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Mit laut hörbarem Vergnügen stürzen sich Bungee-Springer in die Tiefe. Hier von der Kawarau-Brücke und anderswo in Neuseeland.
© dapd, Neuseeland Tourismus

Neuseeland: Im Reich der Rekorde

Wilde Pässe, tiefe Fjorde, spektakuläre Wasserfälle: Die Natur in Neuseeland ist gigantisch – und lockt auch Extremsportler an.

In Manapouri sehen wir die Sonne zum letzten Mal. Friedlich scheint sie auf die drei kleinen Kirchen des Orts. Alle sind entweiht. Sie wurden auf Lastern hergebracht und beherbergen nun zwei Cafés und den Friseursalon. Zu Füßen des gottlosen Städtchens liegt der gleichnamige See unter blassblauem Himmel. Lake Manapouri ist das Tor zum Doubtful Sound, der in drei Etappen bereist wird. Per Boot erreicht man die westliche Spitze des Sees. Von dort geht es mit dem Bus über den Wilmot Pass zum Deep Cove, dem Kopf des Fjords, der 40 Kilometer von hier in die Tasmanische See mündet. In Deep Cove beginnt die „Fjordland Navigator“ ihre Fahrt durch den Fjord zum Meer.

James Cook war 1770 der erste Europäer, der die Mündung des Fjords erblickte und ihm den Namen Doubtful Harbour gab. Denn Cook zweifelte, ob der Wind reichen würde, seine Endeavour wieder hinauszusteuern. So entschied er sich gegen den Abstecher.

Auch das Klima wird dem Namen gerecht. Die Sonne lässt sich im gemäßigten Regenwald des Fjordlands selten blicken. Zur immerwährenden Feuchtigkeit gesellen sich unzählige Sandflöhe, deren Stiche heftig und lange jucken. Schicksalsergeben nennen Einheimische die Biester die Nationalvögel Neuseelands. „Es wird Regen geben“, hatte schon die Besitzerin unserer angejahrten Ferienwohnung in Makarora gewarnt. Sie behält recht. Kaum hat der kleine Dampfer „Fjordflyer“ abgelegt, zieht sich der Himmel zu. Steil erheben sich dicht bewaldete Berge am Ufer, die Wolken sacken tiefer. Der Lake Manapouri und der Waiau River, der ihn mit dem Lake Te Anau verbindet, gehören zu den zahlreichen Drehorten der Verfilmungen des „Herrn der Ringe“. Diese Landschaft braucht nicht viel Make-up, um den Weg nach Mordor zu spielen.

Die Natur Neuseelands ist gigantisch. Die Südinsel ist so groß wie England, hat aber nur eine Million Einwohner. Das von Gletschern geformte Fjordland in ihrem Südwesten ist die ursprünglichste, am wenigsten berührte Landschaft Neuseelands. Als Nationalpark Fjordland bildet sie das größte Schutzgebiet des Landes. Mit 12 500 Quadratkilometern hat dieser Park fast die Größe Tirols.

Ohne Superlative können sich auch die Einheimischen kaum orientieren in ihrem außerordentlich schönen Land. Sie verorten sich gerne und setzen ihren Aufenthaltsort in Beziehung zu anderen besiedelten Gegenden. Vielleicht muss das so sein, wenn man am Ende der Welt lebt, wo selbst das Nachbarland Australien von den meisten Flughäfen noch mindestens eine Mittelstrecke entfernt liegt.

Und so ist auch die 24-stündige Expedition in den Doubtful Sound (den zweitgrößten und tiefsten der 14 Fjorde des Nationalparks und eine der nassesten Gegenden der Welt) eine Reise ins Reich der Rekorde. Zwar geht es in der ersten Etappe der Reise nur 30 Kilometer über den Lake Manapouri. Der ist jedoch immerhin der fünftgrößte und zweittiefste See Neuseelands. Bis zu 444 Meter ist es bis zu seinem Grund. Der Doubtful Sound selbst misst an seiner tiefsten Stelle nur 430 Meter. Die Unesco zählt ihn dennoch zum Weltnaturerbe.

Die Atmosphäre ist die eines geordneten Schulausflugs. Bevor die beiden Reisebusse es mit dem Wilmot Pass aufnehmen, gehen im Besucherzentrum nochmal alle aufs Klo. Die kleine Tasche, auf die man sich aufgrund der beengten Verhältnisse im ersten Boot beschränken muss, verstaut jeder selbst im Bauch des Busses. Das Kampfgas, mit dem man sich hier gegen Sandflöhe zur Wehr setzt, macht die Runde. Busfahrer Russell Smith erklärt Weg und Ziel: Der Bau der Pass-Straße dauerte zwei Jahre und kostete pro Zentimeter zwei neuseeländische Dollar. Nötig war die Maßnahme, damit in den sechziger Jahren das Kraftwerk am westlichen Arm des Lake Manapouri errichtet werden konnte.

Draußen ist es noch nasser, als es aussieht

Ausgesetzt. Kajak-Fahrer wollen den Doubtful Sound erfahren.
Ausgesetzt. Kajak-Fahrer wollen den Doubtful Sound erfahren.
© Stefanie Bisping

Der Doubtful Sound ist dreimal so lang wie sein Konkurrent um die Gunst der Touristen, der Milford Sound. Auch Schulkinder werden in diesen Winkel der Wildnis gekarrt, um in einer schlichten Herberge am Deep Cove die Natur ihrer Heimat kennen- und verstehen zu lernen. Auf uns wartet indessen ein Schiff. Die „Fjordland Navigator“, gut 36 Meter lang, knapp zehn Meter breit, mit 31 Crewmitgliedern und Platz für 72 Passagiere, liegt in dünnem Nieselregen.

An Bord herrscht frohe Unruhe. Die Gäste – eine neuseeländische Familie mit drei Kindern und Oma, eine fröhliche Clique aus Taiwan, drei Freundinnen aus Deutschland, eine junge Japanerin sowie australische und englische Familien unterschiedlicher Altersstrukturen – richten sich in ihren Kabinen ein. Im mit rotkariertem Teppich ausgelegten „Main Saloon“, dessen Sitzecken und holzverkleidete Bar für die nächsten 24 Stunden unseren Lebensmittelpunkt bilden, laufen die Kaffeemaschinen heiß. Captain Dave Allen, ein stiller Neuseeländer, der seit zwölf Jahren im Dienst der Reederei ist, legt ab. Im Saloon wird bald über die Grenzen von Nischen und Nationalitäten hinweggeplaudert. Über den Fjord senkt sich Nebel.

In der Blanket Bay erfahren wir am eigenen Leib, dass es draußen noch nasser ist, als es aussieht. Aus dem Nieseln des Vormittags ist ein ruhiges Strömen geworden. Bei der Annäherung an den Fjord haben wir die Wahl zwischen Schwimmen im elf Grad kalten Wasser, einer Tour im Kayak oder mit dem Tenderboot. Sechs mutige Frauen zwischen dreißig und sechzig stürzen sich unter Johlen ins Wasser. Die übrigen Passagiere verteilen sich auf die Boote. Auf ihre Haare perlt das womöglich sauberste Wasser der Welt.

Ganz nahe steuert Jax, die reizende junge Holländerin, das Boot ans Ufer. Wie ihre Kollegen ist sie mal im Service, mal als Guide bei den Ausflügen und dann wieder im Housekeeping tätig. Als echte Allrounderin imitiert sie nun treffsicher den Schrei des Alpenpapageis. Der Regen rinnt über Felsen, Farne, Moos, Lianen, Orchideen und über uns.

Zurück an Bord ist jeder froh, dem es gelungen ist, Kleidung zum Wechseln ins Gepäck zu pressen. Wer es nicht geschafft hat, entscheidet sich im Einzelfall für die Schlafanzughose als Alternative zur durchnässten Jeans. Die Abenteuer des Nachmittags haben eine Atmosphäre zwangloser Nähe unter den Passagieren geschaffen. Captain Allen nimmt Kurs auf die Mündung zur Tasmanischen See. Im Saloon wird es gemütlich. Teenager holen das Monopoly- Spiel aus dem Schrank, die Crew serviert heiße Suppe.

Aus dem Dunst lösen sich die Silhouetten großer Felsbrocken. Es sind die Nee Islets, benannt nach dem Botaniker Luis Nee, der 1793 mit der spanischen Expedition unter Führung des Italieners Alessandro Malaspinas herkam. Die von Gestrüpp bewachsenen Inselchen liegen am Eingang des Fjords. Schnaufende Pelzrobben bewachen sie. Frierend stehen wir an Deck und halten Ausschau nach Delfinen, Dickschnabel- und Zwergpinguinen. Vergeblich. Die Moosränder an den Felsen zeugen vom Wechsel der Gezeiten, die deutlich spürbaren Wellen von der Nähe des offenen Meeres.

Captain Allen steuert das Schiff in den spiegelglatten Fjord zurück. Der Sturm aufs Dinnerbuffet wird indessen von der erfahrenen Crew kanalisiert: Tisch für Tisch werden wir vorgelassen, um Lachs mit Waldorfsalat, Roastbeef, Lammbraten und Süßkartoffeln auf unsere Teller zu laden. Das ausgelassene Lachen am benachbarten Damentisch erreicht Orkanlautstärke. Die Dienste der Bar beflügeln Gespräche, lange nachdem die Spuren des Dinners beseitigt sind. Nur die tiefschwarze Nacht vor den Fenstern macht fassbar, dass wir auf viele Kilometer die einzigen Menschen sind.

Nur die Geräusche des Regenwaldes sind zu hören

Schön grün ist es allenthalben auf der Insel am anderen Ende der Welt. Das kommt nicht von ungefähr – es regnet halt sehr viel.
Schön grün ist es allenthalben auf der Insel am anderen Ende der Welt. Das kommt nicht von ungefähr – es regnet halt sehr viel.
© Christiaan Briggs

Um sechs Uhr früh wirft Captain Allen die Motoren an, die allem Schlaf ein Ende setzen. Im Doubtful Sound gibt es keine Sonnenaufgänge, die nun zu bewundern wären. Zu dicht ist die Wolkendecke. Dafür gibt es Wasserfälle. Während wir über Kaffee, Eiern und Toast sitzen, steuert Captain Allen das Schiff unter die Klippen – oder zumindest in Fühlweite an sie heran. Wasser tost Felsen hinab. Aus nächster Nähe bewundern wir mit Flechten bewachsene Felsen und tropfende, saftig grüne Büsche. Das Wasser platscht munter aufs Deck. Der Kapitän geht mit dem Manöver kein Risiko ein: Auch am Ufer reicht das Wasser unterm Bug hier noch 90 Meter in die Tiefe.

Zur Besinnung bringt Allen seine fröhlich lärmenden Passagiere mit dem „Sound of Silence“. Er schaltet die Motoren ab. Keine Tür schlägt mehr. Niemand spricht. Sogar die Kameras machen Pause. Still liegt das Schiff im Wasser. Die Berge schweigen gleichgültig auf uns herab. Nur die Geräusche des Regenwaldes sind zu hören, so, wie sie die ersten Forschungsreisenden und lange vor ihnen die Maori vernahmen: Das Rauschen unzähliger Wasserfälle und der Gesang der Vögel.

Ganz und gar nicht still geht es hingegen nahe Queenstown zu. Die Stadt am Lake Wakatipu gilt als Mekka für Extremsportler und alle, die größten Spaß am Nervenkitzel finden. Deren Fokus liegt auf der Kawarau- Brücke, wo sich Adrenalinsüchtige an Gummiseilen von einer Plattform in die Tiefe stürzen. Seit der Bungee-Pioneer A. J. Hackett 1986 mit einem Sprung von der Hafenbrücke in Auckland und später von der Kawarau-Brücke den Grundstein für seinen persönlichen Ruhm und Reichtum gelegt hat, pilgert die Gemeinde der Waghalsigen vor allem nach Queenstown. Angeblich stürzen sich an manchen Tagen mehr als 100 Menschen nicht nur ganz freiwillig in die Tiefe, sondern sie zahlen auch noch umgerechnet 115 Euro für das offenbare Vergnügen, dem scheinbar sicheren Tod ins Auge zu schauen, um dann doch von einem Latexseil abgefangen zu werden. Hier sei übrigens verraten: Wer den extrem laut schreienden Springern nur zuschaut, wird (fast) den gleichen Nervenkitzel erfahren – ganz ohne dafür zu zahlen. Schließlich fragt sich jeder: Hält das Seil?

Wem die Sache mit dem Kopfsprung denn doch etwas zu waghalsig erscheint, muss keineswegs auf den Kick verzichten. Ein paar Autominuten den Fluss entlang wartet der nächste Nervenkitzel. Knallrote Jetboote kreiseln wie nervöse Rennpferde im Canyon und warten nur auf den Startschuss. Und Passagiere, natürlich. Die dürfen zunächst umgerechnet 75 Euro bezahlen, bevor sie mit einem Bootsführer in rasender Geschwindigkeit über den Gebirgsfluss düsen – stets haarscharf am schroffen Fels vorbei, wilde Kurven und so manchen 360-Grad-Kreisel drehend.

In Queenstown vergessen Touristen oft, wo sie sind. Die gängige Vorstellung von Neuseeland zählt hier nicht mehr: keine Schafe, keine Stille. Die überwältigende Natur findet sich gleichwohl in nächster Nähe. Doch sie wird von den Besuchern der „Abenteuer-Hauptstadt der Welt“ für Gleitschirmfliegen, Bungee- Springen, Rafting und Jetboating, spektakuläre Ausflüge mit Helikoptern und Heißluftballons genutzt. Irgendwie wundert einen das nicht. Schließlich sind 80 Prozent der Einwohner jünger als 45. Und die Million Pilger aus aller Welt sowieso.

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