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Schau mal, Kindchen, so dick kann ein Buch sein!
© Hans-Thomas Frisch/dpa

Lesekompetenz nimmt ab: Texthappenkonsum schadet dem Denken und Fühlen

Es ist keine kulturkonservative Klage, das Wecken von Leselust einzufordern. Denn beim Lesen bildet sich Empathie, ohne die Gesellschaft nicht auskommt. Ein Kommentar.

Auf zigtausenden von Nachttischen liegen sie, sie stapelten sich auch wieder auf Gabentischen: die zu Weihnachten verschenkten Bücher. Wer wird sie lesen? Laut Umfragen sind Bücher und E-Books nach Gutscheinen oder Bargeld und nach Süßwaren das drittbeliebteste Geschenk. Insbesondere Kindern und Jugendlichen überreichen Verwandte und Paten gern „das gute Buch“.

Doch das Lesen empfinden viele der Beschenkten als plagend. Auch aus Hochschulen berichten Lehrende von Widerstand, wenn Leselisten fürs Seminar Buchtitel enthalten, deren Lektüre vorausgesetzt wird. „Das ganze Buch?“ Hörbar flackert im zweiten Wort der Schrecken. Wie viel Zeit und Konzentration das kostet! Viel einfacher wäre es, wenn die Lehrkraft die Schlüsselpassagen scannt und online stellt. „The story in a nutshell“, die Geschichte in der Nussschale, so bekämen viele gern die Inhalte serviert. Die jüngste Pisa-Studie zeigte, dass in Deutschland jeder fünfte 15-Jährige beim Lesen gerade mal Grundschulniveau erreicht.

Lesen ist Übungssache, und Lesefreude gedeiht immer auch durch das Vorbild lesender Erwachsener. „Die Lesesozialisation beginnt ganz klar im Elternhaus“, erklärt Susanne Lin-Klitzing, die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, in Sorge um den Rückgang der basalen Kulturtechnik. Da das in vielen Fällen nicht oder nicht mehr geschieht, erkennt der Verband die Schulen am Zug und konstatiert dort jetzt gravierenden Mangel, wie Lin-Klitzing am 25. Dezember sagte.

Bildung braucht nicht nur das Abschlusszeugnis, sondern Substanz

Die Pädagogikprofessorin Lin-Klitzing hat die Bundesländer nach dem Lesen von „Ganzschriften“, dem Synonym für Bücher, abgefragt, um festzustellen, dass in der Sekundarstufe I „in der Regel pro Schuljahr eine Ganzschrift gelesen“ wird. Zwei Bücher sind es in der Sekundarstufe II. In Bayern und Schleswig-Holstein wird ab der achten Klasse mehr gelesen, „in der Oberstufe sogar zwei Ganzschriften pro Halbjahr“. In Thüringen oder Bremen weniger. Lin-Klitzing befindet: „Wenn Lehrkräfte sich dafür rechtfertigen müssen, dass sie von Schülerinnen und Schülern verlangen, sich durch eine (klassische) Lektüre zu arbeiten, weist das auf ein gesellschaftliches Problem hin.“

In Regionen mit sozialdemokratischer Bildungspolitik sieht es teils besonders miserabel aus. Wo inzwischen das Niveau weiter und weiter gesenkt wird, damit möglichst viele Jugendliche durchs Abitur kommen, wird dem sozialen und demokratischen Gedanken kein Gefallen getan. Traditionell legen Sozialdemokratie und Sozialismus besonderen Wert auf Bildung als Schlüssel zu mehr Chancen. Doch Bildung braucht nicht nur das Abschlusszeugnis, sondern Substanz.

Als der Bildungsverband der Deutschen Buchdrucker 1924 die „Büchergilde Gutenberg“ gründete, war das der Arbeiterbewegung bewusst. Die Büchergilde wollte durch günstige Bücher, meist Lizenzausgaben, die Tore zu Bildung und Kultur öffnen. 1931 hatte sie in Deutschland 27 Geschäftsstellen, Filialen gab es in Prag, Wien und Zürich. Bis 1933 waren 2,5 Millionen Exemplare gedruckt worden. Der Nationalsozialismus zerschlug das Projekt durch Gleichschaltung. In bescheidenem Umfang existiert es heute weiter.

Herta Müller schwört auf „Bücher, das Lesen“

Es ist keine kulturkonservative Klage, das Wecken von Leselust einzufordern. Mit dem Aufnehmen von Buchfragmenten und Texthappen bildet sich nicht heraus, worum es beim Lesen geht. Nämlich um Sinn für Zusammenhänge, um die Fähigkeit, Emotionen und Situationen aus mehreren Perspektiven zu erfassen, darum, die eigene Kritikfähigkeit und Vorstellungskraft zu stärken. Und, so formuliert es die Bildungsexpertin Lin-Klitzing, darum, „gründlich und vertieft auch über sich selbst nachzudenken“. Geschieht das nicht, gerinnt substanzielle Lesekompetenz zum Milieumerkmal einer privilegierten Schicht am oberen Rand des Bildungsbürgertums, und die Klassenschere klafft weiter auseinander.

Sekundiert wurde der Aufruf des Philologenverbandes von der Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ebenfalls am 25. Dezember im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, eine schöne Koinzidenz. Ihren eigenen Ausstieg aus den autoritären rumänischen Verhältnissen der Kindheit und Jugend führt Müller unter anderem zurück auf „Bücher, das Lesen“. Kultur sei für die Demokratie „wichtiger als alles andere“, weil sie Empathie vermitteln kann, was noch so viel Mathematik nicht gelingt. „Wenn in einem Kind das Gefühl nicht wachgehalten wird, die Anteilnahme, dann entsteht eine Verrohung.“ Politikern attestierte Müller eine verkümmerte Sprache, sie würden zu wenig lesen, wo doch Sprache und Reden ihr Beruf ist. Sie bräuchten mehr „Vokabular“, seufzte Herta Müller, damit sie nicht weiter „in Klischees herumstolpern“.

Interventionen wie die des Philologenverbandes oder der Schriftstellerin als schöne Sonntagsreden abzutun wäre so kleingeistig wie engstirnig. Eine Welt, die sich sozial und technisch dramatisch verändert, braucht das Gegenteil: weite Horizonte, reife Visionen. Am allermeisten gilt das für die Bildung.

Caroline Fetscher

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