Berlin-Bücher: Hanns-Josef Ortheils famose "Berlinreise"
Als Zwölfjähriger besuchte der Autor 1964 mit seinem Vater die Stadt an der Spree. Seine damals zum Reisetagebuch geformten Notizen hat er jetzt veröffentlicht.
Ach, die Berliner, in diesem Fall die West-Berliner, die sich gerne auch – wir schreiben das Jahr 1964 – „Insulaner“ nennen. Müssen immer ein bisschen dicke tun, selbst zwölfjährigen Besuchern aus Köln fällt das auf: „Ich würde nicht besonders gern Insulaner sein, aber die Berliner sind sehr gerne Insulaner und sogar stolz darauf, es zu sein. Das Insulaner-Sein ist eben was Besonderes, und die Berliner sind gern etwas Besonderes. Die Kölner dagegen sind nichts Besonderes, sondern einfach nur Kölner. Das reicht.“ Und so bekommen der Junge und sein Vater in der kleinen Lichterfelder Pension auch nicht einfach „Strammer Max“ serviert, sondern „Strammer Max auf Berliner Art“ – weil in Berlin „ja fast alles etwas ,auf Berliner Art‘ ist“, eben was Besonderes.
Hübsch beobachtet, da hat der Knabe wohl recht. Hanns-Josef Ortheil heißt er, heute 62 Jahre alt, Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim, Pianist und erfolgreicher Schriftsteller. Als solcher ist er mit seiner jüngst bei Luchterhand veröffentlichten „Berlinreise“ mal wieder auf den Spuren seiner Kindheit unterwegs. Auf denen wandelte er schon 2010 in „Die Moselreise“, diesmal ist er also mit Papa an der Spree unterwegs. Genauer gesagt: er war, denn die Schilderungen der neun Tage im Frühjahr 1964 sind nicht etwa, so stellt Ortheil in einer Vorbemerkung klar, nachträgliche Erinnerungen des Erwachsenen, sondern ein Reisetagebuch des Zwölfjährigen, das er seinem Vater nachträglich zu Weihnachten schenkte. Schon mit etwa sieben habe er begonnen, sich „täglich Notizen und Aufzeichnungen über all das zu machen, was mir besonders auffiel und durch den Kopf ging“. So habe er es auch in Berlin gehalten, aus diesem Fundus dann den nun veröffentlichten Text geschaffen, dabei „die von der Reise mitgebrachten Notizen zu einer Art kleinem Reiseroman ausgearbeitet“. An dem habe der Vater nur dann und wann „einige kleinere orthographische und stilistische Korrekturen am Text“ vorgenommen.
Mehr Wahrheit als Dichtung also, wenngleich der Untertitel das Buch dann als „Roman eines Nachgeborenen“ ausweist, Ortheil ihm also offenbar doch eine zumindest semifiktionale Ebene zugesteht – zumal ohnehin die Verbindung von kindlich schlichtem Ton und feinsinniger Beobachtungsgabe bei einem Zwölfjährigen, selbst wenn daraus ein Professor für Kreatives Schreiben wurde, zumindest überrascht. „Ein richtiger Teufelskerl“, staunt Reinhold, der etwas großsprecherische, eben typisch berlinische Freund des Vaters. So kann man das sagen.
Aber egal, ob es sich nun mehr um ein „Tagebuch“ oder einen „Roman“ handelt – Spaß zu lesen macht „Die Berlinreise“ auf alle Fälle, nicht zuletzt wegen ihrer hinter der kindlich-schlichten, vermeintlich naiven Oberfläche stets hervorlugenden Ironie, mit der der „Bub“, wie er sich in den offenbar lückenlos aufbewahrten Postkarten an die Mutter selbst nennt, den Berliner Alltag der frühen Mauerjahre beschreibt. Sie selbst hatte sich strikt geweigert, die Stadt noch einmal zu besuchen, verband damit zu viele traurige Erinnerungen. In Lichterfelde hatten Ortheils Eltern kurz vor dem Krieg die erste gemeinsame Wohnung bezogen, Beginn einer kurzen glücklichen Zeit. Dann wurde der Vater Soldat, und die Mutter erlitt während eines Bombenangriffs eine Fehlgeburt.
Der kleine Hanns-Josef ist also in der Tat ein „Nachgeborener“. Einer, der auf seiner ersten Berlinreise auch die Vergangenheit seiner Eltern, seine Herkunft also, kennenlernt – durch alte Freunde, durch Orte, die im früheren Leben der Eltern eine Rolle spielten, vor allem aber durch zwei Koffer, die die Mutter vor Jahrzehnten zurückließ, vollgestopft mit Erinnerungsstücken und ihren Haushaltsbüchern, in denen sie ihren Alltag festgehalten hatte.
Zugleich ist das Buch eine Reise in die Gegenwart der Stadt des Jahres 1964, in der trotz allen Neubeginns so viel dunkle Vergangenheit noch allgegenwärtig ist. Deren Trennung sich zudem immer mehr verfestigt, jedes Kind kann das spüren: „In Ost-Berlin ist alles irgendwie angespannt und sehr anstrengend, und es lag eine Art von Knistern in der Luft, denn nichts war so, wie wir es aus dem Westen gewohnt waren.“ Noch 25 Jahre bis zur Wende.
Hanns-Josef Ortheil: Die Berlinreise. Roman eines Nachgeborenen. Luchterhand, München. 288 Seiten, 16,99 Euro
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