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An einen Hang in Dunedin bauten Siedler die steilste Straße der Welt.
© Alamy Stock Photo

Neuseeland: Warum die Bewohner Dunedins fürchten, vergessen zu werden

Hinter Neuseelands Südinsel kommt nur noch die Antarktis. Weit weg sind alle Konventionen dieser Welt – und die Kreuzfahrttouristen ein Segen.

„Was geht denn ab, da oben in der Welt?“, fragt ein älterer Mann, der vor einem Pub am Bahnhof von Dunedin in der Sonne sitzt. Der Bahnhof im flämischen Renaissance-Baustil zählt zu den schönsten Gebäuden Neuseelands. Dunkler Basalt und heller Oamaru-Kalkstein aus der Gegend. Der Mann hält ein Bier in der Hand, weißer Rauschebart, Schottenrock, Schottenmütze, rote Wangen, flinke Augen. „Äh … na ja, Trump twittert Blödsinn … Putin ... Syrien …“. Der Alte trinkt einen Schluck, verzieht das Gesicht. „Pah, brauchen wir alles nicht!“ Dann bestellt er ein neues Bier.

Da oben, hier unten. Jedes Gespräch mit einem Neuseeländer dreht sich früher oder später darum. In Dunedin meist eher früher als später. Was ist los, da oben in der Welt? Hach, das haben wir doch auch! Dunedin, 120 000-Einwohner-Stadt im Süden der Südinsel Neuseelands, einst von puritanischen Schotten gegründet. Von Deutschland aus gesehen ziemlich genau am anderen Ende der Welt. Noch weiter da unten, 5000 Kilometer, kommt nur die Antarktis.

Spaziert der Besucher durch die Straßen, begleitet ihn immerfort eine Frage: Warum siedeln sich Menschen, die eine lebensgefährliche Segelschifffahrt um die halbe Welt riskieren, die zwei Inseln im Südpazifik erreichen, paradiesisch schön, warmes Klima, goldene Strände, ausgerechnet am Südzipfel an? Wo es genauso kalt ist wie in Schottland? Zu einer Zeit als Auswandern noch ein gefährliches Unterfangen war, kein Reality-TV-Event auf Vox, als Air New Zealand noch nicht mehrmals täglich in Dunedin gelandet ist.

Die Puritaner hofften hier auf ein ruhiges Leben

Nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt dreht sich Sean Brosnahan mit stolzem Blick um die eigene Achse, Hunderte Augen schauen auf ihn. Brosnahan steht in der Ahnengalerie des Otago-Settlers-Museums von Dunedin, dessen Kurator er ist. Von der Decke bis zum dunklen Parkett sind die Wände mit Ölporträts und alten Fotografien der ersten schottischen Siedler bestickt. Der Kurator führt durch sein Haus, das in diesem Jahr 110. Geburtstag feiert. 1908 erbaut – 60 Jahre, nachdem erste Siedler Dunedin gegründet hatten –, ist es das älteste historische Museum Neuseelands. Heute setzt es sich zusammen aus einem Glaskubus mit futuristischer, einem Papierflieger gleichender Dachkonstruktion und der umgebauten ehemaligen Bushaltestelle im Art-déco-Stil.

„Wie die Architektur des Museums war auch die Stadt von Beginn an einer Zerreißprobe der Gegensätze ausgesetzt“, sagt Brosnahan. Kaum angekommen, noch im Glauben, nun, am anderen Ende der Welt, endlich ungestört von allen Übeln calvinistisch leben zu können, mussten die Puritaner bald mitansehen, dass sich vor Ort bereits feierwütige Walfänger aus aller Welt breitgemacht hatten, die sich mit irischem Whiskey besoffen, mit Maori-Frauen vergnügten und am Ufer des Naturhafens Bordelle für neu ankommende, australische Goldgräber eröffneten.

Die 1670 Quadratmeter Ausstellungsfläche des Museums erzählen vom Weggehen – und vom Ankommen im hiesigen Oben und Unten. Nirgendwo ist diese Komponente so präsent wie am anderen Ende Dunedins, dem North East Valley. An der Baldwin Street, der laut „Guinness Buch der Rekorde“ steilsten Straße der Welt. 350 Meter lang. Mit einem Gefälle von 35 Prozent an der schrägsten Stelle. Stadtplaner im fernen London zeichneten die Baldwin und weitere Straßen einst schnell und schlampig auf Karten. Die Mühe, nachzusehen, wie die geografischen Begebenheiten vor Ort waren, machte sich niemand.

Sie fotografieren, also gibt es uns!

Mensch gegen Natur. Die ersten Europäer zogen in die Otago Bucht trotz Haien ...
Mensch gegen Natur. Die ersten Europäer zogen in die Otago Bucht trotz Haien ...
© AFP

So ist die Baldwin Street bis heute Sinnbild des Verdachts der Bewohner Dunedins, dem Rest der Welt egal zu sein. Sie steht aber auch für den Stolz der Menschen hier unten. Sie haben die Straße, die noch nicht einmal geteert ist, weil der Teer Richtung Tal rutschen würde, nicht sich selbst überlassen. Die Häuser sind bewohnt und beliebt. „Hier hast du einen fantastischen Ausblick “, sagt eine Bewohnerin über die Hecke hinweg, „und den ganzen Tag Sonne.“ Man bräuchte nur eine gute Handbremse und starke Nerven, um die mit Selfiesticks bewaffneten Kreuzfahrttouristen zu ertragen, die die Straße erwandern.

Der Andrang macht die Bewohner aber auch glücklich. Sie fotografieren, also gibt es uns! Denn die größte Angst der Neuseeländer ist, und offensichtlich ist sie im südlichsten Süden noch ein bisschen größer, dass ihre Inseln von der Weltkarte rutschen könnten – und keiner es merkt. Deshalb sind die Neuseeländer traditionell stolz darauf, wenn ihr Neuseeland in Europa oder den USA wieder mal eine Schlagzeile wert ist.

... und windgebeuteltem Cape Saunders.
... und windgebeuteltem Cape Saunders.
© AFP

Sie feiern Ed Hillary, den Erstbesteiger des Mount Everest, ihren ewigen Helden und die All Blacks, wenn sie den Titel der Rugby-WM holen. Sie bejubeln ihre Segler, wenn sie den America’s Cup gewinnen. Längst schimpfen Puritaner und Freigeister gemeinsam auf die da oben: auf die „Crusaders“, den Rugby-Rivalen aus Christchurch, der größten Stadt der Südinsel. Auf die Aucklander, die oben im Norden der Nordinsel nur Geld zählen würden. Auf die Australier sowieso!

„Wir wussten sofort, das ist es“

„Bei uns kann jeder auf seine Weise glücklich werden“, sagt Laura O’Brien, die Anfang der 1990er Jahre mit ihrem Mann von Kalifornien nach Dunedin gezogen ist. Sie genießt ihren Feierabend vor der „Albar“ zwischen dem achteckigen Hauptplatz und dem Bahnhof und lässt die Abendsonne ihr Gesicht kitzeln. Die ehemalige Fleischerei, die in ein Pub verwandelt wurde, ist voll. Weiße Fliesen kleben an den Wänden, Punk dröhnt aus den Boxen, das frisch gezapfte Bier schmeckt angenehm herb. Zwei Arbeiter am Tresen diskutieren über die „Highlanders“, die Rugby-Mannschaft aus Dunedin, deren Coach jüngst zur japanischen Nationalmannschaft wechselte. Als ob Geld alles wäre, schimpfen sie.

Die O’Briens bringt nichts mehr weg. Täglich fährt Laura mit Touristen auf die Otago-Halbinsel, um nach Pinguinen und Albatrossen Ausschau zu halten. „Wir sind bei unserer Hochzeitsreise um die halbe Welt gereist“, erzählt sie. „Als wir hier ankamen, wussten wir sofort, das ist es.“ Warum? „Für mich kann es nicht abgeschieden genug sein. Weg von den Zwängen der Welt da oben. Weg von all den Konventionen. Manchmal schneit es im Winter, manchmal sind es zur selben Jahreszeit weit mehr als 30 Grad.“

Reisetipps für Dunedin

Hinkommen

Air New Zealand fliegt in Kooperation mit Partner-Airlines täglich von Deutschland nach Neuseeland – über Singapur oder zahlreiche andere Zwischenstopps. Tickets in der Economy Class gibt es ab 1256 Euro. airnewzealand.de

Unterkommen

Das „Distinction“ gilt als schönstes Hotel Neuseelands. Zentral gelegen bietet das ehemalige Postgebäude aus den 1930er-Jahren geräumige Zimmer und in den oberen Etagen einen hervorragenden Blick über die Stadt oder den Naturhafen. Die Übernachtung im Doppelzimmer kostet rund 160 Euro. distinctionhotels.co.nz/dunedin

Besonders stimmungsvoll schläft es sich in einer alten Kirche mitten im Zentrum: chapelapartments.co.nz.

Lenz Koppelstätter

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