Tokio: Warum immer weniger Japaner Sumo-Kämpfer werden
Wie zwei Züge, die aufeinanderprallen, das ist ihr Sport. Doch Sumoringer müssen nicht nur stark und diszipliniert sein. Sondern vor allem loyal.
Das Klatschen ist schon vor der Schiebetür zu hören. Ein helles Peitschen, eine kurze Pause, dann ein langes Schnauben. Rund zwanzig Männer stehen auf der anderen Seite der Tür, gekleidet in nichts als dunkelgrüne Gürtel, und starren auf zwei Schränke voller Trophäen. Immer abwechselnd heben sie ein Bein, schlagen sich auf den Oberschenkel und stampfen mit den Füßen auf den Lehmboden. Dann gehen sie in die Hocke und atmen langsam aus. Sie prusten wie Wale, die vom Meeresgrund an die Oberfläche kommen.
Es ist kurz nach sieben Uhr morgens im Norden Tokios. Gut versteckt in einem grauen Bunker in der Nachbarschaft eines Pizzalieferdienstes im Viertel Nishi-Arai liegt Tamanoi Beya, eines von rund 50 Trainingszentren des japanischen Nationalsports: Sumo. Beya bedeutet Stall und bezeichnet den Verein der Ringer – obwohl es in Wahrheit viel mehr ist als das. In den Ställen trainieren die Sportler nicht nur, sie verbringen hier ihr ganzes Leben. Sie kämpfen, essen und schlafen unter dem gleichen Dach. Ein Sumostall ist eine Mischung aus Männer-WG und Militärakademie. Die Sportler werden gedrillt wie Soldaten.
Heute Morgen trainiert nur der Nachwuchs. Die besten der 26 Kämpfer von Tamanoi Beya sind auf Tour. Vergangene Woche ging in Fukuoka das letzte der jährlich sechs Turniere zu Ende, und die erfahreneren Riesen absolvieren noch Schaukämpfe im Süden, während die jüngeren schon wieder trainieren. Manche von ihnen sind gerade 15 Jahre alt. Morgens stehen sie um fünf Uhr auf und bereiten den holzgetäfelten Raum des dohyo vor. Der Trainer taucht erst auf, als die Sonnenstrahlen längst durch die schmalen Fenster scheinen. Er lässt sich auf der Empore vor den Trophäenschränken in ein Kissen fallen, wackelt mit den Zehen neben der Heizung und kramt seine Tageszeitung aus der Tasche.
Ein Sumoringer muss hinkaku zeigen
Die Ringer wärmen sich auf. Nachdem sie den Lehmboden festgestampft haben, packen sie den Gürtel des Vordermannes und laufen im Gleichschritt wie eine Raupe um den Ring, schieben danach einen Traktorreifen um den viereinhalb Meter breiten Kreis, der ihren Ring markiert. Danach lehnt sich ein Kämpfer mit seinem ganzen Gewicht auf einen anderen, der versucht, ihn so schnell wie möglich aus dem Kreis zu schieben. Der Trainer blickt auf, als ein kleiner Krieger mit wundroter Haut an die Reihe kommt. „Komm von unten und benutz deine Arme!“ ruft er ihm zu. Dann widmet er sich wieder seiner Zeitung.
Die Übungen sind archaisch. Die ersten Kämpfe fanden vor 2000 Jahren zu Ehren der Shinto-Götter statt. Noch heute nehmen zeremonielle Einmärsche und religiöse Rituale auf den Turnieren die meiste Zeit in Anspruch. Die Kämpfe selbst dauern durchschnittlich unter zehn Sekunden.
Der Sieger darf nicht jubeln. Der Verlierer sich nicht beschweren. So wichtig wie die körperliche ist die moralische Standfestigkeit. Ein Sumoringer muss hinkaku zeigen. Würde. Die Entrüstung war enorm, als kürzlich herauskam, dass der mongolische Großmeister Harumafuji in einer Bar einen rangniedrigeren Kämpfer mit der Fernbedienung einer Karaokemaschine schwer verprügelt hatte. Harumafuji musste zurücktreten.
Im dohyo wird es ernst. Die Trainingskämpfe beginnen. Auf der einen Seite steht ein schlaksiger Hüne mit einem tennisballgroßen Geschwür auf der Schulter. Auf der anderen macht sich der winzige Kerl mit der wundroten Haut bereit. Er ist gut einen Kopf kleiner. Aber Größe und Gewicht sind nicht alles. Die besten sind zwar oft die schwersten Krieger – das Durchschnittsgewicht liegt bei 140 Kilogramm –, aber es gibt 82 Arten, einen Kampf zu gewinnen, und Körpermasse ist nicht bei allen entscheidend. Beide Männer gehen in die Hocke, warten einen Moment und stürmen aufeinander zu.
Der Konkurrenzkampf an der Spitze ist brutal
Wie zwei Züge prallen sie zusammen. Es wird einer der längsten Kämpfe dieses Morgens. Der Kleine stemmt sich mit aller Kraft gegen den Hünen, vergräbt das Gesicht in seiner Brust, aber er hat keine Chance. Nach einer Minute lehnt sich der Große über seinen Gegner, greift seinen Gürtel und drückt ihn aus dem Ring. Yorikiri. Die häufigste Art des Sieges. Aber der Kleine hat noch nicht genug. Wieder betritt er den Ring und geht in die Hocke. Wieder und wieder wird er aus dem Ring gehoben.
Nach jeder seiner Niederlagen wollen die anderen ihre Chance. Im Kreis stehen sie um den Ring, rennen mit ausgestrecktem Arm auf den Gewinner zu. Das Training funktioniert nach dem Prinzip moshi-ai geiko: Der Sieger wählt seinen nächsten Herausforderer. Je länger das Training dauert, desto kürzer werden die Kämpfe. Und desto schneller wird das Schnauben.
Wenn sie einmal Atem geschöpft haben, geben die Kämpfer einander Ratschläge. „Klammer seine Arme ein!“, ruft einer dem anderen zu, als der sich erschöpft gegen seinen Kontrahenten lehnt. Oder sie versetzen sich Seitenhiebe. Er habe wirklich schlecht gekämpft, sagt ein erfahrener Ringer zu einem Frischling. Die Hackordnung in einem Stall ist streng, die Drangsalierung bisweilen extrem. Nach dem Training müssen die jungen Ringer den älteren das Frühstück machen. Sie selbst dürfen erst essen, wenn die Schwergewichte satt sind. Während die Älteren am Nachmittag entspannen, besorgen die Jungen Lebensmittel, machen das Haus sauber.
Sumo wird von Ausländern dominiert
Wer in einen Stall eintritt, verliert ein Stück Freiheit. Alle paar Jahre kommen Skandale ans Licht, Meldungen über Kämpfer, die im Stall misshandelt werden. Die Hälfte der Rekruten hält kein Jahr durch. Immer weniger Japaner entscheiden sich für den Sport. Seit den Siebzigern wird Sumo von Ausländern dominiert. Zuerst von Hawaiianern, heute von Mongolen. 2017 stieg mit Kisenosato der erste Japaner seit 19 Jahren zum yokozuna auf, dem höchsten Sumo-Titel. Der Konkurrenzkampf an der Spitze ist brutal, der in den Ställen ebenfalls, auch wenn an diesem Morgen im Tamanoi Beya wenig davon zu spüren ist. Die 20 Männer wirken, obwohl sie sich täglich verprügeln, wie eine Mannschaft. Die Stimmung ist nicht feindselig, sondern familiär.
Als die Kämpfe vorbei sind, versammeln sich die Kämpfer vor der Tafel, auf der die fünf Werte des Stalls stehen, und lesen sie vor. Ehrlichkeit. Gewissenhaftigkeit. Bescheidenheit. Gastfreundschaft. Dankbarkeit. Dann klatschen sie in die Hände und schweigen einen Moment. Und während sich die Jüngeren aufmachen, das Frühstück anzurichten, bauen einige Ältere im Ring aus Erde, Papier und einem Stock einen kleinen Schrein. Sie danken den Göttern für ihren Schutz und öffnen ihnen in der Ecke des Trainingsraums eine Tür zur Straße. Sie können jetzt gehen, sagen die Krieger den Göttern. Aber morgen mögen sie wiederkommen.
Reisetipps: Besuch eines Sumostalls
Die großen zweiwöchigen Turniere finden sechsmal im Jahr statt, immer in ungeraden Monaten. Im Januar, Mai und September in Tokio, dazwischen in Osaka, Nagoya und Fukuoka. Wer statt langen Zeremonien lieber Action sehen will, sollte ein morgendliches Training in einem Sumostall besuchen. In Tokio liegen die meisten im Viertel Ryogoku. So auch Arashio Beya neben der U-Bahn-Station Hamacho – dort kann man durch ein Panoramafenster zur Straße zuschauen. Wer ganz nah dabei sein will, bucht am besten über Anbieter wie Voyagin. govoyagin.com
Kalle Harberg
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