Ukraine-Konflikt: Straße der Völkerfreundschaft
Auf der einen Straßenseite: die Ukraine. Auf der anderen: Russland. Einst feierten die Menschen hier gemeinsam, jetzt trennt sie der Krieg. Im Grenzort Milowe endete für unseren Autor eine lange Reise. Ein Vorabdruck.
Der Text ist ein Auszug aus Jens Mühlings Buch „Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine“ (Rowohlt).
In der Mitte jedes Orts stand ein leerer Denkmalsockel. Überall in der Ukraine waren seit der Maidan-Revolution die sowjetischen Lenin-Statuen gestürzt worden. Obwohl mir der Anblick inzwischen bestens vertraut war, deprimierte er mich plötzlich. Lenin und seinen Denkmälern weinte ich keine Träne nach. Aber in jeder ruinierten Industriesiedlung stand jetzt noch eine Ruine mehr – ein sinnentleerter, bröckelnder, hässlicher Sockel.
„Sie reißen die Denkmäler ab, ohne uns zu fragen“, sagte der alte Mann, der im Bus neben mir saß. „Niemand hat diese Leute hier vorher gesehen, es sind Fremde. Sie tauchen auf, schreien ,Ruhm der Ukraine’, dann schlagen sie Lenin kaputt und verschwinden wieder.“
Die Fahrt führte ostwärts durch den Donbass, bis zu einem Grenzort namens Milowe, von dem ich gehört hatte, dass er zur Hälfte in der Ukraine und zur Hälfte in Russland lag. Je weiter wir fuhren, desto deutlicher spürte ich, dass hier etwas schieflief. Die gesamte Grenzregion gehörte zum „Territorium des Antiterroreinsatzes“, wie das frontnahe Gebiet in der Ukraine genannt wurde. Vor und hinter jedem Ort hatte die Armee Straßensperren errichtet, an denen Soldaten den Bus anhielten. Sie kontrollierten Ausweise, durchsuchten Gepäckstücke, stellten Fragen. Kaum waren sie ausgestiegen, begannen die Passagiere zu fluchen. Sie klagten über die Verzögerungen, über die misstrauischen Fragen der Soldaten, über ihr feindseliges Auftreten. Ein tiefer Graben schien die Armee von der örtlichen Bevölkerung zu trennen, es wirkte, als seien vielen hier die Bewaffneten genau so fremd wie die angereisten Patrioten, die Lenins Denkmäler zerschlugen.
Am letzten Kontrollposten vor Milowe wurde ich aus dem Bus geholt.
„Was machen Sie hier?“, fragte einer der Soldaten. Anklagend hielt er mir meinen deutschen Pass vor die Augen. Ich erklärte, dass ich Journalist sei und mir das Grenzgebiet ansehen wolle.
„Das Grenzgebiet ansehen? Machen Sie Witze?“
Beschwichtigend fuhr ich fort, dass mein Besuch nichts mit dem Krieg zu tun habe, mich interessiere nur, wie die Menschen auf beiden Seiten der Grenze ...
„Auf beiden Seiten? Sie wollen nach Russland?“
Ich nickte.
„Holen Sie Ihr Gepäck aus dem Bus“, knurrte der Soldat. „Sie bleiben hier.“
Der Bus fuhr ohne mich weiter. Man führte mich in einen Bretterverschlag, den die Grenztruppen als Stabsquartier nutzten. Telefonisch verständigte der Soldat einen Vorgesetzten. Während wir warteten, stellte er mir Fragen zu jedem einzelnen Stempel in meinem Pass. Sein Gesichtsausdruck wurde nicht freundlicher, als er hörte, dass ich auf der Krim und im Separatistengebiet gewesen war.
Der vorgesetzte Offizier, der nach 20 Minuten eintraf, war umgänglicher. Er erklärte mir, dass es in Milowe keinen internationalen, sondern nur einen zwischenstaatlichen Grenzübergang gab. Russen und Ukrainer durften ihn überqueren, Ausländer nicht. „Die Grenze hier ist ein bisschen ungewöhnlich“, sagte er. „Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“
In seinem Militärjeep fuhren wir nach Milowe. Vor einer Kreuzung am Ortseingang hielt der Offizier an. Gegenüber mündete die Straße in einen asphaltierten Korridor, ich sah einen geöffneten Schlagbaum. „Das ist der Grenzübergang“, sagte der Offizier. „Davon halten Sie sich fern, verstanden?“
Wir bogen nach rechts ab und folgten einer Straße, die sich quer durch den ganzen Ort zog. „Das“, sagte der Offizier, „ist die Straße der Völkerfreundschaft.“
Er deutete auf die Häuser auf der rechten Seite. „Ukraine.“
Er deutete nach links. „Russland.“
Schließlich zeigte er auf die Strommasten, die auf der russischen Seite der Straße standen. „Videokameras.“
Der Offizier sah mir streng in die Augen. „Auf der ukrainischen Seite können Sie sich aufhalten, auf der russischen nicht. Sie dürfen die Straße nicht überqueren, verstanden? Bitte halten Sie sich daran, sonst nehmen die Russen Sie fest und behaupten, wir seien schuld, weil wir Sie überhaupt in den Ort gelassen haben. Die lieben solche Skandale.“
Ich versprach es ihm. Er setzte mich vor dem einzigen Hotel des Orts ab und wünschte mir eine gute Reise.
Der russische Streifen Land war dünn bebaut
Es gab nicht viel zu sehen in Milowe. Niedrige Steinhäuser mit Gemüsegärten prägten den Ort, dazwischen standen ein paar Plattenbauten. Auf dem Marktplatz verkauften alte Frauen Obst und billige Kinderkleidung. Das kleine Heimatkundemuseum war geschlossen, es war Sonntag. Das Weltkriegsdenkmal bestand aus bröckelnden Betonsoldaten. Das Lenin-Denkmal fehlte.
Dreimal hintereinander durchquerte ich ziellos den Ort. Ohne es zu wollen, landete ich am Ende immer an der Straße der Völkerfreundschaft. Sie schien mich anzuziehen, gerade weil ich versprochen hatte, sie nicht zu überqueren. Ich fühlte mich wie ein Kind, das um einen verbotenen Schrank herumschleicht.
Der Offizier hatte mir erklärt, dass die Straße streng genommen nicht eine Ortschaft teilte, sondern zwei miteinander verband, das ukrainische Milowe und das russische Tschertkowo. Eine Art natürliche Grenze zwischen beiden bildeten die Bahngleise, die parallel zur Straße der Völkerfreundschaft verliefen, auf russischer Seite, wo auch der Bahnhof stand. Dazwischen, eingeklemmt von Schienen und Straße, lag ein etwa 50 Meter breiter, drei Kilometer langer Streifen Land, der aus unerfindlichen Gründen zu Russland gehörte, obwohl die Bahnlinien ihn von Tschertkowo trennten. Überqueren ließen sich die Gleise nur an zwei Stellen. Die eine war der Grenzübergang, die zweite eine Fußgängerbrücke, die den Marktplatz von Milowe mit dem Bahnhof von Tschertkowo verband. Auf ukrainischer Seite hielt am Fuß der Brücke ein Grenzsoldat Wache.
Jurij war der Inhaber eines Ladens auf der ukrainischen Seite
Der russische Streifen Land entlang der Straße der Völkerfreundschaft war dünn bebaut. Die meisten Gebäude sahen aus wie Eisenbahndepots, dazwischen standen ein paar niedrige Wohnhäuser und ein riesiges sowjetisches Getreidesilo.
Jurij hatte das Silo jeden Tag vor Augen. Ich fragte mich, ob sein Gesichtsausdruck deshalb so melancholisch war. Er war Mitte 40, und obwohl er traurig aussah, vielleicht auch gerade deshalb, war er ein schöner Mann. Mit seinem grau melierten Vollbart und den ruhigen, dunklen Augen erinnerte er mich ein bisschen an Anton Tschechow.
Jurij war der Inhaber eines Lebensmittelladens auf der ukrainischen Seite der Straße. Ich war aus Hunger hier gelandet, es gab keine Cafés in Milowe. Während ich ein paar Waffeln und Bananen kaufte, kamen wir ins Gespräch.
Das russische Silo, erzählte Jurij, war seit anderthalb Jahren nicht mehr in Betrieb. Die Gründe waren kompliziert. Zugänglich war das Silo nur von ukrainischer Seite, seine Einfahrt lag an der Straße der Völkerfreundschaft. Die russischen Bauern, die hier früher ihr Getreide gelagert hatten, waren mit ihren Lastern über die offenen Grenzen im Umland nach Milowe gefahren, bis der Krieg anfing. Weil aus Russland Kämpfer in den Donbass geschleust wurden, hatte die Ukraine ihre Grenze dichtgemacht. Russische Staatsbürger durften seitdem nur noch über ausgewiesene Übergänge ins Land, unter Vorlage ihres Passes. Für die Bauern war das Silo damit nutzlos geworden. Es kostete zu viel Zeit, am Zollkorridor Schlange zu stehen.
Das "Festival der Freundschaft" ist dem Krieg zum Opfer gefallen
Ebenfalls dem Krieg zum Opfer gefallen war das „Festival der Freundschaft“. Jeden Sommer hatten sich früher vor Jurijs Laden die Einwohner von Milowe und Tschertkowo versammelt. Folkloregruppen traten gemeinsam auf, Lokalpolitiker von beiden Seiten der Grenze beschworen den russisch-ukrainischen Zusammenhalt. Seit zwei Sommern hatte das Fest nicht stattgefunden. Es gab nichts mehr zu feiern auf der Straße der Völkerfreundschaft.
Jurij sah die Entwicklungen in der Ukraine skeptisch. „Diese neuen Patrioten sind gut im Zerstören“, sagte er. „Aber bisher haben sie wenig aufgebaut.“
Der Krieg hatte Milowe hart getroffen. Reich war der Ort nie gewesen, aber in den letzten anderthalb Jahren, sagte Jurij, sei das Leben für manche hier sehr hart geworden.
Während wir uns unterhielten, betrat eine alte Frau den Laden. Sie trug ein geblümtes Kopftuch und ging stark gebeugt.
„Söhnchen“, sagte sie. „Was kostet dieses Brot?“
Jurij nannte ihr den Preis.
„Und das andere?“
Sie ließ sich die Preise aller Brotsorten nennen, ohne sich für eine entscheiden zu können. Am Ende nahm Jurij wortlos ein Weißbrot aus dem Regal und stopfte es der Frau in die Manteltasche.
Sie bekreuzigte sich mehrfach. „Gott gebe dir Gesundheit, Söhnchen“, flüsterte sie, bevor sie den Laden verließ.
Jurij sah ihr hinterher. „So geht das den ganzen Tag“, sagte er kopfschüttelnd. „Medikamente, Gas, Brennholz, alles ist so teuer geworden, dass den alten Leuten nichts von ihrer Rente bleibt. Sie ernähren sich von Brot, und manchmal reicht selbst dafür ihr Geld nicht.“
Besser war das Leben auf der anderen Seite. Der russische Nachbarort war nicht viel größer, Milowe hatte 6000 Einwohner, Tschertkowo 10 000. Trotzdem, sagte Jurij, hatte er immer das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, wenn er die Grenze überquerte. In Tschertkowo gab es einen Bahnhof, ein Kino, Cafés, innerstädtische Buslinien. Das Heimatkundemuseum war größer, die Straßen waren nachts beleuchtet, es gab sogar eine Kreuzung mit einer Ampelanlage.
Ganz im Osten, dachte ich, ist es wie ganz im Westen
In Milowe gab es nichts davon. Es gab nicht einmal eine öffentliche Toilette. Wenn die Verkäuferinnen am Marktplatz mal mussten, liefen sie über die Fußgängerbrücke hinüber zum Bahnhof von Tschertkowo. Sie gingen zum Pinkeln nach Russland.
Zufällig war der Sonntag, an dem ich angekommen war, der Tag der ukrainischen Regionalwahlen. Jurij hatte seine Stimme nicht abgegeben. Der letzte Bürgermeister des Orts, erzählte er mir, hatte seinen Wählern versprochen, endlich Straßenlaternen aufzustellen, alle Häuser mit Wasseranschlüssen auszustatten und am Marktplatz eine Toilette einzurichten. Es waren bescheidene Versprechen, aber gehalten hatte er keins davon. Sein aussichtsreichster Nachfolger hatte kurzerhand das Wahlprogramm des Vorgängers übernommen. Nur den Punkt mit der Toilette hatte er gestrichen.
Ganz im Osten, dachte ich, während ich Jurij zuhörte, ist es wie ganz im Westen der Ukraine. Traurig blicken die Menschen auf die andere Seite der Grenze, wo das Leben besser ist.
Irgendwann, wir unterhielten uns schon eine ganze Weile, bot Jurij mir den Plastikstuhl vor seiner Ladentheke an. Dankbar nahm ich an. Es gab nichts zu tun in Milowe, und zwischen Jurij und mir hatte sich auf Anhieb eine jener Spontanfreundschaften entwickelt, wie ich sie nur von Reisen kenne. Ich blieb eine Stunde, eine zweite, eine dritte. Einkäufer kamen und gingen, während wir unsere Lebensgeschichten austauschten.
Voller Sehnsucht hatte er Bilder ferner Länder betrachtet
Zehn Jahre lang war Jurij zur See gefahren. Geträumt hatte er davon schon als Kind in Milowe, wo seine Mutter zu Sowjetzeiten den örtlichen Kulturpalast geleitet hatte, der inzwischen geschlossen war. Voller Sehnsucht hatte Jurij damals in einer Kinderzeitschrift namens „Um die Welt“ Bilder ferner Länder betrachtet. Der Wunsch, sie zu bereisen, war so stark, dass er sich nach der Schule an der Seeakademie von Odessa einschrieb.
Die Schulterstücke mit dem sowjetischen Hammer-und-Sichel-Emblem, die im ersten Studienjahr noch seine Uniform zierten, wurden im zweiten von den blau-gelben der ukrainischen Marine abgelöst. Nach dem Diplom entschied sich Jurij für die zivile Seefahrt. Als Bordmechaniker war er auf Handelsschiffen um die Welt gereist, er hatte Kuba gesehen, Ägypten, Brasilien, China, Nigeria, Mexiko, all die exotischen Orte aus seinen Kinderträumen. Acht, neun, zehn Monate am Stück war er unterwegs gewesen, um ihn herum nichts als das Meer, neben seiner Koje ein Stapel Bücher, der immer schnell zur Neige ging, aber in jedem Hafen gab es russischsprachige Seeleute, mit denen Jurij Lesestoff tauschte.
Eines Tages hatte es ihm gereicht. Ohne Groll und Abschiedsweh hatte er seinen Beruf an den Nagel gehängt und war nach Milowe zurückgekehrt. Städte hatte er nie gemocht, ihr Lärm erinnerte ihn an das Ächzen der Maschinenräume. Wohler fühlte er sich in seinem kleinen Geburtsort, auch wenn ihm nicht alle Veränderungen gefielen, die Milowe in seiner Abwesenheit durchgemacht hatte. Die Straße der Völkerfreundschaft, die Jurij ungeteilt in Erinnerung hatte, war zu einer Ländergrenze geworden, als er seinen Lebensmittelladen eröffnete.
Das Letzte, was ich sah, war ein schwankender Radfahrer
Er war nicht unglücklich in Milowe. Sein Leben hier war ruhig, aber es war das Leben, das er gewollt hatte. Wenn ihn die alte Sehnsucht nach der See packte, was sie manchmal tat, träumte sich Jurij einfach weg. Er blätterte dann durch seine Erinnerungen, wie er als Kind durch seine Zeitschriften geblättert hatte.
Trotzdem fragte ich mich, als wir uns weit nach Ladenschluss die Hände reichten, was wohl aus Jurij geworden wäre, wenn er nicht hier gestrandet wäre, in Milowe, am kriegsversehrten Rand der Ukraine, sondern anderswo. Der Leiter einer Einzelhandelskette vielleicht. Oder ein Schauspieler, er hätte Tschechow verkörpern können. Oder, denkbar war es, mein bester Freund.
Ich trat hinaus in die dunkle Nacht. Das Letzte, was ich von der Straße der Völkerfreundschaft sah, war ein schwankender Radfahrer. Er schien betrunken zu sein. Mal fuhr er auf der russischen, mal auf der ukrainischen Seite der Straße.