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Birnen seien "süßherbe Naturen", schreibt der Autor, die "ihren Kopf gelassen an die Erde lehnen". Und Äpfel? Igitt!
© imago/Steinach

Zum 65. Geburtstag von Hanns-Josef Ortheil: Vergleicher des Unvergleichbaren

Äpfel und Birnen – das darf man nicht! Der große Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil schon. Von blöden Frühstücksbüffets und Champagner im Flugzeug.

Nichts ist ohne Risiko, schon gar nicht das Bücherlesen. Kann sein, wir treffen auf Sätze, die uns ein Leben lang verfolgen werden. Wenn Sie zum Beispiel abends in Ihrem Hotelbett einschlafen und Ihr letzter Gedanke, zur Vision geweitet, gilt dem Frühstücksbuffet am nächsten Morgen, so sollten Sie sich gut überlegen, ob Sie das neue Buch von Hanns-Josef Ortheil wirklich kennenlernen wollen. Es heißt „Was ich liebe und was nicht“ (Luchterhand).

Nun gut, Ortheil ist ein großer Autor. Er schreibt Liebesromane mit so unfassbaren Titeln wie „Die große Liebe“ oder „Das Verlangen nach Liebe“. Kein mittlerer Autor würde das wagen. Und er nimmt die Liebe dabei vollkommen ernst. Kein mittlerer Autor würde das wagen. Er machte uns zum Reisebegleiter Goethes („Faustinas Küsse“) oder zum Mitwisser ganzer Städte („Im Licht der Lagune“ – Venedig). Vieles wäre zu sagen zum Ruhm des Mannes, der gestern 65 Jahre alt wurde, aber: Er hasst Frühstücksbuffets!

Die Begründung umfasst drei Seiten, und spätestens auf der zweiten legt sich der Verdacht nahe, Ortheil lehnt nicht das Frühstücksbuffet als solches ab, nicht das, was darauf steht, sondern uns, die sich ihm in affirmativer Absicht nähern. Den Absolventen einer solchen Tafel porträtiert er so: „Die gerechte Strafe besteht darin, dass man nach dieser Völlerei den gesamten Vormittag wie ein Prellball mit Überdruck durch die Welt läuft ...“ Der Mann ist Schriftsteller, er ist noch längst nicht fertig. Doch kann nicht auch ein Frühstücksbuffet ein Grund zur rückhaltlosen Bejahung des Lebens sein, ist es nicht gewissermaßen eine letzte Erinnerung an die Vollkommenheit der Welt, bevor der Tag wirklich beginnt?

Kaum einer versteht mehr von Geräuschen als dieser Autor

Und es ist nicht das Frühstück allein. Werden wir je wieder unbefangen in einen Apfel beißen können? „Nichts ist fürchterlicher als der krachende Biss eines Menschen ... in einen Apfel.“ Es handelt sich Ortheil zufolge um eines der misstönendsten Geräusche der Erde. Aber ist es nicht, als würden wir immer wieder wie zum ersten Mal vom Baume der Erkenntnis essen, liegt in ihm nicht alle Frische des Anfangs?

Doch jeder Ortheil-Leser weiß: Kaum einer versteht mehr von Geräuschen als dieser Autor. Denn eigentlich ist er Musiker, Pianist. Er spielte schon Klavier, bevor er mit der Welt nur ein einziges Wort gewechselt hatte, und da war er sieben Jahre alt.

In den ersten sieben Jahren seines Lebens hörte Hanns-Josef Ortheil der Welt nur zu und sah sie an. Es ist keine Frage, dass ein solcher Mensch hörender sein muss als andere, die ihr schon, kaum dass sie laufen können, beständig ins Wort fallen. Man könnte es eine frühkindliche erkenntnistheoretische Reserve nennen, aber die war es nicht, es war der lange Schatten einer Familienkatastrophe. Seine Mutter hatte vor ihm vier Söhne geboren und alle verloren, sie sah keinen Grund mehr, diplomatische Beziehungen zur Wirklichkeit aufrecht zu erhalten, sie hatte der Welt nichts mehr zu sagen. Und warum sollte der Sohn einer stummen Mutter zu reden beginnen? Was ist denn vollkommenes Sein? Sich wortlos verstehen. Gemeinsam in der Küche Gemüse schneiden und eine Suppe kochen, in untrennbarer wortloser Mutter-Sohn-Einheit. Das war die große Küchen-Kommunion, aus der heraus Ortheil noch immer schreibt.

"Die Haustür öffnet sich, jemand schleicht hinaus ..."

Und doch, im Namen aller Apfelbäume und Frühstückskellner der Erde: Sollte dieser Autor seine Thesen nicht verteidigen müssen? – Kein Problem, lässt Ortheil ausrichten, am besten auf dem vielleicht kleinsten und vielleicht schönsten Universitätscampus des ganzen Landes, auf der Domäne Marienburg bei Hildesheim. Das neue Semester beginnt gerade, und Ortheil ist dort Professor für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Teilzeitakademiker ist er nämlich auch noch, wenn einer wie er zu reden beginnt, dann richtig.

1976 promovierte er über die Theorie des Romans im Zeitalter der Französischen Revolution. Professoren, die Bücher schreiben, die auch Nicht-Professoren lesen können, sind ziemlich selten. Sie haben gewöhnlich so eine panische Angst vor einfachen Sätzen, Ortheil nicht. Und seien wir ehrlich: Vom Standpunkt eines gewöhnlichen Germanisten zählt ein Romanautor schon unter die hoffnungslos einfältigen Lebensformen.

Aber ein Professor, der keine Äpfel mag, dem der Biss in die Frucht vom Baum der Erkenntnis als übelste Dissonanz in den Ohren klingt?

Die Domäne Marienburg bei Hildesheim, 1346 von Bischof Heinrich III. erbaut als Feste gegen widersetzliche Stadtbürger, liegt inselgleich ganz allein in früherem Sumpfland. An der Tür des Professors für kreatives Schreiben steht: „Die Haustür öffnet sich, jemand schleicht hinaus ...“ Sehr ungewöhnlich. Herkömmliche Professoren beschriften ihre Türen anders.

Ortheil steht davor, im Gespräch mit einer Studentin, die sich eine Schreibmaschine kaufen möchte, weil alle haltbare Literatur mindestens mit einem harten metallenen Anschlag beginne, statt mit dem Klappern der Tastatur. Schließlich hat Gott, als er Moses die zehn Gebote nahelegte, auch keine SMS geschickt, sondern dem Oberhirten der Israeliten steinerne Tafeln übergeben. Ortheil sieht keinen Grund, seiner Studentin das Schreibmaschinenprojekt auszureden. Wie ein Amokläufer gegen Frühstücksbuffets wirkt er eigentlich nicht.

Tomatensafttrinker sind das Allerletzte

Im neuen Buch verrät Ortheil seine Vorlieben und Abneigungen. Es lohnt sich, die Welt mit seinen Augen zu sehen.
Im neuen Buch verrät Ortheil seine Vorlieben und Abneigungen. Es lohnt sich, die Welt mit seinen Augen zu sehen.
© Luchterhand Literaturverlag

Ortheil schlägt vor, gegenüber ins Hofcafé der Domäne zu gehen, denn für ein Porträt auf der Seite „Essen und Trinken“ muss man vor allem essen und trinken. Doch noch sei es dort zu voll und vielleicht auch ein wenig laut.

Fast die ganze rechte Wand seines Arbeitszimmers nimmt ein Ölgemälde ein, kein Zweifel, das ist ein Rembrandt, eine Feier des Essens und des Trinkens: Rembrandt hält das Glas empor, als wolle er mit der ganzen Welt anstoßen, auf seinem Schoß sitzt Saskia, der Tisch im Hintergrund ist üppig gedeckt, auch mit Pfauenpastete. Igitt.

Der Pinselstrich ist deutlich erkennbar. Aber hängt das Bild nicht eigentlich in der Eremitage? Der Professor lächelt karamellisiert. Das schöne Adverb ist aus seinem Buch geklaut! Die Kopie ist ziemlich gut, er weiß es. Sie gehörte einem Freund, dessen Wohnung zu klein war für das Bild, da habe er es aufgenommen. Er schaue es sehr gern an. Da weiß man doch gleich, worauf es im Leben ankommt.

Die Frage ist natürlich immer, was drin ist im Glas. Als Halbwüchsiger hatte er einen Freund, dessen Vater ein Weinlokal in Mainz besaß, dort aßen und tranken sie alles, was die Gäste übrig ließen, und so geriet Hanns-Josef Ortheil schon sehr früh an den ersten Champagner seines Lebens, es war eine halbvolle Flasche Veuve Clicquot, er hat es nie vergessen. Falls jemand im Flugzeug künftig einen alleinfliegenden Herrn bemerkt, der Champagner trinkt, dann ist das garantiert Ortheil. Er sagt, zum Fliegen passe gar nichts anderes (und das Allerletzte sind Tomatensafttrinker).

"Es ist so affig, Wasser zu bestellen"

Ortheil bietet nichts zu trinken an, und nach einem Glas Wasser zu fragen ist vollkommen ausgeschlossen, denn er verneint nicht nur Frühstücksbuffets, Äpfel und Tomatensaft in 12 000 Meter Höhe, sondern auch Wassertrinker: „Wenn ich abends ausgehe, habe ich immer mit Leuten zu tun, die gleich Wasser bestellen. Es ist so affig, das zu tun, und noch affiger ist es, sich das anzuhören: ,Eine große Flasche Wasser ohne Kohlensäure, bitte.’ Wie das klingt: ,ohne Kohlensäure’. Schon das Wort Kohlensäure würde ich nie in den Mund nehmen.“

Es ist schon merkwürdig, mit einem fremden Menschen zu reden, dessen Vorlieben und Abneigungen man so gut kennt. Das bedeutet einen klaren strategischen Vorteil. Gewöhnlich sind Schriftsteller Menschen, die sich mit Vorliebe in ihren Büchern verstecken, es sind die geborenen Maskenträger. Ortheil ist offenbar keiner. Und dann noch ein Tagebuch der Genüsse!

Der Autor merkt auf: ein Tagebuch der Genüsse? Nein, so würde er das nicht formulieren, wenn schon Genuss, dann doch wohl der Genuss der Selbstbestimmung! Oder noch anders: Es handele sich um Dokumente der Selbstbegegnung, um Dokumente der reflektierten Selbstbegegnung. Zur Nachahmung empfohlen!

Lieber nichts sagen, Autoren sind empfindlich

Man könnte nun fragen, wo in der Denunziation des Apfels und dem Hohelied auf die Birne die Selbstbegegnung liegt? Und ist diese Definition der Birne denn wirklich haltbar: Birnen „lehnen ihren Kopf gelassen an die Erde, schließen die Augen und bieten der oberen Welt einen sakralen Stiel, an dem man sie feierlich durchs Land tragen kann“. – Kann man einen Apfel etwa nicht am Stiel durchs Land tragen? Und was heißt, Birnen seien „süßherbe Naturen, aus der Gemeinde der herbstlichen Rauchzartgewächse“? Stammt etwa Helmut Kohl aus der Familie der herbstlichen Rauchzartgewächse? Schon 1983 erschien von zwei Autoren das Buch „Die Birne. Das Buch zum Kanzler“. Nein, die Birne und Grandezza, das geht zu weit.

Lieber nichts sagen, Autoren sind empfindlich. Und ist es nicht wunderbar, dass er Äpfel mit Birnen vergleicht? Jedes Kind lernt, dass man das nicht darf. Ein Autor aber ist jemand, dessen Pflicht darin besteht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen! Denn nur dem Vergleich des Unvergleichbaren entspringt wirkliche Erkenntnis.

Und ja, es lohnt sich unbedingt, die Welt mit Ortheils Augen zu sehen, sogar die Welt des Frühstücks. Hotels verlässt er am frühen Morgen, um irgendwo in der fremden Stadt ein Café zu finden. Was er höchstens frühstücken will: einen Cappuccino mit einer doppelten Portion Kaffee darin, eine Brioche, Orangenmarmelade und über Nacht in Wasser eingeweichte iranische Feigen.

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