Die Birnen von Ribbeck: Fontanes Früchtchen
F.C. Delius schrieb 1991 den ersten Wenderoman. Er spielt in Ribbeck. Ein literarischer Dorfspaziergang zur Birnenzeit.
Birnensenf, Senf mit Birnen also. Friedrich Christian Delius schaut erstaunt auf das Gläschen, es ist mit Schraubdeckel und Haltbarkeitsdatum versehen. Er staunt über die menschliche Erfindungsgabe und vielleicht ein wenig darüber, dass ihm so etwas nicht eingefallen ist. Denn vieles andere um den Senf herum hat er vorhergesehen.
Er sieht Gläser mit Birnenmarmelade vor sich im Regal, Birnenbrand-Fläschchen, Birnenlikör, Birnenessig und Birnenbalsam. Doch Senf, sagt Delius, „darauf ist der Delius nicht gekommen“. Der Delius kam stattdessen – ein Vierteljahrhundert ist das her – auf eine Vision: „ganz Ribbeck lebt von der Birne“, schrieb er damals, „Touristen kaufen Birnen zum Mitnahmepreis, Exportschlager Ribbecker Birnengeist mit und ohne Birne in der Flasche, Aschenbecher, Hemden, Schnapsgläser, Schallplatten, das unerschöpfliche Birnenmotiv überall, bis uns die Birnen zum Hals, aber wir leben davon, und Fernsehleute, Dichter, Werbemenschen veredeln uns Ribbeck, so spendet Segen noch immer Fontane“.
Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius ist zurück in Ribbeck im Havelland. Zurück am Schauplatz eines berühmten Fontane-Gedichtes, in dem es um einen gütigen Feudalherren geht, der – „Und kam die goldene Herbsteszeit“ – Obst an Kinder verschenkt.
Delius ist zurück am Handlungsort eines seiner eigenen Bücher. „Die Birnen von Ribbeck“ heißt es, ein atemloses, schmales Büchlein, bestehend aus einem einzigen, 70 Seiten langen Monolog. Mit nur einem Punkt am Ende, aber vielen Kommas. Es ist das erste Buch jener Gattung, die später Wenderoman genannt werden würde.
"Delius hamwer nicht"
Ob sie hier, im Museumsladen des Ribbecker Schlosses, neben all den Lebensmitteln und Büchern auch sein Buch im Angebot hätten? „Das haben wir nicht“, sagt die Frau hinterm Tresen. „Im Buchladen kriegen Sie das überall.“ Wo der nächste sei? „In Nauen.“ Zehn Kilometer entfernt. Drüben, einmal quer durch den Schlossgarten und über die Kopfsteinpflasterstraße, im Verkaufsraum der Ribbecker Kirche, kommt dieselbe Antwort. „Das hamwer nicht. Fontane hamwer überwiegend.“
Hat Delius sich schon so gedacht. Es gibt maßgebliche Menschen in Ribbeck, die das Buch nicht mögen. Der Feudalherr wird darin als nicht ganz so grundgütig beschrieben wie bei Fontane. Er hat, so steht es im Buch, nicht nur Früchte verschenkt, sondern Kindern auch mit der Peitsche gedroht. Delius selbst hat es gerade noch einmal gelesen, und er findet: „Das hat ja alles noch Substanz.“
Friedrich Christian Delius, Jahrgang 1943, Pfarrersohn, in einem hessischen Dorf aufgewachsen. Zum Studieren nach West-Berlin gegangen und dort, von einigen Jahren in Rom abgesehen, bis heute geblieben. 26 Jahre, nachdem er das Birnen-Buch geschrieben hat, fährt er noch einmal hinaus ins Havelland. Gewissermaßen, um nach dem Rechten zu sehen. „Ich war lange nicht mehr da.“
Damals brach die Sprache aus den Leuten hervor
Delius hat auf dem Beifahrersitz Platz genommen und fängt an zu berichten. Von West-Berlin und ’68, vom Lebensgefühl in seiner Hälfte der Stadt zu Zeiten der deutschen Teilung und davon, dass deren Bewohner ja auch irgendwie Gefangene waren. Wer raus ins Umland wollte, brauchte Papiere, das Mindestumtauschgeld und Nerven, was spätestens im Januar 1990 beendet war, und dann begann Delius, andauernd rauszufahren.
Er fuhr die Ausfallstraßen ab, die nun tatsächlich wieder Ausfallstraßen waren, und nicht bloß Sackgassen. In alle Himmelsrichtungen fuhr er, auch nach Westen, Spandau raus, Richtung Ribbeck, das er kannte, vom Fontane-Gedicht, und ansonsten durch die Windschutzscheibe. Als hier noch die Transitroute in die Bundesrepublik durchging, Leute wie er aber nicht anhalten und aussteigen durften. „Ein großes Glück“, sagt Delius, „ich hatte endlich wieder Nachbarn.“
Delius stieg aus damals. Er begegnete Manfred Klawitter. Der Traktorist bei der örtlichen LPG hatte gerade seine Kaninchen gefüttert, hinten, bei der baufälligen Scheune beim Ribbeck-Schloss, das damals noch ein Altenheim war. „Hier vorne“, erinnert sich Delius, „da kam mir ein Mann entgegen. So zwischen 50 und 60 Jahre alt ist er gewesen. Und dann, nach ein, zwei Fragen, fing der an, zu reden. Es sprudelte aus ihm heraus.“
Die Ribbeck-Geschichte. Die DDR-Geschichte. Die Zukunft. Die komische, bittere, beinharte Wendezeit. Der Krieg, der Vorkrieg. „Von der Mumie in der Kirchenmauer bis zum Ärger mit dem Parteisekretär berichtete er“, sagt Delius. „Ich war hinterher völlig erledigt.“
Delius bemerkte etwas. Einen historischen Moment. „Das war die Zeit, als die Sprache aus den Leuten hervorbrach.“ Er bemerkte auch: „Das wird nicht lange so bleiben.“ Sie würden bald verarscht werden von Bratpfannen- und Lebensversicherungsverkäufern und Immobilienheinis, von „Leuten, die über die Dörfer zogen und ihnen die alten Schränke abnahmen für einen Appel und ein Ei“, und dann verstummen.
"Die deutsche Einheit muss her, weil alles keinen Zweck hat"
Delius schaut und redet. Er bedauert – die Sonne scheint noch golden – seinen Strohhut nicht mitgebracht zu haben. Er blickt auf die Scheunenruine, da, wo Klawitters Kaninchenställe einst gestanden haben, und auf das schäbige Mehrfamilienhaus daneben. Dann verstummt er.
Eine alte Frau tritt heraus, schüttet Spülwasser auf die Rabatten. Delius guckt, irgendwoher kennt er sie, und geht ein paar Schritte auf sie zu. „Wissen Sie, ob der Herr Klawitter noch lebt?“ – „Nee, der lebt nicht mehr. Das ging dann auch ganz schnell.“ Klawitter. Bedacht mit einer Danksagung am Anfang des Buches. „Ribbecks Sagengeschichte hat er erzählt“, sagt Delius.
Klawitter habe ihm den entscheidenden Satz gesagt: „Die deutsche Einheit muss her, weil alles keinen Zweck hat.“ Delius sei fasziniert gewesen von dieser „Nicht-Logik“, sagt er. „Ab diesem Moment wollte ich das auch. Da ist eine ganze Weltsicht drin.“
Er hat die Leute gegeneinander aufgewiegelt
Er läuft kreuz und quer durch den Dorfkern. Vom Schloss zur Kirche, zum Gut, entlang der ewig nicht fertig werdenden Eigentumswohnungen dort und dann hinüber zur alten Dorfschule, die heute eine Gaststätte und ein Veranstaltungsort ist. Der Wirt erkennt ihn. „Was für eine Ehre“, sagt er, „ich bin der Schuldirektor hier.“
Delius’ Buch sei umstritten im Ort, nach wie vor. Er selbst teile das nicht, sagt der Wirt, Delius hatte ja recht mit vielem. „Wir haben jetzt sechs Cafés hier, das ist die größte Kaffeehausdichte Brandenburgs.“ Es sei „trubelig und rummelig“ geworden in Ribbeck, haufenweise Busse würden vorfahren im Dorf. „Wir sind jetzt Berliner Speckgürtel, bis hier raus gibt es so gut wie keine Baugrundstücke mehr.“ Es gebe richtig volle Kitas in den Dörfern, zehn Jahre zuvor hätten die noch vor der Schließung gestanden.
Gräben zwischen den Leuten, sagt der Wirt, Gräben des Buches wegen, gebe es keine mehr. Delius ist erleichtert.
Er hat einigermaßen schwer daran getragen, die Leute hier gegeneinander aufgewiegelt zu haben. Er hat Klawitter befragt, ein Dutzend andere und dann daraus ein beachtetes Buch gemacht. Er, ein Westler, ist in den Osten gefahren, um ihn zu beschreiben. Vor allen anderen.
Ein Wessi klaute den Ostdeutschen das Thema
Das „Literarische Quartett“, vom Mai 1991. Sigrid Löffler sagt: „Die Geschichte versucht, das Dorf Ribbeck, das es ja wirklich im Havelland gibt“ – Löffler sagt Hawwelland – „von einem heutigen, älteren Bauern beschreiben zu lassen, der zum fünften Mal in seinem Leben den Herrn wechselt. Und jetzt erlebt er, dass die Westdeutschen kommen und anfangen, die Güter aufzukaufen. Ich muss sagen, ich habe es besonders widerwärtig gefunden.“
Sie fährt fort: „Delius ist ein westdeutscher Autor.“ Einer, der den ostdeutschen Schriftstellern das Thema weggenommen habe.
Delius trägt bis heute daran, der Erste gewesen zu sein und eine Geschichte aufgeschrieben zu haben, die ihre Prominenz aus einem Fontane-Gedicht bezieht, auf Anschauung beruht und dem Sinn fürs Zuhören. Er ist damals nach Hause gefahren und hat auf einen Zettel notiert: „Titel: Die Birnen von Ribbeck.“
Delius läuft durch den Ribbecker Schlossgarten. Haufenweise Birnbäumchen stehen hier, die deutschen Bundesländer haben jeweils eines spendiert. „Der deutsche Birnengarten“ heißt die Anlage. „Amanlis Butterbirne“, von Hessen gestiftet, ist jetzt, im Spätsommer, schon reif. Die „Bunte Julibirne“ aus Schleswig-Holstein ist hin.
Reisetipps für Ribbeck
ANREISE
Von Berlin aus kommend über die B5, kurz hinter Nauen links abbiegen. Aus Magdeburg über die A2, die A10 und dann die B5
SEHENSWERT
In der Dorfkirche kann man den Originalstamm jenes Birnbaums besichtigen, den Fontane in seinem Gedicht beschrieben hatte.
Das Schloss Ribbeck wurde 1893 errichtet. Der neubarocke Bau dient heute als Fontane-Museum und Ausstellungsort, als Standesamt, Restaurant und Café.
IN DER NÄHE
Ribbeck liegt im Havelländischen Luch, dem Herzen des Havellandes. Ein großer Teil ist als Naturschutzgebiet ausgewiesen, hier kann man die gefährdete Großtrappe beobachten. Gut zu erreichen über den Havelland-Radweg. Mehr Infos unter: havelland-tourismus.de