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Angesagt, aber entspannt: Eine Straßenszene in Shimokitazawa. Das Viertel im Tokioter Westen ist beliebt bei Studenten und Hipstern.
© World Discovery / Alamy

Besondere Kieze in Japans Metropole: Tokio auf Abwegen

Die japanische Hauptstadt ist riesig. Doch mit Spaziergängen durch ihre kleinen Viertel lässt sie sich nach und nach erobern. Zu Besuch im Szenekiez für Ältere, in Klein-Korea und in der alten Unterstadt.

Tokio kann einen Besucher überwältigen. Auf den ersten Blick – und oft auch auf den zweiten. Im Großraum zählt die japanische Hauptstadt fast 35 Millionen Einwohner, es ist die größte Metropolregion der Welt. Trotzdem hat sich die Riesenstadt vielerorts einen beinahe dörflichen Charakter bewahrt. Tokios Charme liegt nicht so sehr in den – ohnehin wenigen – großen Plätzen, und auch nicht in den menschenüberlaufenen Straßenkreuzungen, die man aus Film und Fernsehen kennt. Sondern in seinen kleinen Vierteln, von denen viele eine Welt für sich sind. Fünf Kiez-Spaziergänge abseits der Touristenströme.

Betagt: In Sugamo regiert das Un-Modische

Das erste, was auffällt, sind die ausgefahrenen Ellenbogen. In der Jizo-dori, einer 800 Meter langen und an diesem Montag hoffnungslos überfüllten Einkaufsstraße, wird gedrängelt, wie es das sonst nur selten gibt im zivilisierten Tokio. Liegt es daran, dass hier vornehmlich Leute unterwegs sind, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben und Japan danach wiederaufbauen mussten?

Die älteren Herrschaften – die Kleidung in gedeckten Farben, viele mit Schlapphut auf dem Kopf, manche mit gebeugtem Rücken und Gehstock in der Hand – haben jedenfalls viel Energie und Durchsetzungsvermögen. Vor einem Geschäft verteilt ein Angestellter im grünen Umhang Pappbecher mit Tee zum Verkosten, und von allen Seiten umringen ihn die ausgestreckten Hände der Kundschaft.

Die Jizo-dori ist die Hauptschlagader eines Tokioter Stadtteils, der als das Szeneviertel der Alten gilt. Vor allem der betagten Damen. Kein Wunder, möchte man meinen, schließlich ist Japan eine alternde Gesellschaft – bloß sieht man anderswo in Tokio wenig davon. Junge aus dem ganzen Land drängen in die Hauptstadt, die es neu, ausgefallen und international liebt.

In Sugamo dagegen regiert das Un-Modische. Ein Laden verkauft wattierte, graue Kimono-Jacken, Wohlfühlkleidung für zu Hause, ein anderer knallrote Unterwäsche, die eine gewisse Berühmtheit über Sugamo hinaus erlangt hat, wieder ein anderer Lebensmittel, die fit halten sollen: Lotuswurzel, Sardinen im Sesammantel, getrockneten Seetang und viele Knoblauchprodukte.

Am Eingang der Straße gibt es einen buddhistischen Tempel, vor der kleinen Statue eines Erleuchteten stehen die Leute hier Schlange. Sie wollen den Bodhisattva mit Wasser übergießen und trocken reiben. Das verwendete Handtuch verfügt danach angeblich über heilende Kräfte.

Überall am Rand der Jizo-dori sitzen Ältere auf Plastikhockern und unterhalten sich lautstark. Frau Nakanishi hört ihnen nur zu. Die 72-Jährige trägt einen rosa Pulli und eine lila Daunenjacke, neben ihr stehen drei Plastiktüten, die Ausbeute des Vormittags. Mit der Bahn braucht sie von ihrer Wohnung bis hierher eine halbe Stunde, aber das sei es wert. „Ich komme oft, um Pflanzen zu kaufen und Kleidung, wie es sie nirgendwo sonst gibt in Tokio“, erzählt sie. „Und ich mag die Atmosphäre, die Leute hier. Alte Leute.“ Frau Nakanishi lächelt. „Leute wie ich.“

Nächstgelegener Bahnhof: Sugamo (Yamanote-Linie)

Lässig: Shimokitazawa ist familiär und ruhig

Shimokitazawa ist kein Geheimtipp mehr. Umso erstaunlicher, dass das Hipster- und Studentenviertel im Tokioter Westen seinen entspannten Charakter bewahrt hat. Touristen sind noch immer rar. Dass die Gegend populär wurde, liegt unter anderem an ihrer Nähe zu mehreren Unis und zu den beiden großen Ausgehquartieren Shinjuku und Shibuya.

Doch während diese grell und laut sind, wirkt Shimokita, wie Einheimische den Namen des Viertels liebevoll abkürzen, eher familiär und ruhig. „Hier ist es viel gemütlicher, die Mieten sind relativ günstig, und man kann auch mal in lässiger Kleidung auf die Straße gehen“, sagt eine Cafébesitzerin.

Im Gewirr kreuz und quer verlaufender schmaler Straßen und Gassen verliert man sich schnell. Off-Theater und Bars reihen sich an günstige Nudelrestaurants, Plattenläden und Antiquitätengeschäfte an Nachbarschaftsmärkte. Wer Second-Hand-Kleidung sucht, findet ein großes Angebot. Nah am Bahnhof sind nun etliche kleine Läden in ein ehemaliges Kaufhaus gezogen. Sie verkaufen gebrauchte Jacken, Schuhe, aber auch selbstentworfene T-Shirts und Schmuck.

Nächstgelegener Bahnhof: Shimokitazawa (Odakyu Odawara-Linie oder Keio Inokashira-Linie)

In Daikanyama flaniert die Jeuness dorée

Schöner shoppen: diesen Laden im Modedistrikt Aoyama entwarf der japanische Künstler Takeshi Murakami.
Schöner shoppen: diesen Laden im Modedistrikt Aoyama entwarf der japanische Künstler Takeshi Murakami.
© dpa/Everett Kennedy Brown

Schätzungsweise mehr als eine halbe Million Menschen in Japan gehören zur koreanischen Minderheit. Sie sind meist Nachfahren jener Koreaner, die freiwillig oder unter Zwang ins Land kamen, als ihre Heimat eine japanische Kolonie war (1910 bis 1945). Hinzu kommen Südkoreaner, die in jüngerer Zeit eingewandert sind. In Japan gibt es heute zwei große koreanisch geprägte Stadtviertel, eines in Osaka – und eines eben auch in Tokio.

Das Herz von Shin-Okubo bilden eine Hauptstraße und ein paar Gassen, die von ihr abzweigen. Ob man hier tatsächlich das beste Kimchi – vergorenes Gemüse, die koreanische Spezialität schlechthin – der Stadt bekommt, darüber scheiden sich die Geister. Mindestens dürfte die Dichte an koreanischen Restaurants und Supermärkten so hoch sein wie an kaum einem anderen Ort außerhalb Koreas. Aus den Garküchen wabert Rauch und der Duft von Bulgogi, koreanischem Barbecue – und fast überall in den Geschäften spielt K-Pop, Musik aus dem Nachbarland.

Die große Zeit der „koreanischen Welle“, als nicht nur die Küche, sondern vor allem koreanische Pop-Bands, Seifenopern und Filme Japan eroberten (ebenso wie andere Länder Asiens), ist seit einigen Jahren vorbei.

Trotzdem finden sich in den Straßen von Shin-Okubo noch mehr als genug Fans, es sind Hunderte an diesem Mittwochnachmittag, vor allem Mädchen im Highschool-Alter. In Läden wie „K-Station“ kaufen sie CDs und Konzert-DVDs oder Schlüsselanhänger, Aufkleber und Kissen mit dem Foto ihres liebsten Boyband-Stars.

„Am besten gehen Schildchen, auf denen der Name eines Sängers auf Koreanisch steht“, erzählt Nodomi Isoyama, die bei „K-Station“ hinter dem Tresen steht. „Die kann man sich zum Beispiel an den Rucksack heften.“ Die 20-Jährige ist selbst leidenschaftlicher K-Pop-Fan, gerade lernt sie sogar Koreanisch.

Dabei ist das Verhältnis zwischen den Nachbarländern angespannt, bis heute belastet durch die Kolonialzeit. Für Isoyama spielt das keine Rolle. Ihre beste Freundin aus Schulzeiten ist eine „Zainichi korian“, eine koreanischstämmige Japanerin. „Politik ist das eine“, sagt sie, „Freundschaft etwas ganz anderes.“

Nächstgelegener Bahnhof: Shin-Okubo (Yamanote-Linie)

Schick:

Trendbewusst ist Japans Hauptstadt vielerorts, aber besonders hier: Daikanyama, eine Viertelstunde zu Fuß entfernt vom lauten Ausgehquartier Shibuya, unterscheidet sich stark vom bekannten Nachbarkiez. Es versammelt in seinen begrünten Straßen ausländische Botschaften, teure Boutiquen und Restaurants. Allein fürs Windowshopping und einen Blick auf Tokios „Jeunesse dorée“ lohnt sich der Besuch.

Wohnzimmer. Die Lounge in der Buchhandlung „Tsutaya“ in Daikanyama.
Wohnzimmer. Die Lounge in der Buchhandlung „Tsutaya“ in Daikanyama.
©  Promo

Doch es gibt auch noch die 2011 eröffnete T-Site, einen Laden- und Restaurantkomplex. Zu ihm gehört eine Filiale der Kette „Tsutaya“, sie wurde in eine Rangliste der 20 schönsten Buchläden der Welt aufgenommen. Aus gutem Grund. Wobei der Begriff Buchladen dem Konzept nicht gerecht wird. In dem zweistöckigen, eleganten Gebäude gibt es eine große Auswahl an Magazinen und Büchern – besonders zu Design und Architektur, viele auf Englisch.

Gleich neben den Regalen mit den Reiseführern findet sich der Tresen eines Reisebüros. Sogar einen kleinen Supermarkt gibt es. Regelmäßig finden Ausstellungen und Kulturveranstaltungen statt. Die CDs, die im „Tsutaya“ angeboten werden, kann man bei einem Kaffee probehören, ebenso wie man unbezahlte Bücher mit in die Sofalandschaft des Lokals im ersten Stock nehmen darf.

Geöffnet ist von sieben Uhr morgens bis nachts um zwei. Ein öffentliches Wohnzimmer, und der ideale Ort, um von der größten Stadt der Welt zu entspannen.

Nächstgelegener Bahnhof: Daikanyama (Tokyu Toyoko-Linie)

In Shitamachi ist noch ein wenig vom alten Tokio übrig geblieben

Unübersehbar ist das Häusermeer Tokios, aus dem der neue „Skytree“ emporragt.
Unübersehbar ist das Häusermeer Tokios, aus dem der neue „Skytree“ emporragt.
© REUTERS

In Tokio zählt die Gegenwart. Erdbeben und die US-Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs haben wenige alte Gebäude übrig gelassen, und noch bestehende werden oft ohne Sentimentalität abgerissen. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Hauses beträgt 26 Jahre. Spuren des alten Tokio zu finden, ist nicht leicht.

Am ehesten gelingt es im Osten, der einstigen Unterstadt (Shitamachi). „Traditionell war diese tiefergelegene Gegend Wohnort der einfachen Leute“, erklärt Tamiko Todaka, Reiseführerin für deutschsprachige Touristen. Bis heute finden sich im Osten bodenständige bis prekäre Viertel.

Interessant ist etwa die Gegend um den Bahnhof Minami-senju. „Pensionen, in denen dort früher Tagelöhner übernachteten, sind zu preisgünstigen Hotels für ausländische Rucksacktouristen geworden.“ In den Seitenstraßen gibt es billige Kleiderläden, Kiezkneipen und Garküchen, man sieht Betrunkene und Obdachlose, die am nahen Sumida-Fluss in Hütten hausen.

Zur Einführung in die Geschichte der Unterstadt eignet sich ein Besuch im Shitamachi-Museum im Ueno-Park, in dem man die Nachbildung eines alten, aus Holz errichteten Händlerhauses besichtigen kann, ebenso wie Haushaltsgeräte, Spielzeug und Fotos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Um die Shitamachi noch besser kennenzulernen, empfiehlt Reiseführerin Todaka einen Spaziergang durch das nahegelegene Yanaka. Bekannt ist das Viertel für den gleichnamigen Friedhof, einer der ältesten der Metropole. Der letzte Shogun, Tokugawa Yoshinobu (1837 bis 1913), liegt hier begraben, und jedes Jahr im Frühling strömen die Menschen auf das Gelände, um die Kirschblüte zu bewundern.

Gleich dahinter beginnen die Geschäftsstraßen des Viertels, das sonst ein ruhiges Wohnquartier ist. Mit den niedrigen, alten Holzhäusern, den kleinen Tempeln und Schreinen und dem gemächlichen Tempo einer Kleinstadt durchweht die Gegend ein Hauch von Nostalgie. So also muss Tokio früher ausgesehen haben!

Am Wochenende kommen die Einheimischen gern hierher zum Kaffeetrinken oder Spazierengehen, Ausländer sieht man selten. Neben Restaurants und Cafés gibt es eine Reihe kleiner, charaktervoller Läden: etwa „Isetatsu Paper“, ein Geschäft, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts besteht und unter anderem Origami-Papier verkauft.

Ein Höhepunkt ist das einstige Badehaus der Nachbarschaft mit 200-jähriger Geschichte. Seit 1993 befindet sich in seinen Räumen eine Galerie für zeitgenössische Kunst, gerade zeigt sie Arbeiten des Engländers Darren Almond. Im „Ueno Sakuragi Atari“ um die Ecke, einem Komplex von drei Gebäuden aus dem Jahr 1938, gibt es einen Laden für Kleidung, Kunst und Spielzeug, einen für Olivenöl und Salz, eine Bäckerei und eine Craft-Beer-Bar. Auch hier lautet das Konzept: Brandneues hinter alten Fassaden.

Nächstgelegener Bahnhof: Nippori (Yamanote-Linie) oder Sendagi (Chiyoda-Linie der U-Bahn)

Heiße Bäder im Hotel - Tipps für Japans Hauptstadt

ANREISE
Die Flüge nach Tokio sind derzeit günstig. Zum Beispiel von Berlin mit KLM/Air France über Amsterdam bzw. Paris im März für sieben Tage, hin und zurück, ab 500 Euro.

UNTERKUNFT
Tokio bietet eine große Bandbreite an Übernachtungsmöglichkeiten – von ganz billig bis sehr teuer. Empfehlenswert ist die Kette „Dormy Inn“, deren Hotels öffentliche heiße Bäder für alle Gäste bieten. Es gibt sie etwa in Shibuya (Doppelzimmer um 200 Euro pro Nacht) und nahe des Ueno-Parks (100 Euro).

AUSKUNFT
Japanisches Fremdenverkehrsamt, Kaiserstraße 11, 60311 Frankfurt am Main. Informationen über Tokio gibt es auf dem Tourismusportal der Stadt.

Björn Rosen

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