Trend: Möbel mit gespreizten Beinen: Schräge Typen
Erst waren es Stühle aus den 50er Jahren, dann auch Tische und Lampen von heute: Plötzlich sind Möbel mit dünnen gespreizten Beinen wieder gefragt.
Jean Prouvé hat in seinem langen Leben eine ganze Menge auf die Beine gestellt. Er war Widerstandskämpfer, Fabrikbesitzer und Bürgermeister seiner Heimatstadt
Nancy, avancierte vom Kunstschmied zum gefeierten Architekten, baute Fertighäuser für Flüchtlinge und Obdachlose und richtete Universitäten ein. Was dieser geniale Designer ikonischer Möbel hingegen gar nicht konnte, war etwas, was den meisten Leuten einigermaßen leicht fällt: still sitzen.
Immer wenn er auf einem Stuhl Platz nahm, begann Prouvé wie ein Grundschulkind auf den Hinterbeinen zu wippen. Er hatte darin eine erstaunliche Meisterschaft entwickelt. Fast bewegungslos konnte er auf den Hinterbeinen balancieren, während er über seine Entwürfe nachdachte, die heute begehrte Sammlerstücke sind. Prouvé, gewissermaßen ein praktizierender Skeptiker des Senkrechten, war ein maßgeblicher Stilist der Schräge. Und damit ist er heute der Mann der Stunde.
Denn egal, wo man gerade hinschaut, überall entdeckt man eine starke Neigung zur Neigung. Blättert man in Magazinen wie „Couch“, „H.O.M.E.“ und „Schöner Wohnen“, sieht man Sideboards, Beistelltische, Stühle und Sessel – alle mit schrägen Beinen. Klickt man sich durch die Bildergalerien von „Freunde von Freunden“, dem Blog, in dem die kreative Elite ihre oft erstaunlich ähnlichen Wohnungseinrichtungen vorführt, entdeckt man reihenweise Vintage-Möbel wie den unvermeidlichen Eames Chair. Markantes Kennzeichen: die organisch geformte Sitzschale und die gespreizten Beine, die von einem Metallgestell zusammengehalten werden.
Bei Auktionen erzielen Lounge Chairs und Couchen, auf denen schon Don Draper in der Serie Mad Men mit Cognac und Zigarette gesessen (respektive gelegen) haben könnte, Höchstpreise. Der Oeuf-Chair mit Hocker, beide mit knubbelig-kurzen schrägen Füßen, von Jean Royère ging 2013 in London für sagenhafte 200 500 Pfund weg. Teurer war nur ein Tisch mit spitz zulaufenden Beinen von Jean Prouvé (206 500 Pfund).
Natürlich gibt es neben unzähligen Neuauflagen von Klassikern auch zeitgenössische Entwürfe zum Thema. Beim britischen Stardesigner Tom Dixon etwa scheint die schlanke Tischplatte durch die eleganten, angeschrägten Beine fast zu fliegen. Längst hat der Durchmarsch der schrägen Beine das günstigere Marktsegment erreicht: Auch die großen Möbelhäuser am Stadtrand und Autobahnkreuz setzen fest auf den Look in ihren inszenierten Wohnwelten.
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Doch warum stehen alle auf schräge Beine? „Das war ein wichtiges Thema im Mid Century Design“, erklärt Eckart Maise. Und das dominiert immer noch die Möbelwelt. „Mitte der 90er Jahre wurde das von Sammlern entdeckt, um die Jahrtausendwende kam dann ein großes Revival, das bis heute anhält.“ Maise ist Designchef bei Vitra, dem Hersteller, der neben Eames und Prouvé zahlreiche Klassiker der Nachkriegsmoderne im Programm hat. Die schrägen Beine, vermutet er, fingen damals bei den Stühlen an. „Bei den Fiberglasstühlen mit ihren organischen Formen von Eames ist die Konstruktion stabiler, wenn die Beine oben spitz nach innen zulaufen.“ Das wurde dann auch bei den Tischen zum Stilmittel. Da musste man erst mal experimentieren. Und das taten viele.
War das Möbeldesign der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher rechtwinklig, technisch, geometrisch, man denke an das Bauhaus oder die Wiener Schule, gerieten Mitte des Jahrhunderts die Formen ins Fließen. Neue Werkstoffe wurden ausprobiert, mit Kunststoffen und Sperrholz gearbeitet und damit neue Möglichkeiten der Gestaltung gefunden. Die Entwürfe wurden organischer, runder, leichter. Natürlich waren nicht alle Tisch- und Stuhlbeine gespreizt, aber das passte eben zu den luftigen Entwürfen, dass man die Senkrechte auch mal verließ. „Aus dieser Zeit gibt es viele Klassiker, die die Menschen heute noch bewegen“, sagt Eckart Maise. „Sie stehen für eine Leichtigkeit und einen Aufbruch.“
Es gibt aber noch eine Traditionslinie, die wesentlich älter ist als die schiefen Beine des Mid Century Design. Und die führt in den Alpenraum, wie Sebastian Hackenschmidt erklären kann, der als Sammlungsleiter für Möbel und Holz am MAK arbeitet, dem Museum für Angewandte Kunst in Wien. „Schräge Beine waren auch bei einfachen Möbeln im Alpenraum eine gängige Möglichkeit“, sagt Hackenschmidt. „Wenn man damit rechnen konnte, dass die Faserstruktur des Holzes fest genug ist, dann ist so eine Konstruktion stabiler. Gerade wenn ein Bein locker ist.“
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In der frühen Neuzeit waren Tische Multifunktionsmöbel. Besonders die Kastentische, die unter der Platte noch Stauraum hatten, etwa für Geschirr oder Lebensmittel. „Da waren die Beine noch mal untereinander verbunden, wegen Stabilität, aber auch, damit man seine Füße draufstellen konnte. Der Boden war ja nicht geheizt.“
Während die Einrichtung in der Stadt viel stärker Moden unterworfen war, wurde ein Möbelstück auf dem Land oft über Generationen weitergegeben. Über die Jahrhunderte entstand so ein Urbild des ländlichen Lebens, das man mit schrägen Tisch-, Bank- und Stuhlbeinen assoziiert. Was heute wieder oft zitiert wird, von österreichischen Designern wie Hussl oder Stuben 21, die Zirbenholz verwenden, den klassischen Baustoff der Alpenmöbel. Die rustikale Breitbeinigkeit ist hier eine Rückversicherung. „Das ist ein Stück Einfachheit in der hochkomplexen Welt, eine Art Primitivismus“, sagt Hackenschmidt. „Da hat man seinen allerneuesten Apple, den man natürlich in all seinen Einzelheiten nicht begreift, aber der steht auf einem Tisch, der die einfachste tradierte Form aktualisiert.“
Es gibt aber auch eine ganz praktische Erklärung für die schrägen Beine: die hohe Stabilität bei wenig Materialeinsatz. Die Berliner Designer „llot llov“, deren Repertoire vom gestrickten Lampenschirm bis zur kompletten Diskoeinrichtung reicht, experimentieren bei einigen ihrer Entwürfe mit schrägen Beinen. Etwa bei James, einem Side Table, der aus drei gleichlangen Hölzern besteht, die mit zwei Schrauben verbunden sind – fertig ist der grazile Beistelltisch, oder wahlweise der Schüssel- oder Vasenhalter. „Das ist die einfachste Konstruktion, wenn man mit drei Beinen arbeitet. Das funktioniert wie ein Stativ: Die Mittelachse sorgt für Stabilität, gleichzeitig ist sie sehr leicht“, sagt Jacob Brinck von Ilot Ilov. Das ist auch der Grund, warum so viele Hocker mit drei Beinen besser stehen als mit vier Beinen. Bei Esstisch Eugen sind die Beine nur in eine Richtung gespreizt. Sie geben der kurzen Seite Stabilität, während auf der langen Seite ein Kreuz die Beine verbindet und für einen festen Stand sorgt. Auch das hat einen praktischen Sinn. „Sonst“, so Brinck, „müssten vier Leute aufpassen, dass sie sich nicht die Füße anhauen.“
Felix Denk
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