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Christian Petzold
© Mike Wolff

Regisseur Christian Petzold: „Uuuuuh, die Sache wird nicht nur angenehm“

Christian Petzold erinnert sich an den Fall der Mauer und den Irrsinn danach. Er verrät seinen Lieblingsplatz im Kino und welches deutsche Volkslied das beste ist.

Herr Petzold, alle Ihre Filme haben Deutschland zum Thema. Die RAF, die DDR, die Nachkriegszeit. Wann haben Sie das erste Mal erfreut registriert: Hey, ich bin Deutscher!

Als Deutschland bei der Europameisterschaft 1972 im Wembleystadion 3:1 gegen England gewonnen hat. Netzer, Beckenbauer, Hoeneß, Grabowski. Ich dachte, dieses Muffland, in dem ich groß werde, dass daraus so wunderschöne Spielzüge entstehen können – unglaublich!

Haben Sie ein spezielles Deutschlandbild im Kopf?

Es gibt keins. Wenn die Franzosen für Gauloises Reklame machen, ist das ganz einfach. Die zeigen die kupferbeschlagenen Dächer von Paris, ein Mädchen mit einem Kleid wie Isabelle Adjani in „Ein mörderischer Sommer“, ein Glas Rotwein … Und Deutschland? Zwei Männer mit Bierflasche am Grill? Die deutschen Bilder müssen erst erfunden werden, da halte ich es mit dem jüdischen Denken: Der Messias kommt noch.

Und wie klingt das Land?

Ich saß neulich im Flugzeug, und als wir die Wolkendecke durchbrachen, dachte ich: „Über den Wolken“ von Reinhard Mey ist ein richtig großes Lied. Nie zuvor wurden Zeilen wie „Irgendjemand kocht Kaffee / in der Luftaufsichtsbaracke“ gesungen. Was erzählt das Lied? Dass wir Deutschen nur über den Wolken frei atmen können, nicht auf Erden, nicht auf dem „nassen Asphalt“ dieses Songs. Es ist das einzige gute deutsche Volkslied.

Ihre drei Favoriten unter den Deutschland-Filmen?

Ich liebe Listen, ich fülle sie nur nicht gern aus. Es sind immer Jungs, die das tun, wie in Nick Hornbys Roman „High Fidelity“. Also gut: „Alice in den Städten“ von Wim Wenders, weil ich da mit 14 das erste Mal gesehen habe, dass meine Welt auch im Kinoland existiert. Der ist in Wuppertal gedreht, und in der Eisdiele Taormina habe ich selbst Erdbeereis geschleckt. Dann „Rocker“ von Klaus Lemke. In unserer Kleinstadt gab es die Haaner Kirmes mit der Jaguarbahn, ein schnelles Karussell, das durch eine Höhle fuhr. Wagen rasten vorbei, Mädchen kreischten. Dort standen Tätowierte, Männer mit breiten Nietenlederbändern und Jim-Morrison-Hosen, die das Geschlecht ausstellten. Ich sah „Rocker“ und wusste, das ist der Film aus der Höhle. Und Helmut Käutners „Unter den Brücken“. Während das nationalsozialistische Dreckssystem zusammenbricht, versammelt Käutner die Reste des Humanen wie in einer Überlebenskapsel.

Inzwischen gibt es unzählige Filme über die Shoah. Nun auch noch Ihren.

Der Raum der Shoahfilme ist viel kleiner als der Raum mit lauen Unterhaltungsfilmen mit Walter Giller, die in Italien spielen. Und es gibt fast keinen, das war für mich das Motiv, der von den Rückkehrenden erzählt. Gibt es darüber Literatur? Von Heinrich Böll und Wolfgang Borchert „Draußen vor der Tür“, zu meiner Zeit Schulstoff, aber das ist es auch schon. Wir haben keine Nachhausekommfilme, sondern Heimatfilme. Die sehen aus wie Modelleisenbahnwelten. Da wird der Traum vom harmonischen Glück nachgebaut, es gibt eine Kirche, einen Marktplatz, und die Lok fährt immer im Kreis herum, sie bricht nie aus.

In Ihrem neuen Werk „Phoenix“ geht es um eine Überlebende der Nazi-Lager. Wann hatten Sie denn das erste Mal eine Vorstellung vom Holocaust?

Als „Nacht und Nebel“ in der Schule gezeigt wurde, ein Film von Alain Resnais. Da bekam der Schrecken für mich ein Bild. Später erfuhr ich, dass die deutsche Delegation protestiert hat, als der Film 1956 in Cannes laufen sollte, er wurde tatsächlich aus dem Wettbewerb genommen.

Woran erinnern Sie sich?

An das Gerippe eines Stahlstuhls und die Assoziationen, die das bei mir auslöste: Folterungen, Erschießungen, medizinische Experimente. Resnais zeigt ja Bilder aus Auschwitz nach dem Krieg, die Ruinen, lediglich Spuren. Da gibt es eine lange Kamerafahrt über das Gelände des Vernichtungslagers, dazu hört man einen Text von Paul Celan, so in der Art: „Wer wird uns schützen, wenn sie wiederkommen, die Täter, werden wir diesmal wachsamer sein …“ Dieser Stuhl ist ein Friseurstuhl, vielleicht ganz harmlos, doch mit diesen Worten dazu ist es das Grauen.

Resnais zeigte auch Berge von Leichen.

Die sind in ihrer unfassbaren Brutalität nicht zu verarbeiten. Ich war damals elf, zwölf Jahre alt.

"Die wollten amerikanische Musik hören"

Regisseur Christian Petzold, 54, mit Ronald Zehrfeld am Set von "Phoenix".
Regisseur Christian Petzold, 54, mit Ronald Zehrfeld am Set von "Phoenix".
© hoehnepresse/Christian Schulz

Christian Streich, der Trainer des SC Freiburg, hat uns erzählt, er sei als Schulkind im Unterricht von solchen Bildern unvorbereitet überwältigt worden. Die hätten ihn völlig verstört.

Stimmt, man kriegt da keine Ordnung rein, das geht mir bis heute so. Der Regisseur Sam Fuller war als amerikanischer Soldat bei der Befreiung eines KZ dabei und hat mit einer 16-mm-Kamera gefilmt, er konnte dieses Material zeit seines Lebens nie schneiden. Auch Alfred Hitchcock hat die Leichen gesehen und konnte daraus keinen Film machen.

Ihre Eltern kamen Ende der 50er Jahre aus der DDR, Sie sind 1960 im Westen geboren. Mit welchen Erzählungen sind Sie aufgewachsen?

Meine Eltern sprachen darüber nicht viel, weder von der DDR noch vom Nationalsozialismus. Der war verdrängtes Gebiet, für meine Mutter mehr, weil ihr Vater bei der Waffen-SS war. Meiner hat bei Kriegsende als Kind wohl Schreckliches erlebt, da saß was tief drin. Die konnten mir auch den Kalten Krieg nicht erklären. Ihr Wunsch, in den Westen zu gehen, war ja kein antikommunistischer Reflex, die wollten amerikanische Musik hören, Filme mit James Dean sehen, wollten Weißwandreifen.

Trotzdem haben die Eltern mit Ihnen alle Ferien in der DDR verbracht.

Für mich gab es keine Nordsee, kein Mallorca, nur den Osten. Bei Wolf Biermann hieß es „Bei uns ist Ordnung groß – wie bei den sieben Zwergen“. So habe ich die DDR erlebt, am Samstag isst man Pflaumenkuchen unterm Baum, die offiziellen Feiern sind Pflicht, leben tut man in einer Blase.

Der Westen jener Jahre war auch spießig.

Aber anders! Ich bin in einer Reihenhaussiedlung groß geworden, in Nordrhein-Westfalen. Der Verkehrsminister sagte, kein Bürger soll weiter als drei Minuten von einer Autobahnausfahrt wohnen, und so sieht die Gegend zwischen Wuppertal und Düsseldorf auch aus.

Gab es je die Überlegung, zurück in die DDR zu gehen?

Bei meinem Vater ja, das hat mich gewundert. Er wurde 1974 arbeitslos, eine Folge der ersten Ölkrise, für dreieinhalb Jahre. Er merkte: Ein Reihenhaus hat Wohnzimmer, Schlafzimmer, zwei Kinderzimmer, es ist konzipiert für Männer mit Arbeit, denn die Küche ist das Feld der Mutter. Vater hatte für sich keinen Ort mehr. Er ist dann rausgegangen, hat sich ein alkoholisches Getränk mitgenommen und in seinen Citroen gesetzt, dort hörte er mit geschlossenen Augen klassische Musik. Ein gespenstisches Bild. Ich verstehe gut, wenn sich Menschen heute im Jobcenter gedemütigt fühlen, in einer Gesellschaft, in der jeder durch die Arbeit seine Identität finden soll. Wenn man auf einer Party gefragt wird: was machst du?, kann man ja schlecht sagen: Ich sitze im Citroen und höre Beethoven. Man wird trotz staatlicher Zuwendungen zu einem Geist, gerät an den Rand des Verlöschens. Mein Vater sagte, ich gehe wieder in die DDR. Dann wurden doch nur die Stunden im Auto länger.

Bald wird gefeiert, 25 Jahre neues Deutschland. Wo waren Sie am 9. November 1989?

Ich saß mit Freunden im Wedding zusammen, nahe der Bornholmer Straße. Wir hörten die Nachricht im Radio und gingen sofort zum Grenzübergang, haben zugeschaut, wie die Leute rüberströmten, das sah toll aus. Wenige Tage später hörte ich zum ersten Mal, bei euch gibt es zu viele Ausländer. Im Sommer darauf machten wir eine Radtour nach Königs Wusterhausen, meine Frau, Harun Farocki …

Der Filmemacher, mit dem Sie eng zusammengearbeitet und all Ihre Drehbücher geschrieben haben.

… da sollte ein schönes Freibad sein. Harun ist Halb-Inder, meine Frau Türkin. Als wir da waren, hieß es: Was wollt ihr denn hier!? Wir fuhren zurück und dachten: Uuuuh, die Sache wird nicht nur angenehm.

Sehen Sie das heute noch: Ost und West?

Sofort. Nicht bei einzelnen Menschen, aber der Osten erlebte einen ganz anderen Wiederaufbau. Die DDR hatte kein Geld, die Stadtzentren zu zerlegen, die ließ den historischen Kern verfallen und baute neu am Rand, Halle-Neustadt. Ein schmuck renoviertes Zentrum, daran erkenne ich den Osten.

Denken Ihre Kinder, 18 und 14 Jahre alt, noch in solchen Kategorien?

Ach was, die bewegen sich durch Berlin ohne jedes Ost-West. Manchmal zeige ich ihnen, wo die Mauer war, doch wer sie nicht kannte, kann das Verschwundensein der Grenze kaum bemerken.

Wenn Sie Besuch bekommen, was zeigen Sie dem von Berlin?

Je länger ich in Berlin lebe, desto mehr brauche ich Besuch von auswärts, um die Stadt wahrzunehmen. Erst mit Hanns Zischlers Buch „Berlin ist zu groß für Berlin“ bin ich wieder auf Entdeckungstour gegangen. Diese Stadt weiß selbst nicht, wer sie ist, man merkte das beim Streit ums Tempelhofer Feld. Da radele ich durch die Hasenheide, einen schönen englischen Park mit Tälern und der Rixdorfer Höhe, und komme zu diesem Flughafen, platt wie ein Pfannkuchen. So ein nicht definiertes Stück Stadt ist grandios. Gleichzeitig bin ich für gebaute, gestaltete Stadt. Doch man hat Berlin nach dem Mauerfall einfach dem Kapitalismus überlassen. Potsdamer Platz, Alexanderplatz, Baumärkte an allen Ecken, veritable Scheußlichkeiten, um den Hauptbahnhof eine Wüste. Es fehlt die Grandezza.

Sie studierten 1989 an der DFFB, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, und haben einen kleinen Dokumentarfilm über die Bundesstraße 2 gemacht, „Ostwärts“.

Unser Dozent hat uns losgeschickt, „Kinners, hier liegen Kameras rum, macht was“. Die B 2 verbindet Deutschlands Süden mit dem Nordosten und geht durch Berlin. Ich habe ein Jahr nach dem Mauerfall angefangen, am Alexanderplatz, mit einem der orangefarbenen Busse der DFFB. Da stand ein betrunkener Mann in Burberry-Klamotten, sehr teuer gekleidet, er winkte uns zu und lallte: „Tassi!“ Wir erklärten ihm, wir seien kein Taxi, und er: „Fooum’otel.“ Wir sagten, das Forum Hotel sei gleich da drüben, aber er kapierte nichts, „fahtmichin“, also fuhren wir ihn die paar Meter, der Verkehr rund um den Alex ist ja für einen Besoffenen gefährlich. Es stellte sich heraus, der Mann war Manager, der Immobilien für Fonds kaufte und sich an dem Tag einige Filetgrundstücke einverleibt hatte, das hatte er begossen. Er hat uns für den Service 50 Mark gegeben.

Was haben Sie auf der B 2 noch erlebt?

Es war wie in Heinrich von Kleists Novelle über das Erdbeben von Chili. Immer wenn etwas zusammenbricht, kommen die Irren, die Religionseiferer, die Schamanen, und solche Wahnsinnigen gab es auch entlang der B 2. An einer Stelle haben sie „Face Art Royal“ gemacht, Gesichtsbemalung, wonach man wie eine Katze aussah. Allein der Ausdruck „Face Art Royal“ ist genial. Ich kam auch an dieser riesigen Müllkippe vorbei, wo die DDR ihren Müll ablud, und den vom Westen gegen gutes Honorar. In der Luft waren Millionen von Vögeln, es sah aus, als liege die ganze DDR am Meer. Mein Film ist allerdings völlig misslungen.

"Vertigo von Alfred Hitchcock habe ich 50 Mal gesehen"

Christian Petzold
Christian Petzold, 54, lebt in Berlin.
© Mike Wolff

Sie sind ein besessener Kinogänger und …

… durch die Kinder hat das nachgelassen. Ich schaue immer noch fast jeden Tag einen Film an, inzwischen allerdings viel auf DVD. Zu Hause stehen schon 1200 Stück. Wenn ich ins Kino gehe, dann gerne alleine, eben weil da auch andere sind. Das Kino ist ein Ort der kollektiven Einsamkeit.

Der Regisseur Pepe Danquart sitzt gern ganz weit vorne, um total im Film drin zu sein.

Die in der ersten Reihe sitzen, heißt es in Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Piloten“, die wollen mit dem Film wegfliegen. Ich möchte das nicht. Ich sitze gern zehnte Reihe rechts. Da habe ich etwas Distanz und kann früher gehen, ohne zu stören. Für mich ist Kino: eine Silhouette von Zuschauerköpfen zu sehen und dahinter die Leinwand.

Die drei besten Berliner Kinos sind …?

Das FSK am Oranienplatz. Da gehe ich zu Fuß hin und schaue an, was gerade läuft. Das ist das Gegenteil von DVD. Ich treffe keine Kaufentscheidung, ich entdecke etwas. Ganz wichtig ist die Frage: Was ist nachher? Man braucht nach dem Kino einen Weg, der dem Film guttut. Deshalb mag ich das Neue Off in Neukölln, auch den Zoo Palast und das Delphi mit ihrer Umgebung. Das Arsenal wäre das beste Kino der Stadt, aber danach der Potsdamer Platz, das ist das Ende.

Und die drei besten Filme überhaupt?

„Vertigo“ von Alfred Hitchcock habe ich gut 50 Mal gesehen. Weil sich der Film dem Traum nähert, ohne Nebel, ohne blühende Wiese in schönem Licht. Er zeigt die Obsession, man schaut einem Perversen zu, der versucht, wieder einen hochzukriegen. Und die Frauen werden dafür zugerichtet. Mindestens 20 Mal habe ich den Film auch gehasst. Dann ist „The Deer Hunter“ von Michael Cimino eins der ganz großen Meisterwerke. Und ich zähle mal den Zeichentrickfilm „Chihiros Reise ins Zauberland“ von Hayao Miyazaki dazu, den habe ich mit meinen Kindern gesehen, als sie klein waren. Ein Mädchen zieht mit seinen Eltern um und wird aus seinem Leben gerissen. Das zeigt der Film nicht, das ist schon mal toll. Schlechte Filme zeigen am Anfang das Glück, die heile Welt, das, was die Helden verlieren. Gute Filme zeigen den verlorenen Menschen, der unter dem Verlust leidet. Irgendwann verwandeln sich die Eltern in Schweine. Bei der Szene hat sich das halbe Kino geleert, etliche Kinder mussten rausgetragen werden.

Und Ihre?

Sind hart im Nehmen.

Herr Petzold, Sie haben mal gesagt: „Ich bin nie einsam beim Schreiben.“ Nun ist Ihr enger Freund und Arbeitspartner Harun Farocki im Sommer mit 70 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.

Noch habe ich gemeinsame Projekte, gerade drehe ich einen „Polizeiruf“. Dann kommt „Transit“ nach Anna Seghers, auch noch von uns beiden geschrieben. Ich bin also abgelenkt. Ich radelte immer von Kreuzberg über die Modersohn-Brücke zu ihm nach Friedrichshain. Durch die Knorrpromenade, wo um die Ecke auch die Kneipe von Borussia Mönchengladbach ist, da gucke ich gerne Fußball. Nächstes Jahr werde ich Pause machen, ich muss nachdenken, wie es ohne Harun weitergeht. Ich kann mir das im Moment gar nicht vorstellen.

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