Spionage: Spione, Trickser und ein General
Reinhard Gehlen galt als meisterhafter Agent, er war erster Chef des Bundesnachrichtendienstes. Seine Karriere begann er noch im II. Weltkrieg. Gleich am Anfang saß er einem Schwindler auf, der vor allem eines wollte: die Nazis überleben.
Bereits zu Lebzeiten war er eine geheimnisumwitterte Legende, der „Mann ohne Gesicht“. Kurz vor seinem Tod 1979 bezeichnete ihn ein britischer Autor gar als „Deutschlands Meisterspion“, mehr noch, als „Spion des Jahrhunderts“: General Reinhard Gehlen, erster Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Auslandsgeheimdienstes der Bundesrepublik Deutschland. Hervorgegangen war der BND 1956 aus einer zuvor aufgestellten Truppe, die Gehlen nicht nur geleitet hatte, sondern die sogar seinen Namen trug: „Organisation Gehlen“.
Für seine dominierende Rolle im westdeutschen Geheimdienst der Nachkriegszeit hatte sich Gehlen ausgerechnet in Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion empfohlen, als Chef der „Abteilung Fremde Heere Ost“. In dieser Position war er im Oberkommando des Heeres für die Analyse und Prognose der operativen Absichten der sowjetischen Streitkräfte zuständig gewesen. Schon da hatte er begonnen, am Mythos der eigenen Unfehlbarkeit zu feilen. In seinen 1971 erschienenen Memoiren „Der Dienst“ behauptete er gar, mit seinen Analysen des Feindes im Osten zwischen 1942 und 1968 immer richtig gelegen zu haben, ob deren Empfänger nun Adolf Hitler, die Amerikaner oder die deutsche Bundesregierung gewesen waren.
Erstaunlich, dass niemand diese Lesart nachhaltig hinterfragte. Erst vor fünf Jahren berief der BND selbst eine unabhängige Historikerkommission, um die Entstehungs- und Frühgeschichte des Dienstes umfassend wissenschaftlich zu erforschen – und damit auch die Person Gehlen zu entschleiern. Ob die Abschlussberichte der Kommission wie angekündigt noch in diesem Jahr erscheinen können, ist ungewiss, weil der Bundesnachrichtendienst sich vehement dagegen sperrt, dass die Historiker auch Klarnamen von Agenten des Dienstes angeben. Schon jetzt jedoch ist das Bild vom unfehlbaren Meisterspion unhaltbar.
Die Pläne waren den Sowjets längst bekannt
Bereits Anfang September 1943 musste Gehlen als oberster Feindlagebearbeiter des deutschen Heeres eine Art Offenbarungseid leisten: Im Juli 1943 war in der größten Panzerschlacht der Geschichte im Kursker Bogen die letzte deutsche Großoffensive im Osten auch deswegen gescheitert, weil die Pläne den Sowjets lange vorher bekannt gewesen waren. Die Deutschen gerieten in die Defensive, umso dringlicher waren von Gehlens Abteilung realistische Hinweise auf Ort, Zeit und Stärke sowjetischer Angriffspläne gefordert. Doch ausgerechnet in dieser Situation musste Gehlen eingestehen: „Durch Ausfall der wichtigsten Quelle fehlen zurzeit Abwehrmeldungen über die Absichten des Gegners.“ Angewiesen war man nun „zu einem erheblichen Teil auf Schlussfolgerungen rein gedanklicher Art“.
Seit seinem Amtsantritt im April 1942 hatte sich Gehlen immer stärker auf die vom Nachrichtendienst der Wehrmacht gelieferten „Max“-Meldungen gestützt. Diese informierten über die Verlegung sowjetischer Truppen, die Lage und Belegung von Flugplätzen, berichteten zeitnah aber auch über strategische Beschlüsse des sowjetischen Generalstabs unter dem Vorsitz Stalins. Nach anfänglicher Skepsis hielt Gehlen die „Max-Meldungen“ für so zuverlässig, dass er ihnen auch dann Glauben schenkte, wenn sie allein durch weitere „Max-Meldungen“ bestätigt zu werden schienen.
Geliefert wurden sie von einem V-Mann mit dem Decknamen „Klatt“. Der betrieb für die Abwehrstelle Wien in der bulgarischen Hauptstadt Sofia den „Luftmeldekopf Südost“ und war in eingeweihten Kreisen des Nachrichtendienstes der Wehrmacht als „der Jude Klatt“ bekannt. Dahinter verbarg sich der ehemalige Wiener Immobilienmakler Richard Kauder, Sohn eines vom Judentum zum Katholizismus übergetretenen Militärarztes der k.u.k.-Armee.
Um der Gestapo zu entkommen, wurde er Spion
Seit dem sogenannten Anschluss Österreichs galt Kauder nach den NS-Gesetzen als „Volljude“. Er erkannte die Gefahr, floh nach Ungarn, wurde aber abgeschoben. Anfang 1940 nahm ihn die Wiener Gestapo in Haft. Doch der Leiter der Abwehrstelle Wien, ein katholisch-konservativer Hitler-Gegner und Freund von Kauders verstorbenem Vater, befreite ihn. Um sich und seiner Mutter weiter den Schutz der Abwehrstelle Wien vor rassistischer Verfolgung zu sichern, trat Richard Kauder als V-Mann „Klatt“ in die Dienste der Abwehr.
Aus Sofia funkte er ab dem Herbst 1941 eine immer größere Zahl von Nachrichten sowohl aus dem Hinterland der sowjetischen Front als auch aus dem britischen Einflussgebiet im Nahen Osten und Nordafrika nach Wien, die zur Unterscheidung ihres geografischen Bezugs als „Max“- bzw. „Moritz“-Meldungen gekennzeichnet waren. Seine Informationen bezog Kauder von dem Exilrussen Longin Ira, den er als Mithäftling auf seiner Flucht im Budapester Stadtgefängnis kennengelernt hatte.
Tatsächlich waren sämtliche Nachrichten erfunden
Longin Ira hatte der zaristischen und der „weißen“ Armee im Russischen Bürgerkrieg angehört und sich als Emigrant einer russischen Exilorganisation angeschlossen. Iras Nachrichten stammten angeblich von einem Agentennetz, das diese Organisation in der Sowjetunion aufgebaut hatte.
Tatsächlich wurden sie von Ira erfunden, allerdings auf der Grundlage hervorragender Kenntnisse der Sowjetarmee und des Operationsgebietes sowie der sorgfältigen Auswertung der neutralen und der sowjetischen Medien. Denn die waren in Bulgarien erhältlich, weil das Land zwar mit Deutschland verbündet war, sich aber nicht mit der Sowjetunion im Krieg befand. Richard Kauder kümmerte die Authentizität seiner Nachrichten wenig, solange sie seine Empfänger zufriedenstellten und ihn damit vor Deportation und Ermordung schützten.
Vor allem seine „Max-Meldungen“ erfreuten sich wegen ihrer Aktualität und vermeintlichen Präzision einer immer größeren Wertschätzung in den deutschen Generalstäben. Bis zu zehn „Max-Meldungen“ wurden täglich von Wien aus direkt an die Dienststelle „Walli I“ des Majors Hermann Baun gefunkt, die den gesamten Nachrichtendienst an der Ostfront koordinierte. Baun leitete die Meldungen, die den größten Teil der ihm überhaupt zur Verfügung stehenden Nachrichten ausmachten, an die betroffenen Heeresgruppen und an Gehlens Abteilung weiter.
Plötzlich kamen keine Meldungen mehr
Seit dem 23. August 1943 aber blieben die aus Wien gelieferten Meldungen aus dem Hinterland der sowjetischen Front plötzlich vollkommen aus. Was war passiert? In einer Intrige gegen den Nachrichtendienst der Wehrmacht war Hitler darauf aufmerksam gemacht worden, dass ein V-Mann, der in Stockholm heimliche Kontakte zur Sowjetbotschaft pflegte, Jude sei. Wütend bestellte er den Abwehr-Chef Admiral Canaris ein und verlangte die Entlassung aller als „Volljuden“ geltenden V-Leute.
Nun traute sich die Abwehrstelle Wien nicht mehr, Meldungen ihres jüdischen V-Manns in Sofia weiterzuleiten. Der „Fortfall der wichtigsten Abwehr-Quelle“ brachte sowohl Major Baun wie auch Oberst Gehlen in eine prekäre Situation. Auch auf den Versuch der Heeresführung, Hitler zu einer Ausnahmeregelung für Kauder zu bewegen, zeigte sich der Diktator „unerbittlich“. Noch im November 1943 beklagte sich Gehlen, Hitler habe ihm die Verwendung seines „zuverlässigsten Vertrauensmannes, der uns die besten Nachrichten über Russland brachte“, untersagt. Er aber habe „schon Mittel und Wege gefunden, ihn weiter einzusetzen“.
Der Agent wird an die Ungarn ausgeliehen
Tatsächlich hatte Gehlen einem Arrangement zugestimmt, nach dem Richard Kauder als V-Mann an den befreundeten ungarischen Armeegeheimdienst abgetreten wurde. Er erhielt einen neuen Decknamen und verlegte seinen Sitz nach Budapest, von wo er ab Mitte September 1943 seine Nachrichten in der üblichen Frequenz nach Wien funkte. Und so machten die von einem dubiosen Exilrussen erfundenen und von einem jüdischen Immobilienmakler gelieferten Meldungen wieder den Großteil des von Gehlen ausgewerteten Nachrichtenmaterials über den Feind im Osten aus.
Weil seine Meldungen weiter für kriegswichtig gehalten wurden, konnte Kauder seine Position fast bis zum Kriegsende behaupten. Erst im Februar 1945 wurde er in Wien wegen Devisenvergehen und des Verdachts, sich absetzen zu wollen, von der Gestapo inhaftiert. Mit viel Glück überlebte Kauder das Kriegsende.
Schon im Sommer 1945 trat er in Salzburg, diesmal unter dem Decknamen „Saber“ (Säbel), in die Dienste einer dort stationierten kleinen Einheit des amerikanischen Geheimdienstes OSS. Der Kontakt zu seinem ebenfalls in Salzburg gestrandeten ehemaligen Hauptagenten Longin Ira aber wurde Richard Kauder von den Amerikanern strengstens untersagt.
Die US-Geheimdienstler hatten Ira und seinen wichtigsten russischen Zuträger als Chefagenten einer auf die Infiltration des Sowjetgeheimdienstes abzielenden Operation ausersehen. Diese sollte nach Ansicht ihrer Initiatoren „eine der wichtigsten Gegenspionage-Operationen aller Zeiten“ werden und deshalb so geheim behandelt werden wie das „Manhattan“-Projekt, die Entwicklung der amerikanischen Atombombe.
Gehlen beschließt, sich den Amerikanern anzubieten
Damit wurde die Operation des US-Geheimdienstes in Österreich zur gefährlichen Konkurrenz für ein Projekt des Chefs der Nachrichtenabteilung der US-Armee in Deutschland, General Edwin Luther Sibert, in dessen Zentrum Reinhard Gehlen stand. Gehlen war erst am 9. April 1945 wegen unzutreffender Prognosen von Hitler entlassen worden und hatte mit seinem Nachfolger und Hermann Baun eine Verabredung getroffen: Sie wollten ihre Dienste und ihr gesamtes Nachrichtenmaterial den Amerikanern anbieten, um nach der unvermeidlichen Niederlage Hitler-Deutschlands den Kampf gegen den Bolschewismus in deren Auftrag und vor allem mit deren Geld weiterführen zu können.
Einen begeisterten Unterstützer seiner antikommunistischen Pläne fand Gehlen in General Sibert, in dessen Zuständigkeitsbereich er als US-Kriegsgefangener im Juli 1945 gelangte. Sibert installierte ihn und einige seiner aus US-Kriegsgefangenenlagern geholten ehemaligen Mitarbeiter als „Fachstab Gehlen“. Dessen Analysen zu Taktik und Führung der Sowjetarmee enthielten vor allem Anmerkungen Gehlens zum angeblichen Charakter des „östlichen Slawen“, der durch „Schwarz-Weiß-Denken", einen „Hang zum Schematismus" und ein „grenzenloses Misstrauen gegen andere, die Welt und sich selbst“ geprägt sei.
Gehlen musste zu seiner Vernehmung in die USA
Ende August 1945 mussten Gehlen und seine Mitarbeiter auf Weisung des US-Kriegsministeriums in die USA fliegen. Dort wurden sie aber nicht etwa zu Verhandlungen auf Augenhöhe über den Aufbau eines deutschen Geheimdienstes empfangen, wie er später in seinen Memoiren behauptete, sondern um in einem geheimen Vernehmungszentrum zur deutschen Kriegführung an der Ostfront befragt zu werden.
Erst im Herbst 1945 konnte General Sibert Gehlens Partner Baun ausfindig machen und nach „Camp King“ in Oberursel bringen lassen. Dort entwickelte Baun Pläne für einen deutschen Nachrichtendienst, der unter seiner Führung für die Amerikaner arbeiten sollte. Ein Unternehmen, das Washington in einer europaweit arbeitenden Variante jährlich vier, in einer global operierenden acht Millionen Dollar kosten würde.
Diese Pläne musste Baun gefährdet sehen, als er erfuhr, dass der US-Geheimdienst in Österreich ein ähnliches Projekt mit Longin Ira und seinem Mitstreiter plante, den ehemaligen Lieferanten der Nachrichten, die seine und Gehlens Arbeit so erfolgreich hatten erscheinen lassen. Baun verlegte sich darauf, die beiden Russen und ihren Partner Kauder bei den Amerikanern als bekannte langjährige Doppelagenten der Sowjets zu denunzieren. Ein Befund, der so noch heute in den Akten der Westalliierten steht.
Zwei US-Geheimdienste konkurrieren
Doch selbst mit Bauns Desinformationen konnte General Sibert die Operation der US-Geheimdiensteinheit in Salzburg zunächst nicht stoppen. Entschieden wurde die Konkurrenz zwischen den in Salzburg und Oberursel geplanten Projekte schließlich dadurch, dass der US-Geheimdienst OSS im Herbst 1945 aufgelöst und seine Reste dem US-Kriegsministerium unterstellt wurden.
Die Militärs im Ministerium entschieden sich schließlich gegen die in Österreich geplante Operation mit dem Exilrussen Ira und für das Projekt mit den deutschen Berufssoldaten Gehlen und Baun, einen für die Amerikaner arbeitenden deutschen Geheimdienst aufzubauen. Dessen Leitung übernahm der gegenüber Baun ranghöhere Gehlen, weswegen der alt-neue Geheimdienst als „Organisation Gehlen“ firmierte.
Kurz vor ihrer Überführung in den Bundesnachrichtendienst 1956 konnten seine alten Kontakte dort der Versuchung nicht mehr widerstehen, Richard Kauder als V-Mann anzuwerben, weil dieser während des Zweiten Weltkrieges „einer der fähigsten Agenten des deutschen Geheimdienstes“ gewesen sei. Jetzt aber machten die Amerikaner klar, Kauder sei „vollkommen verbrannt, unkontrollierbar und überschätzt“ und man wolle von der „Organisation Gehlen“ auf keinen Fall aus seiner Hand stammende Nachrichten untergejubelt bekommen.
Vier Jahre später starb Richard Kauder, der legendäre Agent Klatt, nervlich zerrüttet, verarmt und vereinsamt in einem Salzburger Krankenhaus. Er wurde in einem Armengrab beigesetzt.
Reinhard Gehlen blieb bis zu seiner Pensionierung 1968 Chef des BND.
Winfried Meyer ist Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und Autor von: „Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen Stalin“, Metropol-Verlag 2015.
Winfried Meyer