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Wertvolles Gekritzel. Brief Adolph von Menzels an einen Freund. Er wird kommende Woche in Berlin versteigert.
© Antiquariat Stargardt

Kulturelle Bedeutung der Archive: Das Gedächtnis der Welt

Archive, Autographen, Auktionen: Je digitaler die Welt der Schrift sich entwickelt, desto kostbarer wird Papier als Speichermedium.

Kalifornien, Dezember 1950. In seiner Villa in Pacific Palisades, der Villa, die die Bundesrepublik Ende 2016 erworben hat, sichtet Thomas Mann seine Manuskripte. Der Schriftsteller ist 75 Jahre alt, sein Hauptwerk ist verfasst, die literarische Ernte, trotz Exil, enorm. Doch gewaltiger noch als die publizierte Menge an Schriften ist die Masse des Nichtpublizierten – Entwürfe, Redemanuskripte, Werknotizen.

An seine in New York lebende Tochter Monika schreibt Mann am 21. Dezember 1950 über dieses Papiergebirge: „Die Yale Library will nun alles, alles erwerben, überhaupt alles, und Mielein und Erika sitzen unter buchstäblich Tausenden von Kritzeleien, mit denen meine Schränke vollgepfropft waren, und die nun gesichtet und katalogisiert werden sollen, ein blödsinniges Stück Arbeit. Und dabei gibt es doch jetzt für Weihnachten zu tun.“ Mit Mielein ist Manns Ehefrau Katia gemeint, mit Erika seine Tochter und mit Yale die Beinecke Library der Universität Yale, der er schon ab 1938 Manuskripte gestiftet hatte. Sie hält bis heute einen Teil des Nachlasses.

Thomas Manns „Gekritzel“ hat seinen Preis. Zusammen mit einem Dutzend weiterer Briefe an Monika gelangen etwa diese Zeilen am 14. und 15. März über die Autographenhandlung Stargardt in Berlin zur Auktion: Mindestgebot 12 000 Euro. Mit Glück werden sie von einem der Archive erworben, was die Anbietenden oft am meisten erfreut. Nirgends bleiben Dokumente der Nachwelt so sicher erhalten, nirgends sind sie besser verfügbar als in gut geführten, öffentlich zugänglichen Archiven.

Archive sind das Fundament der Gegenwart

Manuskripte, Handschriften, annotierte Typoskripte oder Partituren sind Wertsachen. Je digitaler die Welt der Schrift sich entwickelt, desto kostbarer werden ihre analogen Zeugnisse. Kulturelle, wissenschaftliche, historische Dokumente modern oft lange in Schubladen oder zirkulieren unter Erben, ehe sie den Weg ins Archiv finden. Und Archive, das belegt ein jüngst erschienener, faszinierender Band, besitzen eine machtpolitische Funktion, die den wenigsten Zeitgenossen bewusst ist. Herausgegeben von Ulrich Raulff, dem Leiter des Marbacher Literaturarchivs, und Marcel Lepper, dem dortigen Leiter des Forschungsreferats wie der Arbeitsstelle Geschichte der Germanistik, versammelt das „Handbuch Archiv“ (Marcel Lepper/Ulrich Raulff (Hg.): Handbuch Archiv. Verlag J. B. Metzler, 290 Seiten, 69,95 Euro) aktuelle Essays zu Vergangenheit und Gegenwart der Institution Archiv, zu Nachlässen, Sammeln, Konservieren, zum Urheberrecht und zu Speichermedien. Als kollektives, institutionalisiertes Gedächtnis sind Archive das Fundament der Gegenwart, deren Produktionen wiederum in Archive eingehen. Doch keineswegs alle – sonst würde fast ein kleiner Kontinent zur Aufbewahrung besetzt. Nur rund fünf Prozent dessen, was eine Epoche an Dokumenten hervorbringt, so die Schätzung des International Council on Archives, landet überhaupt in Archiven. Dieses Material schafft das, was wir über die Vergangenheit „wissen“, sie ist die Basis für heutige Deutungen und Argumente. Archive haben sich, so Lepper und Raulff, im Lauf der Zeit verwandelt in den „schillernden Topos einer aktiven Wissensproduktion“. Befreit vom Staub sind sie Teil einer modernen Landschaft der Forschung.

Vom „Archiv zwischen Rache und Gerechtigkeit“ handelt ein Beitrag Raulffs, der darlegt, wie das Archiv von den antiken Anfängen dem prominenten Zweck dient, „ein Gedächtnis des Rechts“ zu bilden. „Dazu gehört nicht nur die Aufbewahrung und Überlieferung von Rechtsgrundsätzen, Gesetzestexten und Verordnungen, sondern auch die Sammlung von Zeugnissen der Rechtspraxis: Gerichts- und Verhörprotokolle, Urteilstexte, Zeugenaussagen, Expertisen und Beweisstücke.“ Am Beginn des Sammelns von Dokumenten standen juristische wie machtpolitische Motive. Wer verfügt über Ansprüche, Rechtstitel, Besitz, Positionen? Mit Brief und Siegel galt es das zu fixieren.

Nachlässe haben vier Feinde: Feuer, Wasser, Kriege - und die Erben des Verstorbenen

Wertvolles Gekritzel. Brief Adolph von Menzels an einen Freund. Er wird kommende Woche in Berlin versteigert.
Wertvolles Gekritzel. Brief Adolph von Menzels an einen Freund. Er wird kommende Woche in Berlin versteigert.
© Antiquariat Stargardt

Wie politische Macht und Macht über Archive Hand in Hand gehen, illustriert Raulff mit einer brisant aktuell klingenden Vignette zu Barack Obama. Der wählte im Mai 2009 als Ort für eine Rede zur nationalen Sicherheit die National Archives in Washington. Er bekenne sich zu großer Transparenz, verhieß der Präsident, werde aber Geheimmaterial, also „classified information“, „nicht als offenes Buch behandeln, in dem jeder militärische Gegner und jeder Terrorist lesen“ könne. Doch wolle er sich hierbei dem Kongress, den Gerichten unterstellen, denn jemand müsse immer auch „die Wächter bewachen“. Wenn er etwas freigebe für die Öffentlichkeit oder etwas geheim halte, werde er das stets begründen.

Ulrich von Bülow, der in Marbach mit dem Spezialgebiet Philosophie die Abteilung Archiv, Erwerbung, Bestandsbetreuung verantwortet, beleuchtet in seinem Beitrag über Nachlässe, wie „Ego-Dokumente“, worunter zum Beispiel Manns Briefe fallen, mit dem Zeitalter des Individualismus Bedeutung erlangen. Sie bilden zu staatlichen Akten „den Gegenpol auf der Gattungsskala“, halten die Herausgeber im Vorwort fest. Und sie können ein heikler Sammlungsgegenstand sein, bedroht von externen Faktoren, die Bülow lakonisch als „Katastrophen und Erben“ bezeichnet. Feinde des privaten Nachlasses sind Feuer, Wasser, Kriege – und Erben, die Dokumente „verstreuen, vernachlässigen oder vernichten“. „Schillers Erben gingen so weit, die raren Manuskripte zu zerschneiden, um sie an möglichst viele seiner Verehrer zu verteilen.“ Mit Goethe lieferten sie sich einen langen Rechtsstreit, als der die Korrespondenz mit dem verstorbenen Freund edieren wollte.

Wer Erinnerung behalten will, kann digitale Dienste nutzen

Ununterbrochen werden heute private Archive vererbt, volle Regale, Dachgeschosse, Keller, in denen Material lagert aus der Epoche des Papiers. Wohin damit? Wie verfahren, wenn einer weder Schiller heißt noch Thomas Mann?

Tausende Besitzer oder Erben von literarischen oder wissenschaftlichen Manuskripten, von Zeichnungen, Fotografien und anderem Material stehen überfordert vor solchen Fragen, auf die derzeit neue Antworten gefunden werden. Wollen die Erben Erinnerungen behalten und zugleich archivarisch bewahrt wissen, können sie Dienste zur Digitalisierung nutzen, wie etwa BiblioCopy in der Staatsbibliothek Berlin sie anbietet. Sind Briefe oder Fotos einmal digitalisiert, kann jeder Erbe eine eigene Kopie erhalten, können Originale unbeschwerter einem Archiv überantwortet werden. Archivarbeit allerdings ist zeitraubend und aufwendig. Staatsarchive oder Marbach können kaum kiloschwere Stapel unbekannten Materials sichten, um das Wichtige herauszufiltern.

Hier leisten Privatarchivare wie der Kunsthistoriker Christoph Geissmar-Brandi, der sich auf dem Gebiet spezialisiert, die unerlässliche Vorarbeit. Die Passion des 59-jährigen Wissenschaftlers für Archive entstand schon während der Promotion bei Horst Bredekamp, als Geissmar-Brandi in der Lessing-Bibliothek in Wolfenbüttel forschte. Privatarchivare wie er trennen die Spreu vom Weizen, bei Bedarf auch das Private vom Wissenschaftlichen, und liefern Eigentümern wie Archiven Grundlagen zur Entscheidung, was wohin wandern sollte. Andere Fachleute wiederum sind speziell auf das Entziffern der ausgestorbenen Sütterlin-Schrift spezialisiert, die Nachkommen oft nicht mehr lesen können.

Seit Kurzem entdecken Archive jetzt sogar die digitale Crowd-Arbeit. Rund 7000 geschulte Freiwillige assistieren der amerikanischen Smithsonian Institution beim Transkribieren handschriftlicher Blätter aus Tagebüchern, Karteien, Notizheften, Briefen und Fotoalben. Teils besteht die wachsende Community aus wahren Aficionados, die sich untereinander vernetzen und Tipps austauschen. Nicht nur das „Handbuch Archiv“ belegt: Die Archive der Gegenwart speichern Vergangenes für die Zukunft, wofür sich mehr und mehr Zeitgenossen begeistern.

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