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Die Menschen werfen Schatten, die Bäume nicht. Alain Resnais’ berühmtester Film „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) entstand nach einem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet. Zwischen Wachen und Träumen sind viele Werke des Franzosen angesiedelt.
© IMAGO

Zum Tod von Alain Resnais: Zwischen Tag und Traum

Der französische Filmemacher Alain Resnais ist am Samstag in Paris gestorben, einer der letzten ganz großen Filmkünstler seiner Generation. Er war ein Meister des Labyrinthischen, der seine kühlen, kühnen und später immer leichteren Filme dem Verwirrspiel zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit widmete.

Am Ende von „Das Leben ist ein Chanson“ (1998) schwimmt eine Qualle durchs Bild. Sie kommen alle zur Party, Sabine Azéma, die Gefährtin des Regisseurs, Pierre Arditti, Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri, André Dussollier, Lambert Wilson, sämtliche Mitglieder von Alain Resnais’ geliebter Schauspielerfamilie, die in diesem Pariser Alltagsreigen lauthals französische Schlager geschmettert haben, „Nathalie“, „Resiste“, „Paroles“, die ihr Glück versucht und ihr Unglück gefunden haben – und was macht Resnais, der Meistermonteur? Er verschmilzt die Bilder, fügt der Partyszenerie den Schleiertanz der Qualle hinzu und entgrenzt den Realitätssinn einmal mehr um das Wunder der Poesie.

Alain Resnais, einer der letzten ganz großen europäischen Filmkünstler seiner Generation, ist tot. Er starb am Samstag in Paris im Kreis seiner Familie, mit 91 Jahren, Präsident Francois Hollande würdigte ihn mit den Worten, Frankreich habe einen seiner größten Filmemacher verloren. Weit über 60 Jahre lang hat er Filme gedreht, und die Qualle kann man getrost zu ihrem Wappentier erklären, zum fragilen Inbild dessen, was Resnais’ Werk auszeichnet. Da ist die Melancholie, die schon seine ersten Spielfilme grundierte, „Hiroshima, mon amour“ (1959) und „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961). Da ist die Eleganz, mit der Delphine Seyrig durch die mondän-dekadenten Hotels eines imaginären Marienbad geisterte. Da sind die Traumspiele, die Resnais den Katastrophen des 20. Jahrhunderts abgerungen hat, wenn er etwa die verstrahlten Leiber der Atombombenopfer und die zarten Körper der Liebenden in „Hiroshima“ miteinander verschränkte.

Heiter, weise. Alain Resnais, 1922 in der Bretagne geboren, starb am Samstag, den 1. März, in Paris. Auf diesem Bild ist er beim Filmfest in Cannes zu sehen, 2002.
Heiter, weise. Alain Resnais, 1922 in der Bretagne geboren, starb am Samstag, den 1. März, in Paris. Auf diesem Bild ist er beim Filmfest in Cannes zu sehen, 2002.
© AFP

Ein Film muss ausreißen können, man darf ihn nicht zähmen wie ein Tier, so sein Credo. Die Freiheit, die er sich als der Formalist der Nouvelle Vague zeitlebens nahm, ist legendär. So kühl seine Bild- und Erzählkonstruktionen, so kühn die visionäre Fantasie dieses Autorenfilmers, der seine Drehbücher nicht selbst schrieb, sondern die Texte einer Marguerite Duras („Hiroshima“), den Nouveau Roman eines Alain Robbe-Grillet („Letztes Jahr in Marienbad“), das politische Denken eines Jorge Semprun („Der Krieg ist vorbei“) oder auch Comicstories („I Want to Go Home“) mit seinen Bildern überblendete und auf diese Weise zum Schweben brachte.

Nicht zuletzt verkörpert die Qualle die Schwerelosigkeit seines Alterswerks. Seit „Meló“, seiner ersten Boulevardtheater-Adaption von 1986, hat Resnais immer mehr Ballast abgeworfen. Er müsse schnelle, schmutzige Filme drehen, er wisse ja nicht, wie lange es noch geht, meinte er. Es ging noch sehr lange, zum Glück. Sein letzter Film lief auf der Berlinale im Februar, „Aimer, boire et chanter“, vor nicht mal drei Wochen.

Es war ein heiteres Wiedersehen mit der flattrigen Sabine Azéma und ihren federleichten Hysterien, mit dem notorischen Pechvogel André Dussolier, dem Theater des Briten Alan Ayckbourn, das Resnais so oft adaptiert hat, der kecken Künstlichkeit von outrierten Dialogen vor Pappmaché-Kulissen und dem guten alten Verwirr- und Vexierspiel zwischen Männern und Frauen. Resnais gewann einen Silbernen Bären, den Alfred-Bauer-Preis für einen Film, „der neue Perspektiven eröffnet“. Was zwar nicht passte, denn das Schöne an „Aimer, boire et chanter“ war ja gerade die Treue, mit der Resnais bei seinen Lieblingsthemen blieb, um sie nach Lust und Laune zu variieren. Aber einen Preis hatte der „junge Mann von bald 92 Jahren“ allemal verdient, wie Dussollier es formulierte, als er die Auszeichnung stellvertretend entgegennahm. Wegen eines Hüftleidens hatte Resnais nicht selber nach Berlin kommen können.

Stereotypen und Archetypen der Liebe, die schätzte Resnais an Ayckbourns Stücken. Im Zwei-Personen-Doppelfilm „Smoking/No Smoking“ von 1994 trieb er das theatralische Moment des „Als Ob“ auf die Spitze. Ach könnte ich doch, ach hätten wir nur: eine köstliche Anleitung zum Unglücklichsein, ein „Walzer des Zögerns“ (Azéma) – auch dafür wurde Resnais auf der Berlinale mit einem Preis geehrt.

Alain Resnais war ein Genie des Konjunktivs, des Möglichkeitssinns, der imaginierten, verworfenen, vergeblichen Existenz. Nicht nur in seinen boulevardesken Stücken, in Filmen mit Kitschtiteln wie „Herzen“ oder „Vorsicht, Sehnsucht“. Sondern auch im Frühwerk, in dem die Erinnerung gleichsam Regie führte und Resnais das Versatzstückwerk der Vergangenheit in Szene setzte, das Memento Mori des Zeitreisenden, die Surrealismen dessen, der von Reminiszenzen heimgesucht wird – meist in präzise abgezirkelten, artifiziellen Dekors. Strenge Form, erzählerische Freiheit: Sein Schwarz-Weiß-Film „Letztes Jahr in Marienbad“, gedreht in den Schlössern Schleißheim und Nymphenburg und mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnet, wurde zur (Stil-)Ikone der Nouvelle Vague. Ein Pionierwerk des Aufbruchs im europäischen Kino, auf dem doch der Schatten des Kriegs und der NS-Zeit lag, wie überhaupt auf den 50er Jahren.

Heimsuchungen, Beschwörungen auch in „Providence“ von 1976: Der Film, in dem John Gielgud als sterbenskranker Dichter und Trinker eine Nacht lang von den eigenen Fieberfantasiegestalten behelligt wird, gilt Dominik Graf als Resnais’ „vielleicht allerschönster Film“.

Das vergisst man ja leicht. Dass der am 3. Juni 1922 als Sohn eines Apothekers im bretonischen Vannes geborene Filmemacher, der in Paris als Cutter ausgebildet wurde und anfangs als Schauspieler unterwegs war, zunächst als Dokumentarist arbeitete. Der junge Resnais drehte Filme über van Gogh und Gauguin, machte Skandal mit „Les statues meurent aussi“, einer kolonialismuskritischen Doku über afrikanische Kunst. Und er sorgte mit seiner KZ-Dokumentation „Nacht und Nebel“ 1955 in Cannes für schwere diplomatische Verstimmungen zwischen Frankreich und Deutschland. Resnais’ Requiem für die Opfer des Holocaust wurde in den 70er Jahren dann in Deutschland im Schulunterricht gezeigt. Viele Nachgeborenen sahen die Bildzeugnisse von den nationalsozialistischen Massenmorden unvorbereitet und waren schockiert. So prägte Resnais auch spätere Generationen: Christian Petzold hat die Schulstunde mit „Nacht und Nebel“, die ihn als 16-Jährigen traumatisierte, in seinem RAF-Film „Die innere Sicherheit“ in Szene gesetzt.

Todesarten und Spielfreude, es gibt kaum einen größeren Gegensatz. Alain Resnais hat Traum und Alptraum des 20. Jahrhunderts in seinen Filmen unabdingbar miteinander verschränkt. Eine Doppelbödigkeit, die noch seine jüngsten Versuchsanordnungen über die Vergeblichkeit der Liebe prägt. Er war ein Spieler, der seine Regeln selber aufstellte, um sie sogleich virtuos, aber nie leichtfertig zu brechen.

„Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, dass es sterben muss. Daher diese Tendenz zum Tragischen“, hat er einmal gesagt. Und dass er deshalb die Fiktion braucht, das Theater, die Akteure. So hat man ihn zuletzt auf den internationalen Festivals gesehen: ein Grandseigner mit schlohweißem Haar, heiter, gesellig, weise. Wenn der Himmel etwas taugt, ist er für Alain Resnais ein Boulevardstück – mit großem Ensemble.

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