Nürnberger Prozesse: Der erste Angeklagte - und der erste Zeuge
1945 stehen 21 führende Nazis wie Göring und Heß vor Gericht. Die Anklage: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und alle behaupten, sie wüssten von nichts. Dann wird General Lahousen aufgerufen.
Was soll mit den Tätern geschehen? Nach diesem mörderischsten Krieg, den die Menschheit je sah! „Erschießen“, sagt Stalin, „alle deutschen Kriegsverbrecher – mindestens aber 50 000“. Ein Stuhl fällt um, es ist der von Churchill, der sich rasch erhoben hat. „Niemals“, ruft der britische Premier, „das britische Volk wird einen solchen Massenmord nicht billigen“. US–Präsident Roosevelt schlägt lächelnd einen Kompromiss vor: „49 500“.
So soll es sich zugetragen haben bei einer Konferenz im November 1943 in Teheran, erinnert sich später Elliott Roosevelt, Sohn des Präsidenten und Augenzeuge.
Der Krieg tobt da noch an allen Fronten. Zwei Jahre später ist Deutschland besiegt. Und der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wird eröffnet – am 18. Oktober im Berliner Kammergerichtssaal. Eine Formalie, richtig beginnen wird das Verfahren erst am 20. November in Saal 600 des eigens umgebauten Nürnberger Justizpalastes.
Angeklagter Nummer eins ist Göring
Einig geworden, dass es diesen Prozess geben soll, sind sich die Sieger erst im Juni 1945. Die Fehler von Versailles, als man dem besiegten Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die Schuld diktierte, sollen vermieden, die Schuldigen namentlich überführt werden. Gegen 50 000 Angeklagte lässt sich nicht verhandeln. Man einigt sich auf 24, zwei sind inzwischen tot, einer, Gustav Krupp, verhandlungsunfähig. Bleiben 21. Angeklagter Nummer eins ist Hermann Göring, Nazi der ersten Stunde und der Ranghöchste, der nach dem Tod von Hitler, Goebbels und Himmler noch übrig ist.
Die Namen vieler Zeugen werden aus Sicherheitsgründen zurückgehalten. Weder die Verteidiger noch die Berichterstatter wissen, dass als erster Erwin Lahousen Edler von Vivremont aussagen wird, vormals Generalmajor der Deutschen Wehrmacht.
Der Mammutprozess muss binnen kürzester Zeit vorbereitet werden. Fotos zeigen knöchelhoch mit Akten bedeckte Räume. Bis zur Urteilsverkündung am 1. Oktober 1946 werden die Ankläger 2630 Dokumente vorlegen, werden 270 Zeugenaussagen auf 27 000 Meter Tonband aufgezeichnet. Mehr als 250 Journalisten verfolgen das Verfahren. Unter ihnen sind Schriftsteller wie der Amerikaner John Dos Passos, der Russe Ilja Ehrenburg, der Deutsche Erich Kästner, für eine norwegische Zeitung beobachtet Willy Brandt.
Vor allem der amerikanische Chefankläger Robert Jackson hat Großes vor: Er will den Krieg grundsätzlich als Verbrechen verurteilen. Verschwörung zum Angriffskrieg lautet der zentrale Vorwurf. Der Holocaust, der in seinem vollen Ausmaß noch gar nicht bekannt ist, steht in diesem Verfahren nur am Rande zur Debatte. Zwar ist Crime against Humanity Punkt vier auf der Anklageliste – was in der Regel mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit übersetzt wird, aber auch Verbrechen gegen die Menschheit bedeuten kann. Wichtige Dokumente, wie das Protokoll der Wannseekonferenz, wo die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ organisiert wurde, sind jedoch noch nicht gefunden.
Endlose Erklärungen werden vorgetragen, schon nennt die britische Journalistin Rebecca West den Nürnberger Justizpalast eine „Festung der Langeweile“. Allein bis die 21 Angeklagten jeden Tag ihre Plätze eingenommen haben, aus ihren Zellen im Keller kann der Fahrstuhl immer nur zwei, begleitet von zwei Militärpolizisten, in den Saal in der zweiten Etage bringen, dauert eine halbe Ewigkeit.
Emotional wird es erstmals nach neun Verhandlungstagen, am 29. November. Filme von Erschießungen und aus Konzentrationslagern zeigen Leichenberge, auch auf der Anklagebank herrscht Stille. Doch individuelle Schuld kann man den 21 Angeklagten so nicht nachweisen.
Erst jetzt wird für den nächsten Tag Erwin Lahousen angekündigt. Doch kaum jemand im Saal kennt den Namen.
Kein Wunder, Lahousen, geborener Österreicher, war lange Leiter der Abteilung II der Abwehr, dem militärischen Nachrichtendienst. Wer kennt schon die Identität der Topgeheimdienstleute? Abteilung II, das ist die für schmutzige Tricks, wie der Amerikaner Harry Carl Schaub in seiner gerade erschienenen Biografie über Lahousen schreibt. Zuständig für Sabotage, für den Krieg hinter den feindlichen Linien. Was noch weniger Leute wissen: Dieser Lahousen betrieb seit 1938, seit er als österreichischer Berufsoffizier nach dem „Anschluss“ seiner Heimat in die Wehrmacht eintrat, ein doppeltes Spiel. Der Historiker Winfried Meyer vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin zählt ihn zumindest zum erweiterten Kreis der Widerständler gegen das Naziregime.
Agenten der Abwehr planen die Entführung Hitlers
Tatsächlich ist die Abwehr der Truppenteil, der die aktivsten Widerständler im deutschen Militär stellt. Alles, was sie tun, ist ja geheim. Sie können reisen, dürfen sich sogar mit dem Feind treffen, ohne, dass es auffällt. Allen Dulles vom amerikanischen CIA-Vorläufer OSS schätzt den Anteil der Widerständler in der Abwehr auf fünf Prozent. Das Besondere: die Spitzenleute gehören dazu. Voran der Chef, Admiral Wilhelm Canaris, er ist zwar nicht aktiv an den Verschwörungen beteiligt, doch er weiß von allem, billigt es. Treibende Kräfte sind sein Stellvertreter Hans Oster und der Jurist Hans von Dohnanyi.
Oster rechnet bereits 1938 mit einem baldigen Krieg, will ihn durch die Entführung und Liquidierung Hitlers verhindern. Nachdem der Westen Hitlers Vorgehen in der Tschechoslowakei hinnimmt, zerreißt Osters Netz, das er in der Wehrmacht geknüpft hat. Er verrät den bevorstehenden Angriff auf die Niederlande, um den Feldzug so zu stoppen. Der Westen glaubt ihm nicht. Er plant mindestens zwei Attentate, zuletzt 1943 in Smolensk. Eine mit Sprengstoff präparierte Cointreau-Flasche soll Hitlers Maschine auf dem Rückflug von dessen Frontbesuch zum Absturz bringen. Der Sprengsatz versagt in der Kälte des Laderaums.
Lahousen hat die Bombe besorgt
Lahousen hat die Bombe besorgt. Nur er kommt an die lautlosen britischen Zünder, die seine Sabotagetruppe hortet. Bereits vor dem Krieg hatte er sowohl über deutsche Pläne für einen Einmarsch in die Tschechoslowakei als auch in Polen an die französische Agentin Madeleine Bihet-Richou berichtet. Doch die Franzosen zogen aus den Nachrichten keine Konsequenzen.
Canaris fordert seine Leute auf, Tagebuch zu führen und Dokumente zu sammeln. Den Krieg hält er von Anfang an für verloren, man werde eines Tages Zeugnis ablegen, für alle Verbrechen. Doch die Gruppe, die auch jüdische Flüchtlinge ins Ausland schmuggelt, fliegt auf. Dohnanyi wird 1943 verhaftet, Oster ein Jahr später, Canaris zunächst unter Hausarrest gestellt. Besiegelt ist ihr Schicksal, als die Gestapo Anfang April 1945 das geheime Tagebuch von Canaris entdeckt. Gefoltert und gedemütigt werden Canaris und Oster am 9. April im KZ Flossenbürg hingerichtet, Dohnanyi in Sachsenhausen.
Er entgeht dem Rachefeldzug
Lahousen entgeht dem Rachefeldzug von SS und Gestapo. Er hatte sich an die Ostfront gemeldet. Warum, ist unklar. Hielt er das Doppelspiel nicht mehr aus? Ging es ihm um die Beförderung, die er nur nach aktivem Fronteinsatz erlangen kann? Eine Artilleriegranate verwundet ihn schwer. Während seine Kameraden verfolgt, verhaftet und ermordet werden, liegt er im Lazarett, ist dann dienstuntauglicher Rekonvaleszent.
Es sind die Amerikaner, die ihn nach Nürnberg bringen, in einer Villa am Stadtrand einquartieren. In ihrem vom ZDF verfilmten Buch „Das Zeugenhaus“ schildert Christiane Kohl die Vorgänge dort: Als Gastgeberin in der Villa wird eine deutsch-ungarische Gräfin engagiert, die Lahousen in ihren Erinnerungen als einen gebrochenen Mann beschreibt. Ausgemergelt, kahlköpfig, älter aussehend als die 48 Jahre, die er ist. Oft habe er geweint. Lahousen ist nicht nur durch diverse Verletzungen beeinträchtigt – schon im Ersten Weltkrieg erlitt er einen Lungensteckschuss und eine Gasvergiftung. Er hat mittlerweile zwei Herzinfarkte hinter sich und musste den Tod seiner Kollegen von der Abwehr hinnehmen.
Wer ist die geheimnisvolle Frau?
Ankläger Jackson muss fürchten, dass sein erster und vielleicht wichtigster Zeuge dem auf zwei Tage geplanten Verhör nicht standhält. Umso seltsamer die Episode, die sich dann ereignet: Eine Frau wird eingeladen, das Wochenende in Lahousens Zimmer zu verbringen. Der normalerweise dorthin kommandierte Leibwächter zieht solange aus. Die Frau kann nur die französische Agentin Madeleine Richet-Bihou sein, davon ist Biograf Schaub nach Kenntnis ihrer lange geheim gehaltenen Aufzeichnungen überzeugt.
Was auch immer Bihet-Richou dort getan oder erklärt haben mag, Lahousen wird aussagen – und wie. In Vertretung von Canaris hat er an Sitzungen mit Hitler, dem Oberkommandierenden Keitel, Außenminister Ribbentrop teilgenommen, hat für Canaris teilweise dessen Diensttagebuch geführt und Kenntnis von vielen Verbrechen.
Polens angeblicher Angriff auf deutsches Gebiet? Fingiert. Der Angriff auf Russland? Kein Präventivschlag wie behauptet, sondern geplanter Vernichtungsfeldzug. Die Bombardierung des wehrlosen Warschaus? Gegen den Protest von Canaris auch von Keitel gefordert. Die Liquidierung der polnischen Intelligenz, das Niederbrennen polnischer Bauernhäuser, die angeordnete Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener – Lahousen nennt Fakten, Zahlen, Namen.
Keitels Anwalt erhebt Einspruch: Habe der Oberkommandierende nicht angeboten, dass sich Offiziere in Gewissensnot vertrauensvoll an ihn wenden sollten? Nein, erwidert Lahousen, „ganz bestimmt nicht.“ Aber Keitel habe befohlen, zwei gefangene französische Generäle ermorden zu lassen, ein Befehl, den die Abwehr nicht ausführte.
„Verräter!“, schallt es von der Anklagebank, „Schwein!“. Göring tobte, erinnert sich später der Nürnberger Gefängnispsychologe Gustave Gilbert, habe gerufen, Lahousen sei wohl nach dem 20. Juli, gemeint ist der Tag des Attentats auf Hitler und die anschließende Verhaftungs- und Hinrichtungswelle, vergessen worden.
Walther Karsch, Mitbegründer des Tagesspiegels und damals Prozessbeobachter, schreibt in der Ausgabe vom 4. Dezember 1945, „Lahousen hat sich gewiss wenig Gedanken darüber gemacht, ob Kriege eine moralische Angelegenheit sind“, aber wenigstens habe er sich Gedanken über die Spielregeln gemacht. Nicht Hass, sondern Verachtung trieb ihn zu seiner Aussage: „Die Anklagebehörde hat in dem Kampf um diesen ersten wichtigen Kronzeugen gesiegt.“
216 Prozesstage später fällt das Todesurteil gegen Göring, von Ribbentrop, Keitel, Jodl und acht weitere Angeklagte.
Das Verhör kostet ihn ein paar Zähne
Lahousen bleibt in Gefangenschaft. Er hat dreieinhalb hässliche Monate vor sich, als er in das britische Verhörzentrum in Bad Nenndorf überstellt wird. Die Kollegen der Geheimdienste MI 5 und MI 6 haben noch ein paar Fragen zur IRA, der irischen Untergrundarmee, die während des Krieges von der Abwehr mit Waffen und Sprengsätzen beliefert worden war. Lahousen behauptet später, das Verhör habe ihn ein paar Zähne gekostet.
1947 wird er entlassen. Seine Hoffnungen, die Militärkarriere fortsetzen zu können, erfüllen sich nicht. Er stirbt vor Aufstellung der neuen österreichischen Armee 1955 am dritten Herzinfarkt.
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