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Cool. Valerie Wendon und ihr Bruder Ian gehen nicht wandern oder Skifahren. Sie fahren lieber Auto: BMW, immer das neueste Modell.
© foto-Sylvy.com

Hotel Singer in Tirol: Warum Stammgäste kostbar sind

Seit 1975 reisen die Wendons jedes Jahr ins Hotel Singer, sitzen am selben Tisch, genießen dieselbe Aussicht und nehmen ihr Roastbeef gern mit Traubensaft.

His Lordship und His Ladyship!, begrüßt Herr Thomas – mit Pokerface – die späten Gäste, und führt die beiden an ihren Stammsitz: Fensterplatz am Rand. Wie immer sind Ian und Valerie Wendon auf den letzten Drücker zum Dinner gekommen, wie immer wird sie das Menü über den Haufen werfen und ihr Bruder einfach folgen. Wie immer wird sie sich Traubensaft zum feinen Roastbeef bestellen und er eine Sprite. Dass sie das Fleisch durchgebraten haben wollen, müssen sie nicht extra sagen. Herr Thomas weiß das.

Die Wendons haben es wieder geschafft. Sind in einem Rutsch von Cornwall nach Berwang in Tirol gefahren, Samstagnachmittag los, Sonntagnachmittag da. Wie könnt ihr nur, hat eine Freundin die Geschwister gestern noch gefragt, immer derselbe Ort, die lange Fahrt! Aber das machen sie doch seit Jahrzehnten schon. Was viele ihrer Freunde nicht verstehen. So wie die beiden diese nicht begreifen. Wie können sie denn deutsche Autos fahren und auf Lidl schwören, und für den Brexit sein? Die Wendons sind überzeugte Europäer. Und ebenso überzeugte Stammgäste im Hotel Singer.

Am Morgen nach ihrer Ankunft, ihr zweiter Besuch in diesem Jahr, sitzen die beiden unter knallblauem Himmel auf der Terrasse. Beide in den 70ern, mit kunstvoll drapierten Frisuren, sie die große Schwester, fünf Jahre älter als er. Ian mit Bügelfalte in der Jeans, Valerie mit fast diabolischem, schräg nach oben gezogenem dünnem Augenbrauenstrich. Sie schlank, er lang und hager. Er im rotweißkarierten Hemd, sie in blauweiß karierter Bluse und riesiger Sonnenbrille, hinter der sie sich versteckt. Anfangs ein wenig reserviert, tauen sie im Laufe des Tages auf.

„Manchmal macht es einfach Klick“

Im August 1975 kam Ian Wendon zum ersten Mal nach Berwang. Reiner Zufall, er hatte sich Freunden angeschlossen. Er war vom ersten Augenblick an entzückt. Von der persönlichen Atmosphäre des Familienbetriebs, von den schönen Bergen rund um die Zugspitze und von den Kuhglocken, die er am ersten Morgen beim Aufwachen hörte. „Manchmal macht es einfach Klick.“

Im nächsten Frühjahr kehrte er mit seiner Familie zurück, Vater, Mutter, Schwester. Die Eltern sind tot, die Geschwister kommen weiter zwei-, dreimal im Jahr, immer eine Woche lang. Stammgäste, wie jedes Traditionshotel sie hat. Für ihre Treue bekamen sie Abzeichen in Bronze, Silber, Gold.

Selbst wer nicht wüsste, dass Berwang in Tirol liegt, würde es schnell merken. Traditionelle Bauten, viel Holz, viel Ornament, viele Geranien. Man sieht dem Dorf ein bisschen an, dass es bessere Zeiten hatte. Rita, Christl, Annemarie, so heißen die Herbergen hier. Das Geschenkstüberl hat schon vor zwei Jahren dichtgemacht. Die Motorradfahrer werden auf Plakaten gebeten, leiser zu fahren. So ganz scheint die Botschaft nicht angekommen zu sein, sie lieben die kurvige Strecke. Erst am Abend werden die Kuhglocken das Lauteste sein, was man hört.

Einmal gesehen, nie vergessen

Die Almwiesen rundum sehen wie Teppiche aus, so weich. Man läuft einfach aus dem Dorf raus und ist schon mittendrin in der Tiroler Bergwelt. Der Bach plätschert, die Hühner gackern. Ob die Wendons wandern gehen? „Das sollten wir. Aber wir tun’s nicht.“ Die Berge genügen ihnen als Kulisse. Sie fahren auch nicht Ski. Schwimmen nicht im Pool. Schwitzen nicht in der Sauna. Lassen sich im Spa nicht mit Zirbelöl massieren.

Die Wendons fahren Auto. Genauer gesagt: BMW, immer das neueste Modell. Der Garagenplatz gehört so selbstverständlich zu ihrem Arrangement wie die Zimmer im zweiten Stock. Die Geschwister lieben die Beständigkeit. Beide haben für British Gas gearbeitet, schon der Vater war Gasmanager. In Cornwall sind sie zur Schule gegangen, kehrten später zurück.

Traditionsreich. Das Singer ist ein Familienbetrieb in der dritten Generation.
Traditionsreich. Das Singer ist ein Familienbetrieb in der dritten Generation.
© Hotel Singer

Nicht, dass sie nicht schon anderes von der Welt gesehen hätten. In Spanien und an der französischen Riviera sind sie gewesen, in den Dolomiten, Sorrent und Dänemark. Aber inzwischen ist ihnen Tirol Welt genug. „Die Leute sind so besessen vom Ferienmachen.“ Das müssen die Geschwister nicht, sie leben ja dort, wohin andere in Urlaub fahren, inmitten idyllischer Fischerdörfer, hübscher Cottages.

Mit dem Singer haben sie ein zweites Zuhause, wo jeder sie beim Namen kennt – „once seen, never forgotten“ sagt Ian –, nur eben in den Alpen statt am Meer. Und ein bisschen komfortabler. Das Hotel gehört zu Relais & Chateaux, der internationalen Vereinigung von Luxusherbergen. Daheim essen die Wendons mittags gebackene Bohnen auf Toast, hier ein Drei-Gänge-Menü. Sie sind die einzigen Gäste, die noch Vollpension buchen.

Weniger Barock, mehr Moderne

Es gefällt den beiden, dass Veränderungen dezent daherkommen. Für Hoteldirektor Florian Singer, dessen Großvater das Haus 1928 gegründet hat, bedeutet das einen ständigen Balanceakt zwischen Bewahrung der Tradition und nötiger Erneuerung, dem Anlocken neuer Gäste, ohne die alten zu verprellen. Die Eingangshalle etwa, die sich über die offene Treppe in den ersten Stock erhebt, ist für Minimalisten schwer auszuhalten. So viel schmiedeeiserne Dekoration, so viel Holzstube. An den Lampen und Teppichen wollen sie noch was machen. Aber die Halle ist auch ihr Markenzeichen.

Florian Singer, der die Wendons von klein auf kennt, und seine Frau Christina haben angefangen, die Zimmer zu renovieren. Weniger Barock, mehr Moderne. Schlichter, natürlicher, heller. Dort, wo die Paare früher zum Fünf-Uhr-Tee tanzten, und die Skilehrer ihren Schülern zuprosteten, wurden jetzt neue Suiten eingerichtet. Durch das Spa ist inzwischen auch im Sommer mehr los.

Die Wendons interessiert das Spa nicht. Ob sie schon Pläne haben für die nächsten Tage? Nö. Wobei – auf alle Fälle werden sie nach Oberammergau fahren. Weil sie es schon immer gemacht haben. Jedes Mal. Auf das Ritual verzichten? Lieber nicht, Valerie Wendon hat das Gefühl, das würde ihnen Unglück bringen. Manchmal fahren sie auch nach Innsbruck oder Garmisch, Salzburg oder Liechtenstein. „Neuschwanstein kennen wir wie unsere Westentasche.“ Wahrscheinlich wird Valerie Wendon wie jedes Mal zum Friseur gehen. Die beiden wissen, dass die Friseuse ein Kind bekommen hat, so wie sie wissen, dass der Rudi, den sie immer im Dorf getroffen haben, am Hirntumor gestorben ist.

Auf 1300 Meter trinkt man andere Weine

Anders als in Cornwall müssen sie sich in Berwang nicht um Katzen oder sonst was kümmern, genießen es, lange im Bett zu bleiben. „Wir sind zu faul zum Aufstehen.“ Die Zimmermädchen wissen genau, wann die Geschwister zum Frühstück gehen, auf den letzten Drücker, dann machen sie ihre Räume. Die Mitarbeiterin, die früher fürs Housekeeping zuständig war, kommt sie immer noch im Hotel besuchen. Viel reden können sie nicht, sie beherrschen die Sprache des anderen nicht, aber sie finden, es reicht. Mr. Wendon hat mal ein paar Deutschstunden genommen. „Haben Sie einen Tisch für zwei?“, kann er sagen.

Der Balanceakt ist nicht immer leicht: neue Gäste anzulocken, ohne alte zu verprellen.
Der Balanceakt ist nicht immer leicht: neue Gäste anzulocken, ohne alte zu verprellen.
© Hotel Singer

Dabei müssen sie das Herrn Thomas gar nicht fragen. Der Restaurantleiter ist seit 25 Jahren im Haus. Eigentlich wollte er nur eins bleiben. Er kam im Dunkeln, kurz vor Weihnachten an. Als er am nächsten Morgen den Schnee so glitzern sah, „da hab ich mich in die Gegend verliebt“. Früher, erzählt Herr Thomas, haben die Leute gefeiert bis vier in der Nacht. „Heute sind sie sehr bedacht aufs gute Leben.“ Gutes Essen, Wellness. „Dadurch hat sich das Publikum verändert.“ Es kommt kürzer, drei Tage statt drei Wochen, aber öfter.

Herr Thomas ist ein Oberkellner alter Schule. Sitzen zwei Damen am Tisch, bedient er immer zuerst die ältere. Mit den Franzosen, die ein Fünftel der Gäste ausmachen, scherzt er auf Französisch, mit den Belgiern auf Flämisch. Wenn er mal nicht so lustig drauf ist, fragen die Gäste gleich: Was ist denn los, Herr Thomas? Dann antwortet er mit einem Scherz: „Mittwochs ist ein ernster Tag in Berwang.“ Am Abend vor dem Dienst hört der 47-Jährige, dem die modische Brille immer wieder die Nase runterrutscht, die Nachrichten – er muss sich doch mit den Gästen unterhalten können. Der Sommelier hat auch schon französische Gäste davon überzeugt, dass man österreichische Rotweine durchaus trinken kann. Darauf ist er stolz. Er weiß, dass man hier oben, auf 1300 Meter, andere, gereiftere Tropfen trinken sollte als auf 600 Metern.

„Nichts scheint hier ein Problem zu sein“

Zum Beispiel einen Chardonnay aus Niederösterreich zum Risotto mit grünem Spargel und Sommertrüffelschaum. Der passt auch zum Himbeersorbet in Crumble. Nur halten die Wendons sich nicht an das Menü. Vor zehn Jahren hat Valerie zu ihrem Verdruss einige Allergien entwickelt. Das ist der Sekretärin a.D. ein bisschen peinlich, aber die Extrawurst genießt sie auch. Zum Nachtisch bestellen die Geschwister statt der vorgesehenen Desserts ihre geliebten Mehlspeisen, Pflaumen- oder Marillenkuchen, Apfel- oder Topfenstrudel. „Nichts scheint hier ein Problem zu sein.“

Das Stammgastgefühl stellt sich selbst bei Singer-Debütanten schnell ein. Für die ganze Zeit des Aufenthalts sitzt man am selben Tisch, morgens wie abends. Jeder wird von den Kellnern, die Tracht tragen, mit Namen angeredet. Zweimal in der Woche trifft sich der Hoteldirektor mit seinem Team, um zu besprechen, welche Gäste sie erwarten, was diese mögen (ein zweites Kopfkissen) und was nicht (laute Kinder am Nachbartisch), und dass die Wendons die alten Liegestühle auf den Balkon gestellt kriegen. Bevor sie abreisen, buchen die beiden den nächsten Besuch.

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