Berlin-Krimi: Der Griff zum Grabendolch
Volker Kutschers Kriminalkommissar Gereon Rath erlebt in seinem fünften Fall Adolf Hitlers Machtübernahme mit. Im Berlin von 1933 entsteht eine Atmosphäre der Beklemmung, der Bedrohung, der Angst.
Es wird eng für Gereon Rath. Berlin im März 1933 – das ist nicht mehr ganz die Stadt, in der der Kommissar aus Köln die große Freiheit leben kann. Der Mann aus der Mordkommission des legendären Kriminalrats Ernst Gennat hat für Politik nicht viel übrig. Doch wie pöbelnde SA- Leute der Stadt ihre Liberalität austreiben, das geht auch an Gereon Rath nicht vorüber. An seiner sehr wohl politisch denkenden und republikanisch fühlenden Freundin Charlotte schon gar nicht.
Volker Kutscher lässt seinen Gereon Rath im fünften von geplanten acht Fällen spüren, wie es sich anfühlt, in Hitlers neuem Deutschland zu leben und zu arbeiten. Der Kriminalroman „Märzgefallene“ spielt in den Wochen um den Reichstagsbrand in der Nacht auf den 28. Februar 1933. Hitler amtierte seit einem Monat als Reichskanzler – schon war die Polizei in den Händen gefügiger Nationalsozialisten.
Kommissar Rath wird abgezogen von einem Mordfall, der in der etwas heruntergekommenen Reichshauptstadt ohnehin kaum jemanden aufgeregt hat. Unter einer Hochbahntrasse ist ein Obdachloser erstochen worden. Im Weltkrieg hatte er beide Beine verloren, im Elend der frühen Weimarer Jahre war er einer der vielen, die keine Perspektive mehr hatten, nur eine Zukunft auf der Straße.
Wie Kutscher die Atmosphäre im Berlin der versinkenden Weimarer Republik und der obsiegenden Nazis beschreibt, das hat Dichte, Gefühl, Bewegung. Es macht beklommen und hebt ihn über die Konkurrenten hinaus, die ihre Ermittler ebenfalls in eine Zeit entsenden, von denen viele Leser offenbar nicht genug erfahren können. Rath jedenfalls soll, wie die meisten seiner Kollegen, in der „politischen Abteilung“ unter Anleitung Hitler-höriger Beamter mit Parteibuch Kommunisten verhören. Der Reichstagsbrand war, das wussten Hitler und seine Minister gleich, nicht von einem Einzeltäter gelegt worden – er war das Ergebnis einer kommunistischen Verschwörung. So hatten Rath und Kollegen Mitglieder der kommunistischen Partei derart in Serie zu vernehmen, dass sich die Nicht-Nazis unter den Polizisten fragten, ob es überhaupt noch frei lebende Linksradikale gebe.
Bald aber kommt Bewegung in den Obdachlosen-Fall. Volker Kutscher erzählt am Schicksal des verkrüppelten Soldaten entlang ein weiteres deutsches Geschichtskapitel, wie schon in den vorangegangenen Romanen. Diesmal geht es direkt um die Zerstörungen, die der Erste Weltkrieg in einer ganzen Generation junger Männer angerichtet hat, um nur von den Folgen auf deutscher Seite zu sprechen. Rath findet heraus, dass der tote Ex-Soldat zu einem besonderen Kommando gehörte – und auch andere Mitglieder dieses Trupps sterben plötzlich. Alle werden mit einem sogenannten Grabendolch erstochen, einer Waffe der Frontsoldaten für den Nahkampf.
Der Titel des Romans spielt auf eine Kommandoaktion 1917 an, bei der eine Spezialtruppe auf dem Rückzug vor den Franzosen ganze Dörfer zerstörte und mit Sprengfallen versah – ein moralischer Absturz zumindest aus der Sicht preußischer Offiziere und ehrbarer Soldaten.
Spannend sind die „Märzgefallenen“ nicht allein wegen der Mordserie und der Verwicklung eines Straßenjungen, dessen sich Raths Freundin Charlotte angenommen hat. Genauso spannend – über den Krimi-Plot hinaus – sind Raths und Charlottes Schwierigkeiten mit dem braun eingefärbten Polizeiapparat. Was beiden mal die Heimat war, das Wertesystem, der Aktionsraum, wird für beide bedrohlich. Dem kann man sich nicht mal im Party-Berlin von heute entziehen.
— Volker Kutscher: Märzgefallene. Gereon Raths fünfter Fall. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 608 Seiten, 19,99 Euro.
Werner van Bebber
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