Tag der Buchliebhaber: Warum wir süchtig nach Literatur sind
Sie lesen im Auto, streiten über Eselsohren, bestrafen schlechte Romane: Diese Menschen können ohne Bücher nicht leben. Sechs Süchtige erzählen. [Archiv]
DICKE KRIMIS
Silvia Teske, Zugbegleiterin, 54
Ich lese selbst im Auto. Mein Mann fährt, sobald ich sitze, fange ich an. Dann kriege ich nichts mehr mit. Als meine Schwägerin mit mir hinten saß, auf dem Weg zu einem Bücherhotel, habe ich gesagt: Unterhalten können wir uns später, in der Gaststätte. Jetzt wird gelesen.
Ich hab immer ein Buch dabei! Ohne geh ich nicht aus dem Haus. Als Zugbegleiterin fahr ich ja kreuz und quer durch Deutschland, da habe ich Zeit in den Pausen oder wenn wir im Hotel übernachten. Ich lese richtige Bücher, gedruckte, ich muss die in der Hand haben. Wenn ich die Plastikverpackung aufmache und das riecht so schön nach Holz – mmh!
Seit der Kindheit schmökere ich gern, mein zweiter Mann auch. Deswegen passen wir so gut zusammen. Andere gehen aus, wir lesen. Querbeet, Krimis vor allem, historische Romane, Herz und Schmerz, Bücher, die auf Sylt spielen, wo wir oft im Urlaub waren. Das ist schön, wenn man was wiedererkennt.
Ich krieg meine Krimis an dem Tag, an dem sie rauskommen
Die Handlung ist das Wichtigste. Wenn es so richtig spannend ist, mach ich im Haushalt nur das Notwendigste, lese auch bis nachts um zwölfe, bis ich fertig bin. Viele sagen, man soll sich, wenn man nicht einschlafen kann, ein Buch nehmen – aber da werde ich ja erst recht munter! Früher hat die Lektüre mich im Schichtdienst wach gehalten.
Von unserer Buchhändlerin bekommen wir die Verlagskataloge, da können wir schön in Ruhe ankreuzen, was wir wollen, und ich krieg meine Krimis an dem Tag, an dem sie rauskommen. Oder einen früher. Patricia Cornwell, Karin Slaughter, Volker Kutscher – die muss ich alle gleich haben, das ist wie ’ne Sucht.
Die teuren, dicken Bücher nehme ich mir als Erstes vor, die verkauft mein Mann dann auf eBay, die sind ja wie neu. Andere gebe ich weiter oder tausche sie. Ich gucke mir ein Buch ja nicht ein zweites Mal an. Nur einen Krimi, den würde ich gern noch mal lesen. Da hat eine Kommissarin ihr Kind geopfert, um einen Mordfall aufzuklären. Das fand ich so schlimm.
GESCHICHTSBÜCHER
Linus Labonte, Auszubildender, 23
Als ich klein war, habe ich tierisch viel gelesen, im Urlaub sieben Schinken in zwei Wochen. Irgendwann hat sich das verloren, da hat man anderes gemacht, ist mit Freunden rausgegangen. Und vor zwei Jahren fing das wieder an. Weil ich nur noch am Handy hing, auf Facebook war. Ich hab gemerkt, ich muss was dagegen tun. Und jede Minute, die ich gelesen habe, konnte ich halt nicht in den sozialen Netzwerken sein. Im ersten Jahr musste ich mir die Fähigkeit erst wieder aneignen, mich zu konzentrieren.
Angefangen habe ich mit den Klassikern, die ich bei meinen Eltern gefunden habe, Stefan Zweig, Heinrich Böll, Henning Mankell. Jetzt suche ich eher Sachbücher zu Themen, die mich interessieren. Neulich habe ich „Was ist Rassismus?“ gelesen, eine Geschichte von den Griechen und Römern bis heute. Ich wollte besser Bescheid wissen. Jetzt, quasi als Fortsetzung, „Eugenik und andere Übel“. Ich will ja später mal Psychologie studieren, mit Schwerpunkt politische Psychologie. Und möchte mich an Gesprächen beteiligen, nicht ahnungslos dastehen.
Nach einem langen Arbeitstag ist das manchmal schon ein bisschen quälend; wenn ich dann eine Viertelstunde, 20 Minuten schaffe, bin ich schon ganz zufrieden. An einem 800-Seiten-Buch sitze ich gern mal zwei Monate. Da werde ich unruhig. Deswegen suche ich eher welche, die 150 bis 200 Seiten haben. Das ist schön, es ins Regal stellen zu können, zu den anderen – ein ganz anderes Erfolgserlebnis, als eine Dokumentation auf Youtube zu sehen.
Man muss sich ja wirklich auf die eine Sache konzentrieren, nimmt, im Unterschied zu Recherchen im Internet, bewusst etwas auf. Das gibt mir auch ein ganz anderes Körpergefühl. Ich mache viel Sport, Hockey. Aber wenn ich mal wieder ein paar Tage exzessiv am Handy oder Computer war, habe ich abends, wenn ich im Bett liege, so ein kraftloses Feeling und bin gleichzeitig sehr angespannt. An Tagen, wo ich gelesen habe, bin ich deutlich ruhiger. Das war es auch, was mich gehalten hat. Es ist nicht unbedingt so, dass es mir so viel Freude machen würde – aber es hat ganz viele positive Wirkungen auf mich.
MODERNE KLASSIKER
Antonin Brousek, Amtsrichter, 54
In der Pubertät habe ich „Mann ohne Eigenschaften“ gelesen und gleichzeitig Micky Maus. Meine Eltern fanden das ganz schrecklich. Aber das eine schließt das andere ja nicht aus, das ist zweierlei. Im Studium dann – das war grauenvoll, so, als würde ich in die Fabrik gehen – war die Lektüre Flucht und Belohnung. Ich hab fleißig gelernt, von 9 bis 19 Uhr, und fünf Minuten nach sieben habe ich mir gesagt: So, jetzt kannst du was vernünftiges lesen. Damals habe ich Proust entdeckt. Ich hatte das Gefühl, ich brauche was, wo ich hingehen und auch bleiben kann, eine Gegenwelt. Mit einem 180 Seiten langen Kriminalroman wäre ich nicht froh geworden. Bei Proust wusste ich, du brauchst Jahre, bis du das durch hast. Das fand ich beruhigend.
Ich geh immer mit einem Buch ins Gericht, damit ich in der Pause lesen kann. Je älter ich werde, desto seltener kommt es aber vor, dass mich ein Buch so packt, dass ich nicht aufhören kann. Kürzlich ist mir das wieder passiert, mit Geschichten über Auschwitz von Tadeusz Borowski. Die hauen einen völlig um.
Man sollte Romane nicht kein zweites Mal lesen
Jetzt habe ich den sogenannten englischen Proust entdeckt, Anthony Powell. Den fand ich so umwerfend, dass ich sofort alle zwölf Bände vorbestellt habe. Gerade habe ich den siebten bekommen, den hab ich extra für die Osterferien aufgehoben, als besonderes Schmankerl. Das ist genau das, was mir am besten gefällt: Literatur, die Gesellschaften ganz präzise beschreibt. Psychologisches interessiert mich nicht so. Deswegen lasse ich auch Handke liegen, während meine Frau ein Superfan ist. Ich denke nicht über die Gefühls- und Geisteslagen von Menschen nach, brauche auch keine Handlung. Ich will wissen, wie Gesellschaften funktionieren. Das stellt Powell ganz toll dar.
Ganz selten lese ich Romane ein zweites Mal. Das sollte man auch nicht, meist macht man sich was kaputt. So ist es mir mit Heimito von Doderer ergangen, in meiner Jugend hat er mich so beeindruckt, jetzt kam er mir parfümiert vor. Früher habe ich mir gesagt, wenn ich erwachsen bin, kaufe ich mir a) so viele Jeans und b) so viele Bücher, wie ich möchte. Das mache ich beides, also ist es okay, auch wenn ich mich oft ärgere und denke, das war rausgeschmissenes Geld.
Ich bin auch ein sehr schneller, oberflächlicher Leser – meine Frau macht sich immer Eselsohren und Bemerkungen in die Bücher. Wir haben unsere Bibliotheken streng getrennt. Ich will nicht ein Exemplar, das sie schon gelesen hat, mit den Anstreichungen und Eselsohren. Sie nimmt sich gern eins von meinen, und wenn sie es richtig gut findet, kauft sie sich das auch noch mal. Wenn mir ein Buch gar nicht gefallen hat, schmeiße ich es sofort weg. Als Strafe, um es loszuwerden. Das hat so eine kathartische Wirkung.
Ob die Lektüre auf die Sprache abfärbt?
LEBENSHILFE & BELLETRISTIK
Claudia Esch-Kenkel, Theaterfotografin, 66
In den letzten fünf Jahren habe ich das Lesen für mich entdeckt. Dicke Bücher, dünne Bücher, querbeet, am liebsten schöne, gebundene. Das hat auch was mit dem Alter zu tun – die Bücher sind so eine Art Trostpflaster. Ich kann ja den ganzen Tag in Prenzlauer Berg unterwegs sein, ohne Leuten zu begegnen, die so alt sind wie ich. Und wenn, dann ist es die Oma aus Süddeutschland, die zu Besuch ist. Deswegen habe ich das Buch „Stilvoll älter werden“ von Susanne Mayer mit so großem Genuss verschlungen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ältere Autoren, vor allem Autorinnen, mir mehr liegen, auch wegen der Sprache. So wie beim „Scheik von Aachen“ von Brigitte Kronauer, für den Leipziger Buchpreis nominiert. Müssen Sie unbedingt lesen, grandios! Eine tolle Sprache, so präzise, und die Dialoge, das ist was ganz Besonderes. Die ist ja noch älter als ich. Warum hab ich mein Leben lang nicht so viel gelesen! Einfach, weil ich keine Zeit hatte. Früher war ich viel mehr unterwegs zum Fotografieren, dann der Haushalt, das Kind … Ob die Lektüre auf meine Sprache abfärbt? Meine Enkeltochter hat mal gesagt, du sprichst so komisch. Ich glaube, ich rede normal.
FANTASY
Carsten König, Aussteiger 48
Meine Mutter hat immer gesagt: Traue nie einem Menschen, der kein Buch liest. Das habe ich mir zu Herzen genommen. In den letzten vier Jahren habe ich weit über 300 Bücher gelesen. Hauptsächlich Fantasyromane, aber auch mythologisches mit historischem Hintergrund. Jetzt studiere ich gerade Runen, die Magie, die da dahintersteckt.
Bei Büchern ist alles nicht so vorgegeben, die Details kann man sich selber in seiner Vorstellung zurechtzimmern – Kopfkino. Mein Lieblingsbuch ist „Herr der Ringe“, das hab’ ich bestimmt schon 15 Mal gelesen. Da ist unglaublich viel drin von dieser nordischen Mythologie.
Ich bin in Schwaben aufgewachsen und nach Berlin gekommen, um unsere Hauptstadt kennenzulernen und ohne Geld zu leben. Seit vier Jahren wohne ich jetzt auf der Straße und gehe ganz andere Wege. Ich schreibe auch Gedichte. Die verschenke ich an Leute, die mir immer mal wieder Geld geben, einfach so, oder den Buchhändlern hier am Savignyplatz, die bringen mir jeden Tag einen Kaffee und sind richtig freundlich zu mir.
Die meisten Bücher kriege ich geschenkt. Hier ist sowieso eine Bücherecke, und eine Schule, und die sind alle richtig froh, dass hier einer sitzt und liest und nicht Wodka säuft oder so.
SERIEN
Mathilde, Schülerin, 9
Am liebsten lese ich da, wo es ein bisschen weicher ist, auf dem Sofa oder Bett. Abends darf ich bis um acht. Aber wenn „Harry Potter“ ganz spannend ist, darf ich auch weitermachen, bis es wieder gut ist, sonst könnte ich nicht einschlafen. Den fünften Band soll ich erst lesen, wenn ich zehn bin, sagt Mama, im fünften wird’s ein bisschen härter. Deswegen mach ich jetzt ’ne Pause , mit „Liliane Susewind“. Langeweile hab ich eigentlich nie. Ich hab gerne dicke Bücher, Serien, weil ich möchte, dass die Geschichte weitergeht. „Harry Potter“, „Das magische Baumhaus“, „Die Schule der magischen Tiere“ … Ich mag es, wenn eine Person nicht alles allein schafft, sondern Unterstützung von anderen braucht. Wenn Leute einander helfen. Was ich gut finde: dass man in einer anderen Welt ist und nicht hier. In Büchern bin ich lieber woanders.
Stellen, die ich lustig finde, merk’ ich mir, die sag ich auch vor mich hin. Dann muss ich drüber lachen und keiner weiß, warum. Als Erstes lese ich oft den letzten Satz. So weiß ich, dass Harry nicht stirbt, und bin beruhigt. Ich mag’s nicht, wenn es kein Happy End gibt.
Mitarbeit: Marcel Kunzmann
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