Cholera-Epidemie: In Haiti ist die Hilfe in Not
Erdbeben, Cholera und Proteste: Ein Land gerät außer Kontrolle. Was unternimmt die Weltgemeinschaft gegen die Tragödie in Haiti?
Das Erdbeben im Januar hat schwere Folgen für Haiti. Nicht nur, dass dabei Hunderttausende starben und 1,5 Millionen Menschen obdachlos wurden. Seit mehr als drei Wochen kämpft das Land auch noch mit einer Cholera-Epidemie.
Wie verbreitet ist die Seuche bereits?
Bisher sind etwa 14.600 Infizierte bestätigt. Mehr als 1000 Menschen sind bereits an der Cholera gestorben – so die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer liegt aber deutlich höher. „In Wahrheit gibt es wohl jetzt schon bis zu 40.000 schwere Erkrankungen und bis zu 3000 Tote“, schätzt Joost Butenop, Nothilfeexperte von Caritas international. Dazu kommt, dass viele Infizierte nicht richtig krank werden, aber dennoch das Bakterium ausscheiden. Hilfsorganisationen hatten lange Zeit versucht, einen Übergriff des Cholera-Erregers auf die Hauptstadt Port-au- Prince zu verhindern – erfolglos.
Dabei ist Cholera eigentlich eine verhältnismäßig einfach zu behandelnde Krankheit. Wer rechtzeitig versorgt wird, überlebt und kann meist nach zwei Tagen das Krankenhaus verlassen. Doch Hilfsorganisationen klagen, sie seien von der Menge der Neuerkrankungen personell und räumlich überfordert. Nur zehn Prozent der Cholera-Hilfe wird von staatlichen Stellen geleistet. „Wenn die Zahl der Fälle weiter in diesem Ausmaß steigt, müssen wir drastische Maßnahmen ergreifen, um die Leute behandeln zu können. Wir werden dann auch öffentliche Plätze und sogar Straßen nutzen müssen“, sagt Stefano Zannini, Missionsleiter von Ärzte ohne Grenzen in Haiti.
Warum bekommen die Hilfsorganisationen die Cholera-Epidemie nicht in den Griff?
60 Prozent der medizinischen Einrichtungen im Erdbebengebiet wurden zerstört. Deshalb mussten Hilfsorganisationen zum großen Teil die medizinische Arbeit übernehmen. Allein Ärzte ohne Grenzen und das Rote Kreuz haben bis heute etwa eine halbe Million Patienten versorgt. Hilfsorganisationen bauen Krankenhäuser, Sanitätsplätze und Cholera-Stationen. Daneben helfen sie in den örtlichen Krankenhäusern, sofern diese das Beben überstanden haben. So makaber es klingen mag: „Man muss es schon als Erfolg verbuchen, dass es bis zum Ausbruch der Cholera keine Epidemien gab“, sagt Unicef-Sprecher Rudi Tarneden. „Eine große Herausforderung ist es momentan, den Menschen trotz des Cholera-Ausbruchs auch andere medizinische Hilfe zu gewährleisten“, berichtet Svenja Kühnel, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen. Die Cholera-Behandlung binde etwa 4,4 Millionen Euro in ihrem Budget und obendrein noch personelle Kräfte. Doch die Not macht erfinderisch: Das Rote Kreuz arbeitet beispielsweise mit Mobilfunkunternehmen und Radiosendern zusammen und konnte so etwa 880.000 Menschen per SMS und Radio Hygienetipps geben.
Wie viel Geld ist bisher angekommen?
Viel war versprochen worden – doch von der internationalen Hilfe hat erst ein Drittel das Land erreicht. 3,9 Milliarden Euro hatte die Geberkonferenz Ende März für kurz- und mittelfristige Hilfe in Aussicht gestellt, langfristig sogar 7,2 Milliarden Euro. Dazu kommen private Spenden. Jetzt haben die Vereinten Nationen nochmal um 122 Millionen Euro Soforthilfe für die Cholera-Behandlung gebeten. Das deutsche Entwicklungsministerium hat bisher etwa 20 Millionen Euro Soforthilfe geleistet, weitere 30 Millionen werden folgen. Unter anderem soll ein noch zu errichtendes Wasserkraftwerk die Stromversorgung sicherstellen. Von dem Geld will das Ministerium auch 1400 Holzhäuser für jeweils eine Familie bauen, 380 davon gibt es bereits. Die größte Schwierigkeit besteht darin, neues Bauland zu finden, das niemand beansprucht.
Warum dauert der Wiederaufbau so lange?
Es gibt mehrere Gründe dafür, dass Haiti weniger weit vorangekommen ist, als es andere Länder nach vergleichbaren Katastrophen waren. Die Zerstörung war gewaltig, gerade in dem am dichtesten besiedelten Bereich des Landes. „Die Hauptstadt ist stark betroffen, nur noch ein Fünftel der Häuser steht“, sagt Helga Kuhn, Pressesprecherin von Unicef. „Man stelle sich vor, Berlin wäre zu 80 Prozent zerstört. Dann würde man nach ein paar Monaten auch noch nicht von vollständigem Wiederaufbau sprechen.“ Außerdem wurden die Hilfsorganisationen selbst Opfer des Bebens, viele Mitglieder der UN-Einrichtungen in Haiti starben. Die Koordination der Hilfsleistungen musste mühsam wiederhergestellt werden. „Man redet immer von Wiederaufbau, aber in vielen Dingen muss man bei null anfangen“, sagt Federico Motka, Nothilfekoordinator der Deutschen Welthungerhilfe in Haiti.
Was sind die größten Hindernisse beim Neuaufbau des Landes?
Hinderlich sind die schwache staatliche Struktur, bürokratische Hürden beim Hausbau und Korruption. „Wenn man zum Beispiel ein Krankenhaus errichten will, muss man wissen, wer der Eigentümer des Baugrunds ist. Solange das nicht geklärt ist, kann man nicht bauen“, sagt Svenja Koch vom Deutschen Roten Kreuz (DRK). Oft ist nicht eindeutig, wem ein Grundstück gehört, weil es keine Unterlagen mehr darüber gibt – oder nie gab. Auch gehört Haiti nach den jährlichen Berichten von Transparency International regelmäßig zu den korruptesten Ländern der Welt. Hilfsorganisationen müssen da konsequent sein, was nicht immer leicht ist. „Der Druck auf die Hilfsorganisationen ist enorm“, heißt es aus dem DRK. Gleichwohl versichern die Organisationen, keine Bestechungsgelder zu zahlen.
Weil die ungeklärte Bodenfrage ein großes Problem ist, hat sich auch die Zahl der Menschen in Flüchtlingslagern bisher kaum verringert. Etwa 1,3 Millionen Menschen haben bis heute nur notdürftig Unterkunft gefunden – kurz nach dem Beben waren nach UN-Angaben 1,5 Millionen Haitianer obdachlos.
Gibt es in Haiti mittlerweile einen funktionierenden Staat?
Nein. In dieser Hinsicht ist das Land nicht weiter als vor dem Beben. „Die örtlichen Sicherheitsbehörden sind nur begrenzt in der Lage, die Sicherheit zu gewährleisten“, sagt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin. Vor wenigen Wochen wurde das Mandat der UN-Mission „Minustah“, die seit 2004 im Land ist, bis zum 15. Oktober 2011 verlängert. „Aus heutiger Sicht rechnen wir damit, dass dieser Zustand noch länger anhält. Es sind nun mal chronische Probleme, die sich durch das Beben verstärkt haben.“ Man habe generell kaum positive Veränderungen im Land feststellen können, sagt der Sprecher.
Rudi Tarneden von Unicef beklagt, dass es nach wie vor nicht leicht sei, gut ausgebildete Haitianer zu finden, denn die seien mobil und wanderten in die USA oder nach Lateinamerika aus. „Es ist ein Teufelskreis. Für die Umsetzung der Hilfe müssten staatliche Strukturen da sein, die wiederum finanziert werden müssten. Solcher Budgethilfe stehen die Helferländer aber skeptisch gegenüber.“
Jan Ludwig