl die Arten retten können!“ Das Nördliche Breitmaulnashorn zum Beispiel. Davon gibt es weltweit nur noch drei lebende Exemplare, in freier Wildbahn ist es bereits ausgestorben. An den Verfahren, die seine Rettung ermöglichen sollen, arbeiten er und andere weltweit mit Hochdruck. Ob es ihnen gelingt, den Fortbestand der Art in Echtzeit zu sichern, können sie noch nicht mit Gewissheit sagen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Deswegen entnehmen sie den letzten Exemplaren sicherheitshalber Zellen und frieren sie ein. Bei der Kryokonservierung liegen die Proben gekühlt auf knapp minus 200 Grad Celsius in flüssigem Stickstoff. „Der Stickstoff kauft uns Zeit“, sagt Hildebrandt. Bis zu 3000 Jahre sollen die Zellen haltbar sein.
Wenn alle nötigen Verfahren ausgereift sind, so die Hoffnung, könnten sie die Zellen wieder auftauen und die Art vielleicht noch retten. Im Zweifelsfall sogar dann, wenn nur noch ein oder gar kein Vertreter der Spezies mehr lebt. Mit den Eizellen und Spermien des Nördlichen Breitmaulnashorns würden sie eine künstliche Befruchtung vornehmen und den Embryo von einer Leihmutter austragen lassen – das könnte auch ein Südliches Breitmaulnashorn sein.
Was ist das Geheimnis des Nacktmulls?
Zumindest aber wollen die Forscher die Erbinformationen der bedrohten Arten sammeln und aufbewahren, bevor sie von der Erde verschwinden. Bei diesem Projekt arbeiten sie mit anderen Einrichtungen zusammen, die sich demselben Ziel verschrieben haben, etwa mit dem „Frozen Zoo“ in San Diego und dem Projekt „Frozen Ark“ an der University of Nottingham in England.
„Die Evolution hat uns eine ganze Bibliothek voller Informationen hinterlassen, aber wenn wir die Kreaturen alle ausrotten, können wir nie in diesen Büchern lesen!“, sagt Hildebrandt. Dabei sei dieses Wissen ein riesiger ungehobener Schatz, von unermesslichem Wert für die Menschheit. Was etwa ist das Geheimnis des Nacktmulls? Die Tiere werden uralt und entwickeln keinen Krebs.
Doch dürfen Wissenschaftler sich anmaßen, derart tief in die Abläufe der Natur einzugreifen, sich zu Herren über Leben und Tod zu machen? Sollte man der Evolution nicht lieber ihren Lauf lassen? Artensterben hat es doch immer gegeben ... Davon will Hildebrandt nichts wissen. „Keiner von uns verneint die Evolution. Allerdings ist, was wir heute erleben, kein Artensterben, sondern eine vom Menschen verursachte Ausrottung.“
Bücher zu Bytes
Auch Klaus Ceynowa, der Generaldirektor der 1558 gegründeten Bayerischen Staatsbibliothek (BSB), hat sich auf den Flirt mit der Ewigkeit eingelassen. Die Bibliothek in München gilt mit ihrem Bestand von rund elf Millionen Werken als eine der bedeutendsten in Europa. Auf die Frage, wie man dafür sorgt, dass das Medium Buch für die Ewigkeit oder zumindest für die nächsten 500 Jahre präsent und verfügbar bleibt, hat die BSB eine Antwort gefunden: Seit 20 Jahren digitalisieren Mitarbeiter die Bibliotheksbestände. Angetrieben von dem uralten Menschheitstraum, das Wissen der Welt für alle jederzeit und überall verfügbar zu machen, haben sie ab 1997 ein Digitalisierungszentrum aufgebaut, das größte aller deutschen Kultureinrichtungen. 37 Scanner sind hier im Einsatz. Mit dem Ziel, den urheberrechtsfreien Teil der Sammlung, also grob die Bestände vom 17. bis 19. Jahrhundert, aus ihrem Dasein in den Magazinen zu befreien und elektronisch verfügbar zu machen. Ein gigantisches Vorhaben.
1,2 Millionen Bücher galt es zu scannen, im Schnitt kostet die Digitalisierung 60 Euro pro Buch. „Es war uns klar, dass wir vom Staat nie so viel Geld für das Projekt bekommen würden“, sagt Ceynowa. Deswegen haben sie 2007 entschieden, ihre Bestände zusammen mit dem Suchmaschinen-Konzern Google zu digitalisieren. Von den 1,2 Millionen Scans hat die BSB 200 000 angefertigt, den Rest hat Google übernommen. Als Gegenleistung kann der US-Konzern von jedem Scan, den er von einem Buch aus der BSB anfertigt, eine Kopie bei Google Books einstellen. Schon 2004 hatten die Gründer Larry Page und Sergey Brin angekündigt, dass sie die Bestände der größten Bibliotheken der Welt digitalisieren wollen.
Google hat weder Zugriff noch Ansprüche
Die Entscheidung, dabei mitzumachen, hat der BSB viel Kritik eingebracht. „Es hieß, wir würden uns kannibalisieren“, erzählt Ceynowa. Die BSB war die erste Bibliothek in Kontinentaleuropa, die sich auf den Deal mit Google eingelassen hat. Es wurde befürchtet, der Konzern wolle sich die wertvollen Bestände der Bibliotheken einverleiben, würde die Bücher beschädigen oder gleich ganz verschwinden lassen. Immerhin haben Mitarbeiter der Firma für das Projekt eine Million Bücher aus den Magazinen der BSB entnommen und in ihr eigenes Scanzentrum gebracht, dort abgelichtet und wieder zurück in die BSB geliefert.
Kein einziges Buch sei dabei zu Schaden gekommen, sagt Ceynowa: „Die Mitarbeiter in dem Projekt sind ja keine supercoolen Nerds, die noch nie ein Buch angefasst haben. Das sind Spezialisten“, meint er. Auch abhängig habe sich die BSB nicht gemacht. Die digitalisierten Werke der BSB liegen auf den Servern des Leibniz-Rechenzentrums in München. Darauf habe Google weder Zugriff noch Ansprüche: „Wenn Google morgen seinen Laden dichtmacht, haben wir kein Problem.“
Die Ewigkeit macht da schon eher Probleme. Experten warnen, dass man nichts über die Haltbarkeit der digitalen Speichermedien wisse. Ceynowa aber sieht keine Alternative zur Digitalisierung. Die erlaube der Bibliothek nämlich, ihre Aufgabe zu erfüllen, also Informationen an die Nutzer zu geben. Über den Online-Katalog der BSB können sich die Leser inzwischen rund zwei Millionen Bücher im Volltext herunterladen. Ceynowa scheint regelrecht berauscht von den Möglichkeiten, die das bietet: „Stellen Sie sich vor, Sie können sich Texte aus Bibliotheken weltweit auf Ihren eigenen Laptop ziehen, sie auf einem Split Screen nebeneinanderlegen, sich parallel dazu mit anderen Experten in einem virtuellen Arbeitsraum austauschen – und das geht im ICE!“
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