Britische Äthiopienexpedition: Das Empire schlägt zurück
Um der Welt zu beweisen, dass sie immer noch eine Macht sind, greifen die Briten 1868 Äthiopien an. Es ist eine gigantische Materialschlacht.
Die Kneipe hieß „Theodor II.“ und war eigentlich nur eine Bretterbude für Matrosen und Soldaten. Aber der Wirt mixte als Einziger an der trockenheißen Küste Eritreas Eiswürfel in seine Drinks. Was im Frühjahr 1868 nicht nur hier ein gutes Argument war.
Eiswürfel! Auf der Londoner Weltausstellung sechs Jahre zuvor wurden Eismaschinen noch als völlig neue Erfindung bewundert. Jetzt gehörten sie zur Ausrüstung einer der größten Militärexpeditionen des 19. Jahrhunderts. Ein Unternehmen, das den britischen Steuerzahler sechs bis neun Millionen Pfund kostete, was in heutiger Kaufkraft bis zu neun Milliarden Euro entspricht.
Das britische Empire machte mobil gegen ein fast vergessenes afrikanisches Königreich. Um es zu besiegen, bot die führende Industriemacht alles auf, was moderne Technik damals hergab: Ostafrikas erste Eisenbahnlinie, Telegrafie, Lazarettdampfer und Raketenbatterien. Der Feldzug nahm geradezu absurde Dimensionen an, tatsächlich sollte er die Geschichte Äthiopiens verändern. Wenn auch ein wenig anders als erwartet.
Der von Gott erwählte König der Könige
Für eine Kneipe war der Name „Theodor II.“ natürlich ein Witz. Einer, wie ihn Europäer gern auf Kosten jener Völker machen, die sie für unterlegen halten. Weil die keine Eiswürfel herstellen können. Und keinen gekühlten Weißwein ausschenken, „ächten Johannisberger“ oder „Liebfrauenmilch“ zum Beispiel, wie ein preußischer Militärbeobachter notierte.
Gemeint war Theodor II., Herrscher über Abessinien, „der von Gott erwählte König der Könige“. So hatte er sich selbst vorgestellt, in einem Brief an Königin Victoria von England, „welche alle Christen liebt“. Das hoffte Theodor zumindest, als er die Queen im fernen London daran erinnerte, wie der Islam das älteste christliche Königreich der Welt bedrängte, gelegen im heutigen Äthiopien.
Theodor sah sich als Erbe einer Tausende Jahre alten Monarchie. In einem inneräthiopischen Bürgerkrieg hatte er über alle Konkurrenten gesiegt und beabsichtigte nun, das Land in die moderne Zeit zu führen. Indem er die Sklaverei abschaffte und europäische Experten engagierte.
Depeschen waren monatelang unterwegs
Doch Äthiopien war irgendwie in Vergessenheit geraten. Rund 400 Jahre zuvor hatten noch äthiopische Gesandte am Hof des Papstes gesessen. Inzwischen verfolgten die Europäer ganz andere Interessen. Vor allem die Briten wollten sich mit dem Osmanischen Reich arrangieren. Denn das gebot in den 1860er Jahren wenigstens formal über Ägypten, wo gerade der Suezkanal entstand. So kam es, dass Theodors Brief zwar London erreichte, dort aber in irgendeiner Stube des Auswärtigen Amtes liegen blieb.
Theodor II., ein Mann von 39 Jahren, der zuweilen zum Jähzorn neigte, machte den britischen Gesandten persönlich dafür verantwortlich, dass die Antwort aus London ausblieb. Er ließ ihn in Ketten legen. Auch die Missionare, die die orthodoxen Äthiopier bekehren wollten, erklärte er zu Gefangenen, ebenso wie die europäischen Handwerker, von denen einige seit Jahren in seinem Reich lebten, dort sogar Familien gegründet hatten – unter ihnen etliche Deutsche. 30 bis 40 europäische Geiseln waren nun in Theodors Gewalt.
Depeschen zwischen Äthiopien und London waren monatelang unterwegs. Die Verhandlungen, geprägt von Missverständnissen und kulturellen Differenzen, zogen sich also ewig hin, begleitet von der ungeduldigen britischen Presse.
Die Briten wollten Macht demonstrieren
Unvergessen war in England das Desaster vom Chaiberpass zwischen Kabul und Peschawar, wo ein britisches Armeekorps auf dem Rückzug aus dem aufständischen Afghanistan bis auf einen einzigen Überlebenden massakriert worden war. Auch an den Krimkrieg gegen Russland erinnerte man sich noch gut, eine mangelhaft ausgerüstete britische Armee hatte mehr Soldaten durch die Cholera verloren als durch den russischen Gegner. Und jetzt ließ man sich von einem afrikanischen Potentaten vorführen? In Großbritannien wurde diskutiert, welche Risiken bestünden, wenn sich niemand mehr vor britischen Waffen fürchtete.
1867 beschloss die Regierung, die Geiseln müssten befreit werden. Den Auftrag erhielt General Robert Napier, 57 Jahre alt, in Kolonialkriegen bewährt und von Beruf Ingenieur. Nun sollte Napier der Welt demonstrieren, wozu das viktorianische Empire fähig war, wenn man es reizte. Er ließ dazu sämtliches Wissen zusammentragen, das über Äthiopien aufzutreiben war – 1867 wusste man erschreckend wenig. Seinen Bedarf berechnete er mit Hilfs- und sonstigem Personal auf etwa 60 000 Mann, veranschlagte für den Transport rund 30 000 Tragtiere und an die 300 Schiffe. Die Regierung ahnte, das würde teuer, stimmte aber zu.
Agenten begannen in Südeuropa und im Nahen Osten Tausende Esel aufzukaufen. 44 Elefanten mussten in Indien beschafft werden, für sie wurden extra zwei Transportschiffe umgebaut. Der nordafrikanische Markt lieferte 5735 Kamele. Als Napoleon ein Menschenalter zuvor in Ägypten einmarschiert war, hatte die kämpfende Truppe den größten Teil der Ausrüstung noch selber getragen. Jetzt füllte allein das neue Fotografenkorps 32 Kisten mit seinem Filmmaterial.
Die diplomatischen Voraussetzungen waren kompliziert
Die Welt sollte doch sehen, was hier passierte. Jede Menge Journalisten wurden akkreditiert, Militärbeobachter aus Frankreich, Spanien, Italien, Preußen, Österreich, den Niederlanden eingeladen. Ebenso Natur- und sonstige Forscher, unter ihnen Gerhard Rohlfs, der als einer der ersten Europäer allein die Sahara durchquert hatte, weshalb man ihn angeblich in der arabischen Welt den Nemsi nannte, den Deutschen. Ein Ausdruck, der Karl May so gut gefiel, dass er später seinem Wüstenhelden den Namen Kara Ben Nemsi gab.
Die kämpfende Truppe bestand aus 4000 weißen Briten, an die moderne Hinterlader-Gewehre ausgegeben wurden. Begleitet wurden sie von 9000 nicht ganz so gut bewaffneten Indern und dem neu aufgestellten Raketenkorps der Marine. Kompliziert waren die diplomatischen Voraussetzungen. Den Osmanen musste versichert werden, dass die Truppe keineswegs plante, sich dauerhaft in Äthiopien festzusetzen. Was schwer zu glauben war, angesichts der Flotte, die bald vor der Eritreischen Küste erschien.
Napier wusste, dass er allein mit Gewalt sein Ziel nicht erreichen konnte, er sich die Unterstützung der ansässigen Bevölkerung würde erkaufen müssen. Einzige anerkannte Währung in Äthiopien war der Maria-Theresia-Taler aus dem alten Habsburgerreich, wie man ihn im Orient seit Langem kannte. Wieder wurden Agenten ausgeschickt, diesmal, um überall in Europa derartige Taler aufzukaufen. Als man begriff, dass das nicht reichen würde, bat man Wien, solche Münzen für 500 000 Pfund nachzuprägen.
Die Presse verbreitete „die crassesten Unwahrheiten“
Im Januar 1868 hatten Pioniere in Zula, einem bis dahin unbedeutenden Fischerdorf, einen neuen Hafen mit einer 350 Meter langen Mole angelegt. Filtriermaschinen produzierten jeden Tag mehrere 100 Tonnen Süßwasser. Draußen ankerten vier moderne Hospitalschiffe und mehr als 200 Wasserfahrzeuge, vom Dampfer bis zum Segelkutter.
Eine Stadt mit Läden und Kneipen war entstanden. Dort türmten sich die Konserven, „und das allerdrolligste war, dass jede der verschiedenen Nationalitäten und Religionen ihre besonderen Rationen haben musste“, schrieb der preußische Militärbeobachter Ferdinand von Stumm über die multikulturelle Truppe der Briten, denn, „der Europäer erhielt andere Lebensmittel als der Araber, der Mohammedaner andere als der Hindu, dieser wieder andere als der Brahma-Gläubige“.
Unbegreiflich fand Leutnant von Stumm die Macht der Presse, „wie man diese Herren, die es nicht scheute, die crassesten Unwahrheiten zu verbreiten, mit so viel Rücksicht und Aufmerksamkeit behandeln konnte“. Vor allem missfiel ihm Henry Morton Stanley, Korrespondent des „New York Herald“. Der schreibe „die haarsträubendsten Aufschneidereien“, zur Rede gestellt, antwortete Stanley: „In Amerika will man nun einmal excitement haben, und wenn ich die Wahrheit berichte, würde man das alles für sehr langweilig halten.“ Noch erstaunlicher aber war der 20 Kilometer lange Schienenstrang bis an den Rand des Hochlandes. Für den Feldzug wurde die erste Eisenbahnlinie im östlichen Afrika gebaut.
Es war ein furchtbares Blutbad
Natürlich blieb der Aufwand Theodor II. nicht verborgen. Er wies seine deutschen Handwerker an, ihm ebenfalls Kanonen zu gießen, darunter einen 70 Zentimeter dicken Supermörser, den er für seine Wunderwaffe hielt. Um ihn transportieren zu können, musste auch Theodor eine Straße anlegen lassen. Denn er plante, sich mit seinen Getreuen in die Bergfestung Magdala zurückzuziehen.
Theodor war zu diesem Zeitpunkt auch in Äthiopien bereits politisch isoliert, Teile seiner Armee desertierten, sein größter Rivale, Fürst Kasa von Tigray, verbündete sich mit den Briten. Am 10. April 1868 befahl Theodor überraschend den Angriff. Leutnant von Stumm schrieb: „Es war ein unbeschreiblicher Anblick, dieses Barbarenheer unter kannibalischem Gebrüll mit rasender Schnelle sich nahen zu sehen.“
Die Briten feuerten 300 Raketen ab, ihre Infanterie schoss in noch nicht gesehener Geschwindigkeit. Es war ein furchtbares Blutbad, Theodor verlor fast die Hälfte seiner auf 4000 Krieger zusammengeschmolzenen Armee. Seine eigene Artillerie erwies sich als unzulänglich, auch der Supermörser funktionierte nicht. Die Aufforderung zur Aufgabe wies Theodor als demütigend zurück, jedoch ließ er seine europäischen Geiseln frei. Einige weigerten sich allerdings, Äthiopien zu verlassen, andere kehrten später zurück. Von Stumm, der die deutschen Geiseln befragte, berichtet, sie hätten sich mit Ausnahme der letzten Zeit gar nicht als Gefangene betrachtet.
Die britische Attacke auf die Bergfestung erfolgte am 13. April, dem Ostermontag. In aussichtsloser Lage schoss sich Theodor II., König der Könige, eine Kugel in den Kopf.
Schätze Äthiopiens wurden geplündert
Ferdinand von Stumm erlebte den Sturm, beobachtete, wie „die zahlreichen Priester ängstlich ihrem Heiligtum zueilten“. Sie kamen zu spät. „Eine Menge Soldaten waren bereits damit beschäftigt, aus den Schatzhäusern Gegenstände aller Art herauszuschaffen.“ Gerhard Rohlfs, der Wüstenforscher, sah Details: „Monstranzen, silberne und kupferne Kreuze und Räuchergefäße aus Kirchen, Kronen von Gold und Kupfer, Flinten, kostbare Säbel, Teppiche, Kleider.“ Die Kirchen- und Thronschätze Äthiopiens, sie wurden geplündert.
Solch ein Raub war damals üblich. Erst die Haager Landkriegsordnung von 1907 ächtete die Beschlagnahme oder mutwillige Zerstörung von Kulturgütern. Im Laufe der vergangenen 150 Jahre wurden dann einige Stücke von Großbritannien zurückgegeben, noch heute liegt aber etwa die Krone des Oberhauptes der äthiopischen Christen im Victoria and Albert Museum, befinden sich Ikonen und Manuskripte aus Magdala in Windsor Castle oder der British Library. Andere Schätze gelangten in den Kunsthandel, dürften über die Welt verstreut sein. Seit 1999 bemüht sich die internationale Organisation „Afromet“ um Rückgabe der in Magdala geraubten Kulturgüter.
Der Feldzug hatte aber noch einen wichtigen Nebeneffekt, wie der inzwischen verstorbene schwedische Historiker Sven Rubenson schreibt, der lange an der Universität Addis Abeba lehrte: Der scheinbar leichte Sieg der Briten habe dazu geführt, dass Äthiopien von den Europäern gravierend unterschätzt wurde.
Theodor II., ein äthiopischer Volksheld
Nach Theodor gelangte dessen Rivale Fürst Kasa von Tigray auf den äthiopischen Thron und nahm den Namen Johannes IV. an. Johannes erkannte, nur, wenn Äthiopien sich dem Wissen der Welt öffnet, hätte es eine Chance, zu bestehen. Er bemühte sich um westliche Technik und Instruktoren, bewies mehr diplomatisches Geschick als sein Vorgänger, indem er versuchte, die Rivalitäten der großen Mächte auszunutzen. Sein Nachfolger baute mithilfe eines Schweizer Ingenieurs eine eigene Waffen- und Munitionsproduktion auf.
Als dann der Wettlauf der Industrienationen um die Kolonisierung Afrikas in den 1880er Jahren richtig begann, war Äthiopien das einzige Land des Kontinents, das sich erfolgreich wehren konnte. Zwei italienische Armeen versuchten, es zu einem Teil Italienisch-Somalilandes zu machen und wurden vernichtend geschlagen. Erst 1935 setzten sich die Italiener in einem neuen Anlauf unter dem Einsatz von Luftwaffe und Giftgas durch – um sechs Jahre später wieder vertrieben zu werden.
Theodor II., besiegt, aber nicht als Gefangener gedemütigt, war da längst schon ein äthiopischer Volksheld.