Tecumseh und die Schlacht am Thames River: Traum vom Indianerstaat
Tecumseh, Chief der Shawnee, will Amerikas Ureinwohner gegen die Weißen vereinen. 1813 kommt es zur entscheidenden Schlacht.
Der Bluff des Häuptlings bringt die Wende. Seit dem Morgen hat Tecumseh dabei zugesehen, wie seine Waffenbrüder, die Briten, drohend vor dem Fort Detroit aufmarschiert sind. Vergeblich. Noch immer halten die Amerikaner die wichtige Festung an der Grenze zum britischen Kanada besetzt. Was tun? Da hat der Stammeschef eine Idee. Er lässt seine Krieger dreimal hintereinander über dieselbe Waldlichtung gehen, um den Verteidigern vorzugaukeln, die Belagerer erhielten Unterstützung von einem riesigen Indianerheer. Die Täuschung funktioniert. Bald sieht Tecumseh, wie die verängstigten Amerikaner eine weiße Fahne schwenken.
Als Tecumseh kurz darauf an diesem 16. August 1812 in die eroberte Festung reitet, muss ihm das Ganze seltsam vorkommen. Von einer Militärkapelle begleitet gehen britische Soldaten in roten Uniformen neben seinen Männern in Kriegsbemalung durchs Eingangstor. In Wahrheit hasst Tecumseh die Weißen. Doch der schlanke, etwa 44 Jahre alte Mann mit den feinen Gesichtszügen und dem Nasenring ist auch ein Stratege: Er will eine Heimstätte für die indigenen Völker des amerikanischen Nordwestens schaffen. Dafür braucht er die Hilfe der britischen Truppen.
Deren Oberbefehlshaber, General Isaac Brock, vertraut dem Indianer. Tecumseh erscheint ihm als geborener Anführer: ruhig, aber bestimmt, weder unterwürfig noch arrogant. Brock hat ihm ein großes Versprechen gegeben. Für die Unterstützung im seit wenigen Monaten wütenden Krieg gegen die Amerikaner soll er einen indianischen Pufferstaat zwischen den USA im Süden und den Kolonien im Norden erhalten. Als der Chief ins Fort Detroit einzieht, ist er der Erfüllung seines Traums näher denn je.
Auch wenn sich sein Sieg bringender Bluff nicht zweifelsfrei belegen lässt, passt er doch bestens zum Charakter dieses charismatischen Kriegers. Stets versteht er es, seine begrenzten Kräfte optimal einzusetzen und überlegene Gegner gegeneinander auszuspielen.
Dennoch: In einem guten Jahr wird Tecumseh nicht mehr am Leben sein. Und mit ihm wird auch die Hoffnung auf einen Indianerstaat sterben.
Er hat Jeffersons zynische Taktik durchschaut
Der Häuptlingssohn vom Volk der Shawnee hat früh gelernt, dass das Vordringen der Amerikaner seine Kultur existenziell bedroht. 1774, als er sechs Jahre alt war, wurde sein Vater in einer Schlacht gegen die Weißen getötet. Als Halbwüchsiger hat er mitansehen müssen, wie Milizen sein Dorf zerstörten.
Seit ihrem Sieg über die britischen Kolonialherren im Jahr 1783 werden die Amerikaner immer mächtiger. Von Osten aus nehmen sie das Gebiet zwischen den Appalachen und dem Mississippi in Besitz – die Heimat etlicher Indianernationen wie der Shawnee.
Tecumseh entscheidet sich, zu kämpfen. Mehrmals überfällt er amerikanische Außenposten, zieht in Schlachten. Ohne Erfolg. 1794 erlebt er, wie die bislang größte Indianerallianz eine schwere Niederlage erleidet. Nach der Schlacht verwüsten die Amerikaner ganze Siedlungen. Sie scheinen unbesiegbar zu sein.
Doch Tecumseh will immer noch nicht aufgeben. Als einer von wenigen Chiefs lehnt er den folgenden Friedensvertrag ab, der den Invasoren gewaltige Ländereien im späteren Staat Ohio zuspricht. Tecumseh hat die zynische Taktik längst durchschaut, mit der Präsident Thomas Jefferson die USA ausdehnt: In der Nähe indianischer Gebiete lässt er Handelsposten errichten. Dort sollen Native Americans nach und nach hohe Schulden anhäufen, bis sie weiteren Landabtretungen zustimmen.
Unter Jefferson schließen die Vereinigten Staaten 28 Verträge mit indianischen Nationen. Und erwerben so eine Landfläche größer als das heutige Italien – zu einem Spottpreis! Die Parzellen verkauft die Regierung danach mit hohem Gewinn an Siedler weiter. Das Ergebnis: Binnen 15 Jahren steigt die Zahl der Weißen im Ohio-Territorium von 5000 auf 230 000 Menschen.
Sein jüngerer Brüder fällt in eine Trance
In dieser dramatischen Lage sieht Tecumseh nur einen Ausweg. Die vielen, mitunter verfeindeten Nationen müssen ihre Kräfte bündeln, den Weißen endlich mit einer Stimme gegenübertreten. Mit seiner Stimme.
Eloquent, wie er ist, versucht der Häuptling, sein eigenes Volk zu überzeugen – aber kaum jemand hört auf ihn. Die Shawnee sind des Kampfes müde, sie hüten lieber Schweine und Rinder, ernten Kartoffeln und Weißkohl. Viele von ihnen wohnen mittlerweile in Blockhäusern. Um zu überleben, passen sie sich den Weißen an.
Frühjahr 1805. Tecumsehs jüngerer Bruder Lalawethika hat sich wieder einmal betrunken. Er ist ganz anders als der sieben Jahre Ältere – ein entscheidungsschwaches, vom Alkohol gezeichnetes Großmaul. Beim Spiel mit Pfeil und Bogen hat er einst sein rechtes Auge verloren. Er leidet darunter, im Schatten von Tecumseh zu stehen. Nach seiner jüngsten Zechtour aber fällt er, an einem Lagerfeuer sitzend, in eine totengleiche Trance. Als er aufwacht, ist er ein neuer Mensch.
Der „Meister des Lebens“, so berichtet der 30-Jährige später, habe die Indianer zur radikalen Umkehr aufgerufen. Wenn sie sich auf ihre alte Kultur besinnen und allen fremden Einflüssen entsagen – Alkohol, Feuerwaffen, auch Christentum und Ackerbau –, dann können sie die Siedler über das „große Wasser“ zurückdrängen. Fortan nennt der Bekehrte sich Tenskwatawa, „offene Tür“.
Rasch wird er zur Stimme der Verzweifelten. Der Prophet ruft auch auf zur Jagd auf proamerikanisch gesinnte Chiefs. Mindestens 16 von ihnen werden daraufhin umgebracht. 1808 gründet er im heutigen Bundesstaat Indiana ein Dorf, das sich zum Zentrum der Bewegung entwickelt. Die Amerikaner nennen die Siedlung Prophetstown.
Das Gemetzel in der Neuen Welt ist Teil eines größeren Ringens
Binnen weniger Jahre wird Tenskwatawa zum spirituellen, sein Bruder Tecumseh zum militärischen Führer des Widerstands. Immer mehr frustrierte Krieger schließen sich ihnen an. Die meisten stammen aus Gegenden, in denen Indianer besonders unter den vorrückenden Weißen leiden: Ohio, Kentucky und dem Indiana-Territorium.
Tecumsehs Armee wächst.
Begleitet von 400 Kriegern reitet er 1810 zu Verhandlungen in die provisorische Hauptstadt des Indiana-Territoriums, Vincennes. Ihr Ziel: das backsteinerne Haus des Gouverneurs William Henry Harrison. Tecumsehs Leute tragen Tomahawks bei sich, ihre Gastgeber Pistolen und Schwerter.
Tecumseh weiß, dass der Gouverneur den Zwist zwischen den Indianern seit Jahren ausnutzt, um ihnen immer mehr Gebiete abzunehmen. Harrison versucht die Vorwürfe zu entkräften. Als seine Worte übersetzt werden, springt Tecumseh auf und nennt ihn einen Lügner. Die Männer des Gouverneurs greifen zu den Waffen, Tecumsehs Leute ebenfalls. Nur weil Berater vorschlagen, das Treffen zu vertagen, wird ein Blutbad verhindert.
Auch ein weiteres Treffen Monate später bringt keine Ergebnisse. Der Chief hat jede Hoffnung auf eine friedliche Lösung verloren.
Die Schlacht von Tippecanoe wird zu einer Katastrophe
Tecumseh ist auf einer Rückreise von Süden nach Prophetstown, als der Konflikt im Herbst 1811 eskaliert. 1000 US-Soldaten nähern sich, angeführt von Harrison persönlich, der Indianerhochburg. Der Gouverneur hat genug von Berichten über Anhänger des Propheten, die weiße Siedler überfallen und skalpieren. Tatsächlich hat der sprunghafte Tenskwatawa seine wachsende Kriegerschaft nicht im Griff.
In der Nacht auf den 7. November 1811 redet er, eine Kette aus Hirschhufen um den Hals, auf seine Krieger ein: Regen und Hagel würden das Schießpulver der Feinde unbrauchbar machen, die eigenen Waffen aber nicht. Kurz darauf beginnt es tatsächlich zu regnen, und so greifen Hunderte Indianer die Amerikaner zwei Stunden vor Sonnenaufgang an. Einige von ihnen sollen Harrison töten. Doch die Schlacht von Tippecanoe wird zu einer Katastrophe. Die Indianer zweifeln nun an ihrem Anführer und verlassen Prophetstown noch am selben Tag. Kurz darauf brennen die Amerikaner das Dorf, dieses Symbol indianischer Selbstbestimmung, nieder. Vorräte gehen in Flammen auf.
Als sein älterer Bruder heimkehrt, will der Prophet seine Taten rechtfertigen. Doch das macht Tecumseh nur noch wütender. Er ergreift ihn bei den Haaren, schüttelt ihn und beschimpft ihn als Kind. Von nun an steht der Jüngere wieder im Schatten des Älteren.
Die Niederlage lässt den Widerstandsgeist vieler Indianer aber nicht erlöschen – im Gegenteil. Sie beweist, dass Tecumseh recht behalten hat. Tatsächlich scheint die „Auslöschung“ der Native Americans durch die Weißen nah. Als die USA am 18. Juni 1812 den Briten den Krieg erklären, sieht Tecumseh seine Chance gekommen.
In Europa kämpfen die Briten seit Jahren gegen Napoleon
Das Gemetzel in der Neuen Welt ist Teil eines größeren Ringens. In Europa kämpfen die Briten seit Jahren gegen Napoleon. Der Franzose wiederum hat den halben Kontinent dazu gezwungen, britische Schiffe nicht mehr in die Häfen zu lassen. Im Gegenzug blockiert die Royal Navy den Seehandel zwischen Frankreich und den neutralen USA. Die Amerikaner leiden unter dem Embargo, denn sie sind abhängig vom Warenaustausch mit der Alten Welt. Zudem glauben sie, die Briten steckten hinter Indianerangriffen wie dem von Tippecanoe. Schließlich entscheiden sie sich für einen Waffengang – ein hochriskanter Schritt. Denn die USA sind militärisch schlecht gerüstet, Großbritannien hingegen ist eine Weltmacht. Ein Zwerg stürzt sich auf einen Riesen.
In dieser Lage schlägt sich Tecumseh wie angekündigt auf die Seite der Briten. Die ungleichen Verbündeten wollen beide die Amerikaner stoppen. Die Indianer fürchten um ihre Siedlungsgebiete, die Briten um ihre kanadischen Kolonien. So kommt es, dass der britische Oberbefehlshaber Brock Tecumseh die Gründung der indianischen Heimstätte in der Nähe des Ohio-Flusses in Aussicht stellt. Schon 20 Jahre zuvor, im ersten Krieg der Krone gegen die Amerikaner, arbeiteten britische Diplomaten an Plänen für einen Pufferstaat. Erste Erfolge geben Tecumseh Grund zur Hoffnung. Gemeinsam mit den Briten gewinnen seine Männer zwei Schlachten und erobern drei Forts, darunter das bei Detroit. Mehrfach hindern sie die US-Truppen daran, nach Kanada vorzustoßen. Doch dann geschehen gleich mehrere Unglücke.
Am 13. Oktober 1812 stirbt General Brock in einer Schlacht. Ein Schock. Mit dem britischen Oberbefehlshaber verliert Tecumseh seinen wichtigsten Verbündeten. Dessen Nachfolger, General Henry Procter, fehlt nicht nur Brocks militärisches Können. Er fühlt sich auch nicht an das Versprechen gebunden, einen indianischen Pufferstaat zu errichten.
Briten und Amerikaner einigen sich auf einen Friedensvertrag
Ab Frühjahr 1813 wird alles noch schlimmer. Weil sich die Briten im fernen Europa zum letzten Schlag gegen Napoleon rüsten, leiden ihre Soldaten in Amerika unter fehlendem Nachschub. Dann verlieren britische Truppen 1813 auch noch ein Gefecht auf dem Eriesee. Fortan können sie ihre Soldaten nicht mehr von einem Einsatzgebiet zum nächsten verschiffen.
Als Procter die Nachricht erhält, ordnet er übereilt den Rückzug aus der Region um Detroit an, lässt seine Truppen in Richtung Kanada marschieren. In diesem gefährlichen Moment fliehen 1500 Indianer – ein Großteil von Tecumsehs Kriegern. Widerwillig schließt sich der Chief, der Procter zuvor beschimpft hatte, nun den Briten an. Ihnen auf den Fersen sind 3000 Amerikaner, an ihrer Spitze Gouverneur Harrison. Schließlich müssen sich Briten und Indianer ihren Verfolgern stellen. Am 5. Oktober 1813 kommt es am Thames River im heutigen Ontario zu einer der großen Feldschlachten dieses Krieges. Die demoralisierten Briten haben dem Ansturm der ausgeruhten Amerikaner wenig entgegenzusetzen. Rasch lösen sich ihre Reihen auf. Unter den Soldaten, die fliehen, sind General Procter und der Prophet Tenskwatawa.
Tecumseh und seine Krieger bleiben allein auf dem Schlachtfeld zurück. Er feuert seine Männer an. Schließlich streckt ihn ein tödlicher Schuss nieder.
Was folgt, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen: Briten und Amerikaner einigen sich an Heiligabend 1814 im fernen Gent auf einen Friedensvertrag, der den Status quo vor dem Krieg wiederherstellt. Die Briten haben nur halbherzig für einen indianischen Pufferstaat geworben, die Amerikaner ihn umso vehementer abgelehnt.
Fortan stehen die Indianer ohne Verbündete da. Ihre letzte Chance auf ein selbstbestimmtes Leben abseits der Weißen ist vertan. Die Geschichte ihrer Leiden aber geht weiter.
Matthias Lohre
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