Nachtlesungen: Warum Literaturevents das neue Ausgehen sind
Thomas Melle und Ronja von Rönne lesen, Campino und Heike Makatsch hören zu. Lesungen boomen, nicht nur in Berlin.
Das Borchardt in der Französischen Straße ist nicht irgendein Schnitzelrestaurant. Es gilt als „Kantine der Republik“, „Wohnzimmer der Stars“, Mythos. Barack Obama, George Clooney und Natalie Portmann haben sich schon blicken lassen. Da fällt die majestätische weiße Marmortreppe, die aus dem Hausflur nach oben in eine 250 Quadratmeter große Jahrhundertwende-Wohnung führt, den meisten gar nicht auf.
Alle drei Monate schiebt sich am Donnerstagabend eine Schlange aus Medienleuten, Musikszene und Literaturbetrieb erwartungsvoll die Stufen hoch. Am Writers’ Thursday gibt’s in der ehemaligen Privatwohnung des Firmengründers August W. Borchardt den heißen Stoff der Gegenwartsliteratur: Dann lesen dort Thomas Melle, Ronja von Rönne, Angelika Klüssendorf oder Sven Regener aus ihren neuen Büchern.
Sobald man die Türschwelle übertritt, ist das Licht schummrig, Zigarettenrauch hängt in der Luft. Überall drängen sich die Gäste, im Billardzimmer, der Bibliothek mit den hohen, dunklen Regalen, an den Bars, vorm Klo. Die Atmosphäre schwebt zwischen britischem Herrenclub und WG-Party. Man trägt Berliner Schwarz, flache Doc Martens und entblößte Knöchel.
Sex, Drogen, Gewalt und Musik
Wenn die Lesung beginnt, kommen alle im großen Salon mit seinen pompejanisch-rot getünchten Wänden, den Kassettendecken und den großformatigen Tillmans-Fotografien zusammen. Sven Regener, Autor der Frank-Lehmann-Romane und Frontmann der Band Element of Crime, liest mit nordischem Slang und dicker schwarzer Brille aus seinem jüngsten Band „Wiener Straße“. Die Figuren sind verpeilt wie üblich, aber der Kreuzberger Kontaktbereichsbeamte hat alles im Griff: „Das war so einer, da hab’ ich ein Gespür für. Die bestellen einen Tee, am Ende noch mit Zitrone, und dann nehmen sie den Teelöffel und machen sich da die Drogen drin heiß. Auf eurem Klo!“
Lesungen boomen, nicht nur in Berlin, wo Lesebühnen und Poetry Slams schon lange populär sind. Inzwischen finden sie in ganz Deutschland statt, auch in Form von Literaturfestivals. Es gibt nicht nur die LitCologne, sondern auch die LitRuhr, die Hamlit, die Lit:potsdam. Allein auf der Leipziger Buchmesse gab es in diesem Jahr 3600 Veranstaltungen und Lesungen an 550 Orten – im Zoo, in Museen oder Anwaltskanzleien.
Beim Writers’ Thursday lesen sechs Autoren hintereinander, jeder 15 Minuten lang. Der 54-jährige Journalist und Autor Rainer Schmidt hat das Format 2015 erfunden. Er ist groß, hat silberne Haare, trägt ein schwarzes Hemd zu Jeans und Turnschuhen. Die meisten Bücher, die er auswählt, kreisen um Sex, Drogen, Gewalt und Musik, oft blitzen die alten und neuen Hotspots der Stadt darin auf, das Berghain, das Cookies, das Kreuzberg der 80er. „Hohe Wirklichkeitssättigung“, nennt er das. Schmidt, der früher viel in der Techno-Szene unterwegs war, schenkt sich jedes Palaver mit den Autoren, stellt sie nur in aller Kürze vor; aber selbst das scheint ihm zu lange zu dauern. Er spricht immer schneller, überschlägt sich fast, bis ein finales: „So!“ aus ihm herausbricht.
Mehr Nachtleben als Bildungsprogramm
Im Gespräch sagt er: „Ich will einen schnellen Wechsel von Stimmen und Stimmungen.“ Ein Panorama der Möglichkeiten der Literatur, so wie in einer Clubnacht ein DJ auf den nächsten folgt. Stokowski. Fricke. Klüssendorf.
Sobald der letzte Satz gelesen ist, strömt alles an die Bars. Die schlanken Flaschen, pardon Flakons, der Edelbiersorte Noam Bavaria Berlin und Aperol-Spritz-Gläser gehen über den Tresen. Heike Makatsch läuft vorbei, ein Stück weiter lehnt Campino an der Wand. Es ist jedes Mal gerappelt voll, 200 von Schmidt geladene Gäste finden Platz. Um teilzunehmen, kann man sein Glück mit einer Anfrage an ihn über Facebook versuchen.
Genauso hatte Schmidt sich das vorgestellt. Er wollte keine reine Buchpräsentation, sondern ein Event, mehr Nachtleben als Bildungsprogramm. Nicht zufällig hat er den Donnerstag dafür gewählt, den alten Berliner Ausgehtag. „Wenn alles klappt, ist das genauso euphorisierend wie eine durchtanzte Nacht“, sagt er.
Das hier ist seine Party, die soll auch zünden. Bevor es losgeht, ist er jedes Mal ziemlich nervös. Dann sitzt er unten im Borchardt – und isst Suppe. Von den berühmten Schnitzeln kriegt er keins runter.
Dabei sind die 200 Gäste noch eine überschaubare Zahl. Autoren wie Daniel Kehlmann oder Marc-Uwe Kling füllen mittlerweile das Tempodrom. Das hat mehr als 3000 Plätze und wird sonst von Acts wie Kylie Minogue oder DJ Ötzi bespielt.
Immer weniger Bücher werden verkauft
An der Faszination für das Medium Buch allein kann das nicht liegen. Die Zahl der Buchkäufer schrumpft von Jahr zu Jahr: In den vergangenen fünf Jahren hat der Buchhandel mehr als sechs Millionen – immerhin 18 Prozent – verloren. Am stärksten ist der Verlust in der Gruppe der 20 bis 49-Jährigen. Nach einer Erhebung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels fließt ein Großteil der Aufmerksamkeit dieser Generation in andere Medien ab.
In der Studie haben die Befragten angegeben, dass sie lieber mit anderen zusammen Netflix-Serien schauen oder Games spielen. Wenn das nicht klappt, wollen sie sich zumindest darauf verlassen, dass sie am nächsten Tag darüber reden können. Das haut auch meistens hin, weil zum Beispiel Serien allgemeiner Gesprächsstoff sind.
Aber Bücher? Die sind schon längst nicht mehr talk of the town. Dass die Menge geschlossen dem Erscheinungstag eines Bandes entgegenfieberte und ihn parallel verschlang, hat man wohl zum letzten Mal bei Harry Potter gehört. Doch das Bedürfnis, sich auszutauschen über das, was man gelesen hat, ist ja noch da. „Anschlusskommunikation“ nennen das die Wissenschaftler.
Das Lesen wird als soziales Erlebnis beworben
Die schätzen auch viele Schriftsteller. Lucy Fricke, 43, schwarze Locken, die beim Writers’ Thursday aus ihrem neuen Roman „Töchter“ liest, erzählt, dass sie gerne mit anderen zusammen auftritt. Alleine von Lesung zu Lesung durch die Republik zu pendeln, könne sich auch einsam anfühlen. „Eigentlich wäre ich lieber eine Band“, sagt sie.
Die meisten Gäste des Writers’ Thursday gehören ziemlich genau zu der Altersgruppe, die sich am stärksten vom Buch abgewendet hat: Sie sind zwischen Mitte 20 und Ende 50. Hier hören sie sich sechs Lesungen hintereinander an und können sich gleich austauschen. Eine Besucherin sagt: „Das Beste ist, dass jeder nur so kurz liest. Wenn einem ein Autor nicht gefällt, ist es jedenfalls schnell überstanden.“
Eine wachsende Zahl von Verlagen bewirbt das Lesen als soziales Erlebnis. Sie haben Internetportale gestartet, die Buchfreunde mit Lesekreisen in ihrer Nähe vernetzen und stellen Material für die Literaturzirkel bereit. Die Literaturkritikerin Sandra Kegel fragte sich in der „FAZ“ schon, ob die Leute die Einsamkeit beim Lesen nicht mehr aushielten.
Dass Veranstalter das klassische Format der Dichterlesung zunehmend an den Haken hängen, ruft auch Kritik hervor. Kulinarische Lesungen, Beachclubs in Buchhandlungen, „literarische Speeddates“ (Kurzbegegnungen mit Autoren) – Kulturpessimisten gefällt das gar nicht.
Menschen suchen vermehrt flüchtige Gemeinschaften
Der Emotionssoziologe Christian von Scheve erklärt, geteilte Emotionen seien grundlegend für ein Gefühl von Zugehörigkeit. Über sie könne man sich vergewissern, einem bestimmten Kreis anzugehören. Das sei auch deswegen wichtig, weil sich das Bedürfnis, sozial eingebunden zu sein, für viele heute nicht mehr in Familie, Verein oder Kirchengemeinde erfülle. Stattdessen suchten Menschen vermehrt flüchtige Gemeinschaften, die nicht fest umrissen seien und nur unregelmäßig zusammenkämen. Solche „situativen Kollektive“ bildeten sich beispielsweise auf Festivals und könnten ähnlich identitätsstiftend wirken wie eine Subkultur.
Der Schriftsteller und Musiker Thorsten Nagelschmidt, 42, Rufname Nagel, kennt solche Momente auch: „Wenn da jemand mit einer geilen Lache in der fünften Reihe sitzt, steckt das die anderen an“, sagt er. Der frühere Sänger der Punkband Muff Potter veranstaltet seit einem Jahr die „Lese- und Labershow“ Nagel mit Köpfen in der Fahimi Bar am Kottbusser Tor.
Die Bar liegt im ersten Stock, ihre bodentiefen Fenster lehnen sich so tief in die Stadt, dass man noch die Richtungsanzeige der U1 lesen kann, die hier gewöhnlich im Minutentakt vorbeirauscht. Drinnen dominieren die riesige Theke und Sichtbeton, auch hier wird noch geraucht.
Die Labershow will keine Messe der Hochkultur sein
Wenn Autoren wie Thomas Klupp oder Friedemann Karig bei Nagelschmidt lesen, ist der Laden meistens voll. Eine Einladung braucht keiner. Die Labershow will keine Messe der Hochkultur sein. Nagelschmidt trägt ein schwarzes T-Shirt zum schwarzem Jackett, seine Arme sind tätowiert. „Ich sehe das mehr wie ein Konzert. Es geht mir um Abendunterhaltung“, sagt er. Auch wenn Entertainment in Deutschland ein schwieriger Begriff sei und schnell als flach gelte: Er wolle die Idee wieder positiv besetzen.
Und aufräumen mit dem Eindruck, dass man am besten Literaturwissenschaft studiert haben sollte, wenn man zu einer Lesung geht. Er komme selbst nicht aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus und habe erst relativ spät angefangen, Bücher zu lesen, erzählt Nagelschmidt.
Lesungen hätten aber immer noch diesen Nimbus, als seien sie nur für einen Kreis von Auskennern und würden in autoritären Sälen präsentiert, so sagt er das. Meint: imposante Bühne, 1000 Watt Beleuchtung, hochtrabendes Gespräch. Ihn habe das lange abgeschreckt. „Man fühlt sich gleich unwohl, will kein Geräusch machen, darf sich nicht unterhalten.“
Nagel findet, dass die Gäste Spaß haben dürfen. Bei seiner eigenen Veranstaltung geht die erste Frage auf der Bühne nicht an den Autor, sondern an das Publikum. „Habt Ihr alle was zu trinken?“ Sein eigenes Weinglas steht vor ihm.
Viele bleiben nach der Lesung an der Bar hängen
An einem Abend im September liest Thomas Klupp aus seinem Roman „Wie ich fälschte, log und Gutes tat“. Zwischen den einzelnen Passagen unterhält sich Nagelschmidt mit dem Schriftsteller – über das Buch, klar, aber am liebsten kommt er im Gespräch „von Höcksken auf Stöcksken“. So sagt es Nagelschmidt, der seit fast zehn Jahren in Berlin lebt, aber in Westfalen aufgewachsen ist.
Bei ihm spielen auch kulturelle Randgebiete wie Amazon-Kundenrezensionen eine Rolle. Am liebsten liest er jene vor, die seinen Autoren nur zwei Sterne vergeben. Über Thomas Klupps Roman resümiert einer: „Das war irgendwie nix!“ Nagelschmidt klickt sich weiter durch und trägt vor, was derselbe User sonst noch rezensiert hat. Eine Spielzeug-Hasenfamilie zum Beispiel („riecht streng“) und ein Ballett-Tutu („läuft beim Waschen ein“).
Dann fährt die Musik hoch, die Lesung ist beendet, aber viele bleiben noch an der Bar hängen. Vor allem an dem Abend, als Friedemann Karig sein Buch „Wie wir lieben: Vom Ende de Monogamie“ präsentiert hat. Daran war das Publikum offensichtlich nicht nur theoretisch interessiert. „Da wurden viele Blicke getauscht, es lag so in der Luft: Ach, du interessierst dich für das Thema? Bist du vielleicht in einer offenen Beziehung, kann ich da noch irgendwie mitmachen?“, erzählt Nagelschmidt. „Ich dachte schon, der Abend wird noch zur Swingerparty.“
Auch Rainer Schmidt will eines auf keinen Fall bei seinem Writers’ Thursday: eine Stimmung wie beim Kommunionsunterricht. Für das nächste Jahr plant er bereits ein Writers’-Thursday-Festival. Dafür will er diejenigen Autoren, die auch Musik machen, mit ihren Bands einladen.
Wenn alles klappt, kann sich das Line-up sehen lassen. Schmidt hat ein Faible für Multitalente. Neben Sven Regener haben schon Flake von Rammstein, Tobias Bamborschke von Isolation Berlin, Thees Uhlmann von Tomte und Frank Spilker von den Sternen bei Schmidt gelesen.
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