Reporterlegende Gay Talese: „Selbst zum Friseur gehe ich im Anzug“
Gay Talese ist einer der renommiertesten Reporter der USA. Für ein Porträt von Frank Sinatra hat er wochenlang dessen Freunde belagert. Wie er Menschen für sich gewinnt und warum er wegen Obama erstmals wählen ging.
Mr. Talese, Sie gelten zusammen mit Tom Wolfe als Mitbegründer des „New Journalism“. Erklären Sie bitte, was das ist?
Artikel wie Kurzgeschichten zu schreiben – mit subjektiven Eindrücken. Das gab es in den 1950er Jahren kaum. Ich berichtete über die Parlamentssitzungen in Albany, der Hauptstadt des Bundesstaates New York, und erwähnte die Spucknäpfe unter den Abgeordnetenpulten. Das hat mir die Redaktion der „New York Times“ rausgestrichen.
Ihre Reportagen über Frank Sinatra oder den Baseballstar Joe Di Maggio gelten als Meilensteine. An Stars dieser Liga ist kaum noch ranzukommen.
Meinen Studenten in Yale oder Harvard sage ich: Wenn Sie möchten, dass jemand Ihnen die Tür öffnet, müssen Sie lernen, sich gut zu präsentieren. Überzeugen Sie Ihr Gegenüber, dass Sie ehrliches Interesse an seiner Person haben. Vor allen Dingen ziehen Sie sich ordentlich an.
Warum zählt das für Sie?
Vor einer Woche klopfte es an der Haustür, und vor mir standen drei junge Männer, peruanische Journalisten, die sich mit mir unterhalten wollten. Sie trugen keine teure Kleidung, aber hatten sich so fein wie möglich gemacht, mit Krawatte und Jackett, also ließ ich sie hinein. Ich glaube an den ersten Eindruck, so habe ich auch gearbeitet, nur heutzutage kleiden sich Journalisten wie Sie – oder noch schlimmer.
Ich habe ein frisch gebügeltes Hemd, einen schwarzen Pullover und eine hellblaue Baumwollhose an.
Intellektuelle kleiden sich schlecht, das wirkt aus den 60er Jahren nach. Damals begannen sie, Blue Jeans anzuziehen, wollten bis zur Lächerlichkeit locker wirken. Manchmal können Sie an der Kleidung keinen Unterschied mehr zwischen einem Harvard-Professor und seinem Studenten sehen.
„Dress up for the story“ – so heißt Ihr Motto.
Als ich ein Buch über Brückenarbeiter geschrieben habe, tat ich nicht so, als sei ich einer von ihnen. Ich trug einen Dreiteiler, einen Hut, Lederschuhe. Ich gehöre zu einer privilegierten Gruppe von Menschen, die bis zu einem gewissen Grad das Recht hat, in die Privatsphäre anderer einzudringen. Dabei aber fair bleiben muss. Nie hat mich jemand angerufen, weil ich ihn verzerrt dargestellt hätte.
Die Reportage „Frank Sinatra ist erkältet“ von 1966 hat der „Esquire“ als eine der besten Reportagen des Jahrhunderts gekürt. Sie haben nur mit Wegbegleitern über den Sänger gesprochen. Er kam als eitel und herrisch rüber. Fand er das fair?
Er hat sich nie beschwert, allerdings auch keine Dankesbriefe geschickt. Weil ich nichts Unehrenhaftes gemacht habe. Ich sollte für drei Tage nach Los Angeles fliegen, aber Sinatra sagte das Interview ab. Am Ende blieb ich mehrere Wochen und sprach mit allen Menschen in seinem Umfeld. Als Journalist besaß man damals noch einen Stolz, wenn man seiner Arbeit nachging.
Heute nicht mehr?
Nein, der ist weg. Wenn ich Sie ansehe, tippe ich, Sie haben sich vor zehn Jahren genauso angezogen. Ich frage Sie: Wie viele Anzüge haben Sie?
Einen.
Und den ziehen Sie zu was an – einem Begräbnis oder einer Hochzeit? Warum nicht für die Arbeit? Ich hole meinen Anzug aus dem Schrank, wenn ich zum Friseur gehe! Vor ein paar Jahren habe ich über einen Baseball-Manager geschrieben. Eine ganze Weile war ich also in der Gesellschaft von Sportreportern. Diese Typen, oh Gott, verglichen mit denen gehen Sie als elegant durch. Das waren keine unterprivilegierten Männer, sie waren auf einigen der besten Universitäten der USA – und wenn man sie in Jeans und T-Shirts sah, dachte man, das seien arme Schweine.
Wahrscheinlich wollten sie nicht auffallen.
Sollten sie aber. Sie sind nicht das Publikum, sie sind die Hohepriester. Selbst zu einem Reporter in einem chinesischen Newsroom, der möglicherweise überzeugter Kommunist ist, habe ich als Journalist eine größere Nähe als zu einem Mann, der neben mir auf der Stadiontribüne sitzt. Journalisten sind eine Klasse für sich – ein Mönchsorden, der versucht, der Wahrheit zu dienen. Ach, lassen wir das, reden wir erst mal über meinen Lebenslauf.
"Ich war ein Tagträumer, auf viele Dinge neugierig"
Können wir später über Ihre Biografie sprechen?
Nein, damit geht jedes Gespräch los. Sehen Sie...
Sie ziehen aus der Innentasche Ihres Jackets zugeschnittene Pappen, die sonst bei Hemden in der Reinigung hängen.
Mit 19 Jahren schrieb ich meine Notizen auf Shirt Boards, das tue ich immer noch. In der anderen Tasche ist mein Stift. Das hat sich nicht geändert, seit ich 1949 an der Universität von Alabama war. Ich habe vier Jahre Journalismus studiert, obwohl ich in dem Fach gar nicht so gut war.
Sie wollten nicht Reporter werden?
Doch, ich war in keiner anderen Disziplin besser. Schon an der High School hatte ich für eine Wochenzeitung geschrieben, über Themen an unserer Schule: den Ausnahmesportler, die Schönheitskönigin und so weiter. Die Klassenzimmer waren nicht meine Welt, die Redaktionsräume schon.
Warum?
In der Zeitung konnte ich über andere Menschen schreiben, in der Schule ging es um mich, mein Wissen, meine Unfähigkeiten, etwas zu begreifen. Ich war ein Tagträumer, auf viele Dinge neugierig, die nicht auf dem Lehrplan standen.
Mädchen?
Nein, wer die anderen Schüler in meiner Klasse waren, was sie anders machte als mich. Vergessen Sie nicht, ich war der einzige Italiener in meiner Klasse.
Das war eine große Sache in den 1940er Jahren?
Natürlich. Die Brüder meines Vaters kämpften unter Mussolini in der faschistischen Armee. In Ocean City, wo ich in New Jersey aufwuchs, lebten sonst nur protestantische weiße Amerikaner. Flaggen wehten auf der Straße, im Postamt hingen Bilder von Hitler, Mussolini und Kaiser Hirohito, den Bösewichten der Achsenmächte. Poster forderten uns auf, Kriegsanleihen zu kaufen. Selbst Kinder sparten ihre 25 Cent dafür.
Sie auch?
Ja, ich kaufte auch eine Anleihe. Zu Hause bastelte ich Modellflugzeuge von amerikanischen und britischen Bombern. Ich entwendete Garn von meinem Vater, der eine Schneiderei im Erdgeschoss führte, und hängte die Modelle an die Decke meines Zimmers. Als die Amerikaner 1943 das Kloster Monte Cassino bombardierten, wurde mein Vater so wütend, dass er die Flugzeuge alle herunterriss. Meine Eltern waren im Erdgeschoss amerikanische Patrioten und in der ersten Etage Sympathisanten Italiens. So brachten sie mir die Vorstellung eines Doppellebens nahe.
Ihre Eltern waren Anhänger Mussolinis?
Sie waren keine Faschisten, ihre Gefühle gingen aber ins Land zu ihren Verwandten. Mein Vater sagte in unserer Wohnung oft: Mussolini hat auch gute Sachen erreicht. Er gab dem Land nach dem Vertrag von Versailles seinen Stolz zurück.
Dasselbe haben Deutsche über Hitler gesagt.
Ganz bestimmt. Ich sage nicht, dass er deshalb ein guter Mensch war. Nur, dass solche Meinungen in der Öffentlichkeit gar nicht existierten.
In welcher Sprache redete Ihr Vater über den Krieg?
Englisch, manchmal flüsterten meine Eltern im Schlafzimmer auf Italienisch. In der Stadt dachten viele, er wäre Franzose, weil ein Diplom aus Paris an seiner Wand hing.
Das half ihm durch die Kriegsjahre.
Ja, er assimilierte sich gut. Als ich mit 14 bei meinen Eltern aushalf, lernte ich, wie man mit Menschen umgeht: Man hört ihnen zu. Auf der einen Seite die Frauen, im mittleren Alter, zwischen 35 und 50, übergewichtig, reich. Ihr Geld stammte von ihren Ehemännern, die Cadillac-Händler oder Anwälte waren. Was Tausende von Meilen entfernt passierte, hallte in den Unterhaltungen der Kleinstadtmächtigen wider, die sich neue Kleider kauften.
Zehn Jahre später sahen Sie diese Schauplätze mit eigenen Augen.
Während meines Militärdienstes war ich in Europa stationiert. Davor war ich noch nicht einmal in Kalifornien gewesen, plötzlich wohnte ich drei Monate lang im Hotel Carlton in Frankfurt. Als US-Leutnant bekam ich am Wochenende immer einen Platz in Flugzeugen nach London, Paris oder Rom. So traf ich zum ersten Mal die Familie meines Vaters in Kalabrien und sah, wie ärmlich sie lebten. Sie fuhren noch mit Maultierkarren übers Land.
Teile von Deutschland lagen in den 50er Jahren noch in Trümmern.
Ich sah auch schicke VWs auf der Autobahn und wunderschöne Wagen von Mercedes, in denen Frankfurts Huren über die Hauptstraßen fuhren.
"Diese verbotenen Dinge waren Teil einer Kulturbewegung: der sexuellen Revolution"
In den 70er Jahren haben Sie Masseusen, Mitarbeiter von Erotikmagazinen, Mitglieder in Nudistenkolonien porträtiert, um daraus ein Sittengemälde der USA zu machen. Das Buch „Du sollst begehren“ war ein Bestseller. Was hat Sie an dem Thema gereizt?
Ich war ein katholischer Junge in einer protestantischen Kleinstadt, jeden Tag hörte ich, wie schlimm Sex sei. Lest keine schmutzigen Bücher, schaut keine schmutzigen Filme, schlaft mit den Händen über der Bettdecke! Als ich 30 war und in New York lebte, waren alle diese verbotenen Dinge Teil einer Kulturbewegung: der sexuellen Revolution. Verleger durften Bücher wie „Lady Chatterleys Liebhaber“ drucken, Komiker wie Lenny Bruce durften auf der Bühne Zoten reißen. Dann entdeckte ich 1971 die Welt der Massagesalons – gleich hier um die Ecke an der Lexington Avenue.
Diese Beobachtung war für Sie der Auslöser, fast neun Jahre lang zu recherchieren. Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem alles anfing?
Es war halb elf abends, ich kam mit meiner Frau aus einem Restaurant, und ich sah auf dem Heimweg ein Schild: Live Nude Models. Lass uns das mal ansehen, sagte ich. Meine Frau wollte nicht, ich klingelte trotzdem. Der Manager sagte: Kommen Sie morgen früh um zehn wieder. Was ich tat. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Nacktmodels, von denen ich ein Foto machen könnte? Nein, sagte der Manager, Sie suchen sich von fünf Frauen eine aus, und die wird Sie massieren. Ich bezahlte 18 Dollar, er führte mich in Behandlungsraum 3 und bat mich, die Kleider abzulegen. Kurz darauf kam eine Frau und fragte: Babypuder oder Öl?
Haben Sie in dem Moment gezögert?
Nein, ich fragte, ob es eine Dusche gab. Hatten sie nicht, ich entschied mich deshalb für Babypuder. Sie zog ihr T-Shirt aus, berührte mich, ich bekam eine Erektion, sie bearbeitete mich weiter, und mir fiel nichts anderes ein als: Und, was machen Sie sonst so?
Sie hatten kein schlechtes Gewissen?
Ich war gespalten – wie das Kind, das nicht wusste, ob es für oder gegen Italien war. Einerseits war ich verheiratet mit zwei Töchtern, andererseits fand ich die Geschichte dieser Frau interessant. Eine Soziologistudentin aus Alabama, die fünf Mal pro Woche vor den Vorlesungen im Salon arbeitete und ein Doppelleben führte. Wussten ihre Eltern, dass sie mir einen hand job gibt? Sie tat Sachen, die in meiner Generation verteufelt waren. Ich wollte diese Veränderung in Amerika verstehen.
Inzwischen sind diese Salons wieder verschwunden.
Weil Anfang der 80er Jahre Aids alles gekillt hat, was mit sexuellem Vergnügen zusammenhing. Kürzlich habe ich aber wieder einen Salon um die Ecke entdeckt. Ich klingelte, eine asiatisch aussehende Frau öffnete mir. Sie sprach kaum Englisch, bediente mich aber wie in den 70er Jahren.
Was sagt denn Ihre Frau dazu?
Ich habe ihr danach nicht erzählt: Schatz, ich war wieder in einem Massagesalon, ganz wie früher! Wenn ihr jemand sagen würde, dass er mich dort gesehen hätte, würde sie erwidern: Oh, ich bin in keinster Weise überrascht. Wir sind da locker.
Welche Geschichten würden Sie heute schreiben?
Zwei Mal pro Woche, um sechs Uhr morgens, fährt draußen der Müllwagen durch unsere Straße. Ich höre, wie der Abfall gepresst und gemahlen wird, ich schaue vom Fenster aus runter, wie die Männer die Tonnen zurückstellen, und ich frage mich, wer diese Kerle sind. Welcher Reporter verbringt mal drei Tage mit den Müllmännern und beobachtet sie? Der Journalismus weiß nicht, was er mit der Arbeiterklasse anfangen soll.
Ihr Zitat: „Journalisten heutzutage sorgen sich darum, wer in der Air Force One mitfliegen darf.“
Unglaublich, nicht? Dass sie sich darum kümmern, wie ihr Zugang zum Präsidenten ist. Das weiß doch jeder, dass sie aus dieser Quelle nichts als Hühnerfutter bekommen. Die Reporter schreiben, um Washington zu gefallen. Sie haben Angst davor, als unpatriotisch zu gelten – und zwar seit dem 11. September 2001. Es war ein Tag der Schande, als sich Journalisten der „Times“ Schutzanzüge überzogen, in einen Panzer der Armee setzten, um von dort aus über den Irak-Krieg zu berichten, als seien sie die Pressestelle des Pentagon.
Sie halten nichts von Politik?
Ich habe nie gewählt, bis ich 75 Jahre war. Erst als Obama kandidierte, weil ich fand, das war eine fantastische Sache, einen Schwarzen zum Präsidenten zu haben.
Warum nie zuvor?
Ich hatte nie das Gefühl, dass eine Wahl eine Veränderung mit sich brachte. Wall Street ist nach 50 Jahren Wall Street, die ganzen Betrüger werden nie verurteilt, ich dachte das mit 30 Jahren und denke das mit 82 Jahren.
Glauben Sie an die Demokratie?
Ja, aber ich denke nicht, dass wir eine in den USA haben. Die Macht ist, wo das Geld ist: bei Lobby- Gruppen, Geschäftsmännern und Werbern. Der Mann, der entscheidet, in welchem Medium seine Firma Anzeigen schaltet, hat die Macht.
Wenn Sie so misstrauisch sind, lesen Sie überhaupt noch Zeitungen?
Natürlich, jeden Tag reserviere ich zwei Stunden für die „Times“ – und glaube nur die Hälfte dessen, was darin steht.
Was finden Sie an der anderen Hälfte interessant?
Die Meinungsseite ist erfrischend. Gestern habe ich den Artikel eines Arztes gelesen, der schrieb, dass jährliche Kontrolluntersuchungen nicht nötig seien. Die tragischen Ereignisse in Paris habe ich intensiv verfolgt. Die „Times“ erinnert mich daran, dass New York nur ein kleiner Teil der Welt ist.
Ulf Lippitz
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