Ausflug nach Stettin: Sinfonie einer Hafenstadt
Wer hier mit dem Zug ankommt, denkt erst mal: wirr und vermurkst! Doch Stettin ist jung, lebendig, voll moderner Architektur und liegt direkt vor Berlins Haustür.
Hier muss es sein. Genau hier, vor der neuen Stettiner Philharmonie, diesem bezaubernden, weiß schimmernden Giebelbau, der an eine vereiste Gebirgskette erinnert, soll es stehen: das Haus, das ein internationaler Architekturkongress vor ein paar Monaten zum besten der Welt anno 2016 kürte. Nur wo? Ratlos steht man auf dem schräg ansteigenden Platz, entdeckt erst nach einer Weile den Schlitz, der vom Solidarnosc-Platz in die zeithistorische Ausstellung hinunterführt. Denn der Platz, der an die 16 Opfer des Arbeiteraufstandes gegen die kommunistische Regierung 1970 erinnert, ist das Museumsdach.
Ein Gebäude, egal welches, zum besten der Welt zu ernennen, ist ein verwegenes Unterfangen. Interessant ist das Urteil auf jeden Fall: dass die eigene Zunft sich nicht für einen spektakulären Solitär entschied, sondern für einen Entwurf, der sich ganz zurücknimmt gegenüber dem aufregenden Gegenüber. Die eigentliche Ausstellung liegt passend zum Thema im Untergrund, schwarz ausgekleidet wie ein Kino, Leuchtstreifen weisen den Weg. Plastisch, sachlich, knapp wird hier auf Polnisch, Englisch und Deutsch von der Nazizeit und der kommunistischen Ära erzählt, von Vertreibung, Gewalt, Aufstand und Unterdrückung, von verfolgten Juden, verpflanzten Polen, Umbrüchen aller Art. Kein heiterer Besuch. Aber ein berührend erhellender.
Was beide Bauten demonstrieren, ist eine heutzutage rare Qualität – Respekt. Der oberschlesische Architekt Robert Konieczny hat gar nicht erst versucht, die Philharmonie zu übertrumpfen. Von der einem jeder, wirklich jeder, stolz erzählt, dass sie mit dem Mies van der Rohe-Preis 2015 als bester Bau Europas ausgezeichnet wurde. Die Menschen reden davon wie von einem Adelsschlag – in Europa angekommen zu sein.
Das zeithistorische Museum ist keine patriotische Lehranstalt
Respektiert werden die Nachbarn und die Historie. Die Philharmonie von Alberto Veiga und Fabrizio Barozzi, einem Büro aus Barcelona, auf dem Platz des alten Konzerthauses, dessen Kriegsruine 1962 abgerissen wurde, steht Wand an Wand und auf gleicher Höhe mit dem gründerzeitlichen Polizeirevier. Die Giebel erinnern an die typische Architektur der Hansestädte, zu denen auch Stettin gehörte. Im Inneren lässt die umwerfende weiße Lobby mit der Wendeltreppe an einen Ozeandampfer denken. Die Ostsee ist nur 65 Kilometer entfernt.
Das zeithistorische Museum wiederum ist keine patriotische Lehranstalt. Bei Diskussionsveranstaltungen zwischen früheren Mitgliedern der Solidarnosc und ehemaligen Militärangehörigen kann es schon mal ziemlich laut werden. Aber das ist der Sinn des vor genau einem Jahr eröffneten Centrum Dialogu Przelomy – das Gespräch zu führen.
Wer in Stettin am Hauptbahnhof ankommt, der früher Berliner Bahnhof hieß, geht nicht gleich in die Knie vor Begeisterung. Der erste Eindruck, gerade zu dieser Jahreszeit: ungemütlich. Der zweite: wirr. Der dritte: vermurkst. Der im Krieg massiv bombardierte Ort wurde nicht auf dem historischen Raster wieder aufgebaut, sondern als Stückwerk kreuz und quer. Wenn man die viel befahrene Straße langläuft, die die Stadt nun von der Oder trennt, gelangt man geradewegs zur autobahnbreiten, verschlungenen Brückenkonstruktion, die das alte Zentrum brutal zerschneidet. Verschmierte Betonkonstruktionen muss man unterqueren, um zur Hakenterrasse zu kommen, dem historischen Schmuckstück Stettins. Ein Ensemble aus drei mächtigen Gebäuden, das mittlere im Jugendstil mit einer prachtvollen Treppenanlage, die an Dresden erinnert und an deren Fuß die Ausflugsboote liegen.
Die deutsche Geschichte der Stadt wurde lange totgeschwiegen
Hermann Haken, von 1878 bis 1907, 29 Jahre lang, Oberbürgermeister von Stettin, hat die Stadt wie kein anderer geprägt. Damals erlebte die Industrie- und Hafenstadt einen Boom, innerhalb weniger Jahrzehnte vervierfachte sich die Bevölkerungszahl. Und Haken trieb die Großstadtwerdung, den repräsentativen Städtebau voran.
Zu kommunistischen Zeiten galten die Deutschen, die hier jahrhundertelang residierten, quasi als Besatzungsmacht, wurden bestenfalls totgeschwiegen. Nach der Wende und der Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze drehte sich das Blatt, entdeckten die Stettiner plötzlich ihre jahrhundertealte deutsche Vergangenheit. Alte Ansichten wurden gedruckt, reihenweise Bücher über die Geschichte vor 1945 publiziert.
Unter Historikern brach „eine regelrechte Goldgräberstimmung“ aus, wie der Wissenschaftler Jan Musekamp es nennt, und ein Teil der Altstadt wurde postmodern wieder aufgebaut. Das Museum des Dialogs kann man auch als Reaktion darauf betrachten. Irgendwann war es an der Zeit, daran zu erinnern, dass es auch nach 1945 eine identitätsstiftende Geschichte gab. Was enorm wichtig ist, denn nach dem Krieg wurde die Bevölkerung fast komplett ausgetauscht.
Stettin ist ziemlich grün und blau
Es braucht Zeit, um Stettin zu verstehen. Die sollte man sich unbedingt nehmen, denn die Stadt hält viele Überraschungen bereit. Eine davon ist das Pariser Viertel. Nach dem Vorbild der französischen Hauptstadt ließ Oberbürgermeister Haken breite Boulevards sternförmig anlegen, wurden Gründerzeit- und Jugendstilbauten errichtet, Villen gebaut. Im Unterschied zur engen Altstadt, die bei den Bombardements sofort Feuer fing, hat dieses Viertel überlebt.
Vor gut 100 Jahren wurde Stettin als „Hafen Berlins“ bezeichnet. Man kann ohne Weiteres von der Spree an die Oder schippern. Schneller geht’s freilich mit der Bahn: In zwei, zweieinhalb Stunden ist man da. Und wenn endlich, worüber seit Jahren geredet wird, die Strecke modernisiert würde, wäre es wohl nur eine Stunde. Mit der Bahncard 50 kostet ein VBB-Ticket sagenhafte 8,30 Euro – kaum mehr als eine Tageskarte der BVG.
Fast beschämt lauscht man als Berliner Stettin-Novize den Geschichten der Kulturschaffenden, die regelmäßig in die deutsche Hauptstadt fahren, welche ein paar hundert Kilometer näher liegt als die polnische. „Natürlich“ fährt Jedrzej Wijas vom Trafo, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst, an die Spree, wenn er eine Gruppe wie U2 hören will. Berlin, so sagt er, ist Stettins Verbindung zur internationalen Kulturszene. In dem imposanten, drei Stockwerke hohen offenen Innenraum der umgebauten Transformatorenstation von 1912 läuft gerade eine Ausstellung des Berliner Künstlers Tobias Dostal. Demnächst wird hier „Made in Szczecin“ zu sehen sein, ein Überblick über die junge Kunstszene vor Ort.
Die Hälfte der Stadtfläche wird von Parks bedeckt
Der Fotograf Tomas Lazar setzt sich am Samstagmorgen mit seinen Freunden und dem Gruppenticket in die Bahn, um am Ziel durch Galerien zu laufen, was zu essen, zu trinken und abends zurückzufahren. Die Frage, warum er als preisgekrönter, global arbeitender Fotograf im abgelegenen Stettin lebt, versteht er nicht. Wenn er mal wieder einen Auftrag vom „Stern“ oder der „New York Times“ bekommt, fährt ihn eine Limo für 90 Euro zum Flughafen Tegel. Ansonsten kann er in der vertrauten Umgebung am besten entspannen, wie er im Café 22 erzählt, dem gerade modernisierten Aussichtslokal im 22. Stock eines runden Büroturms, das man unbedingt besuchen sollte. Nirgends begreift man den Aufbau der Stadt besser als von hier oben.
Oder Jaroslaw Bondar, der mit seiner Familie regelmäßig zum Museumsbesuch rüberfährt. Noch nach Jahrzehnten sichtbar beseelt, erzählt der 49-Jährige, was für ein Erlebnis es war, als Architekturstudent nach der Wende auf Exkursion nach Berlin zu gehen und mit den eigenen Händen einen Mies van der Rohe – die Neue Nationalgalerie – zu berühren: Die Moderne war den Sozialisten verhasst gewesen. Später hat er in Holland gearbeitet, Kontakte nach Brüssel und Gent geknüpft. Seit drei Jahren Stadtarchitekt von Stettin, betreibt Bondar nun das, was man in Berlin als behutsame Stadterneuerung kennt, mit Beteiligung der Bevölkerung, die auch vorschlagen und darüber abstimmen kann, was mit dem Geld aus ihrem eigenen Topf für Stadtverbesserungen passieren soll. Und vor allem treibt Bondar mit seiner Verwaltung in der liberal-konservativ regierten Stadt eine Vision voran: „Szczecin 2050 – floating gardens“.
Stettin ist nämlich ziemlich grün und blau. Mehr als die Hälfte der Stadtfläche wird von Parks, darunter der drittgrößte Parkfriedhof Europas, und von Wasser bedeckt. So werden sich im Sommer wieder die größten Segelschiffe der Welt zu den Tall Ship Races in Stettin einfinden. Beim letzten Mal kamen eine Million Besucher.
In Stettin weht ein europäischer Wind
Auf diesem Grün und Blau will man nun aufbauen. So wurde eine im Sommer extrem beliebte Promenade an der Oder angelegt, Radwege expandiert, eine neue fußgängerfreundliche Brücke soll in alte Industriegebiete führen, die peu à peu umgewandelt werden.
Stettin ist eine junge Stadt, mit einer lebendigen Café- und Restaurantkultur. Von den gut 400 000 Einwohnern sind 55 000 Studenten, die sich auf sechs staatliche und elf private Hochschulen verteilen. War die 15 Kilometer entfernte Grenze zu Mecklenburg in den 1970er Jahren noch fest verschlossen, überqueren sie einige Anwohner heute jeden Tag. Für den Preis einer Dreizimmerwohnung in Stettin, erzählte der deutschsprachige Stadtführer Marcin Kuta, bekommt eine junge Familie in Vorpommern ein ganzes Haus mit Garten.
Stettin ist nicht Bilbao. Aber die Architektur (zu der noch die Open-Air-Bühne eines Londoner Büros kommen wird) lockt neue Besucher an. Für die neue Elbphilharmonie Karten zu bekommen, ist aussichtslos. Es lohnt sich, mal die Himmelsrichtung zu wechseln. Im goldenenen Saal der Stettiner Philharmonie spielen zwar keine Berliner Philharmoniker, aber ein solides Orchester unter der Leitung eines jungen Norwegers. In Stettin weht ein europäischer Wind.
Reisetipps für Stettin
ANREISE
Mit dem Auto über die A11 (circa 1:45 Std.). Mit der Bahn gibt es ein paar Direktverbindungen ab Gesundbrunnen (1:45 Std.); ab Hauptbahnhof, mit Umsteigen in Angermünde, dauert es gut zwei Stunden. Mit dem Flixbus ab Zoo, ZOB, TXL oder Alexanderplatz zwei bis drei Stunden.
UNTERKUNFT
Hotel Zamek Centrum, in der Altstadt, ul. Panienska 15, Tel. 0048 91 85 22 777, freundlich. DZ mit Frühstück ab 92 Euro.
Park Hotel, Plantowa 1, parkhotel.szczecin.pl/de/, historisches Hotel im Park mit Slow-Food-Restaurant, DZ ab 100 Euro.
KONZERT
Philharmonie, ul. Malopolska 48, filharmonia.szczecin.pl/de, Tel. 0048 91 430 95 10.
MUSEUM
Centrum Dialogu Przelomy, pl. Solidarnosci 1, muzeum.szczecin.pl/en/, Di, Mi, Do, Sa 10–18 Uhr, Fr, So 10–16 Uhr.
STADTFÜHRUNGEN
Marcin Kuta, stadtfuehrer-stettin.eu/de