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Berenice Böhlo
© Mike Wolff

Flüchtlingsanwältin Berenice Böhlo: „Schleuser sind für viele die einzige Rettung“

Als West-Berliner Kind hat sie Mauern und Grenzen nie leiden können. Im Interview mit dem Tagesspiegel Sonntag sprach die Flüchtlingsanwältin bereits 2014 über Schleuser, Asylanträge und Konflikte mit der Polizei. [Archiv]

Frau Böhlo, manche Ihrer Mandanten sind monatelang, sogar Jahre auf der Flucht gewesen

. Welches Schicksal hat Sie am meisten bewegt?

Da fallen mir die Syrer ein, die aus Libyen übers Mittelmeer kamen. Ihr Haus war komplett zerstört, sie wussten nicht wohin. Die italienische Marine hat Rettungswesten auf ihr kleines Boot geworfen, die Flüchtlinge stürzten sich in Panik darauf, das Boot sank. Der Bruder meines Mandanten, seine Schwägerin und die zweijährige Nichte ertranken. Das ist krass: Bei der Überfahrt nach Europa, die EU bekam ja 2012 den Friedensnobelpreis, hat der Mann mehr Angehörige verloren als im Krieg in Syrien.

Um das zu verhindern, will Innenminister Thomas de Maizière gegen Schleuser vorgehen.

Da möchte ich wissen, wie die Leute kommen sollen? Wenn es für Flüchtlinge die Alternative gäbe, in die deutsche Botschaft in Istanbul zu gehen, ein Asylvisum zu beantragen, das Flugticket zu bezahlen, und dann würden Schleuser sie abfangen, könnte ich dem Minister aus tiefster Seele beipflichten. Die Schleuser sind vielen die einzige Rettung …

… und machen mit dem Elend anderer viel Geld.

Interessant ist doch: Im Fall der DDR-BRD- Grenze wurden solche Menschen Fluchthelfer genannt, mit Hochachtung wurde über die geredet, und der Bundesgerichtshof entschied, es sei legitim, für diese Dienste hohe Summen zu verlangen.

Wenn Sie selbst hierher fliehen würden, wohin?

Sicherlich in eine Großstadt und auf jeden Fall in ein Bundesland, wo ich, wie in Berlin, vielleicht eine eigene Wohnung anmieten kann. Das ist für die Stadt und für das Land übrigens billiger, als Geld an Heimbetreiber zu zahlen. Politisch gewollt ist es trotzdem nicht. Immerhin: In Bremen haben sie gerade eine Stelle geschaffen, die zusammen mit den Flüchtlingen Wohnungsangebote raussucht, die Vermieter anschreibt. Das ist ja ganz anders, als wenn eine tschetschenische Familie es allein bei einem Hausbesitzer versucht.

Sie gelten als eine der engagiertesten Asylanwältinnen Deutschlands. Wie erklären Sie Ihrer fünfjährigen Tochter, was Sie den ganzen Tag tun?

Ich versuche, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Menschen von überall, so wie die Mama von Jan, die aus Polen ist, die Mama von Harry aus deiner Kita, die aus Kamerun stammt, so wie dein Opa, der aus der DDR geflüchtet ist. Weil nicht alle Menschen, die hier mit uns leben, das Gleiche machen dürfen wie du und ich.

In Berlin stranden monatlich mehr als 1000 Flüchtlinge, viele davon landen in Ihrer Kanzlei in Prenzlauer Berg. Geht Ihnen das nie zu nah?

Ich habe einen Arbeitsauftrag, das ist sehr klärend: Ich muss das Ganze hier aufenthaltsrechtlich lösen. Darauf ziehe ich mich zurück. Doch manchmal gehen mir Geschichten nicht mehr aus dem Kopf, wie die von zwei Roma-Kindern, die super Deutsch sprechen und nur zur Schule gehen wollen. Die schauen mich total ernst an, als wüssten sie: Sie wird uns nicht helfen können.

Die beiden haben recht. Nur knapp 30 Prozent der Asylanträge werden bewilligt.

Die Zahl ist falsch. Diese 30 sind die Entscheidung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Da muss man die dazurechnen, die in gerichtlichen Verfahren positiv entschieden werden, und auch die Familienangehörigen. Dann sind wir bei einer Schutzquote von ungefähr 70 Prozent. Gut so. Es gibt Studien, wonach die positive Energie von Migranten fundamental wichtig ist für alle Gesellschaften. Ein Forscher nennt sie sogar Avantgarde.

Berlin hat bislang knapp 12 000 Flüchtlinge aufgenommen und gerät an seine Grenzen. Schon Studenten finden schwer eine Wohnung. Nun sollen Container gebaut werden.

Ich sehe nicht, dass das Land Berlin sich seiner Aufgabe ernsthaft stellt. Man könnte sehr viele Syrer bei ihren Familienangehörigen wohnen lassen.

Wenn es auch noch billiger kommt: Warum wird das nicht längst gemacht?

Abwehr. Der politische Wille dahinter ist, keine Anreize, sogenannte Pullfaktoren, zu schaffen. Dabei sagt meine Erfahrung: Es kommt niemand, weil es hier Hartz-IV-Leistungen gibt. Im Gegenteil. Alle, die kommen, wollen arbeiten.

Sie besuchen Flüchtlingsheime. Was erleben Sie da?

Ich kenne insbesondere die Einrichtungen zur Erstaufnahme. Eisenhüttenstadt, das Heim in der Streitstraße oder in Mecklenburg-Vorpommern, Nußdorf-Horst. Diese Lager liegen oft am Rande der Stadt, sind schwer zu erreichen und optisch qua Zaun abgetrennt. Man muss sich ausweisen, um Zugang zu bekommen. Ich habe immer den Eindruck, dort in eine Nebenwelt einzutreten.

"Mandanten berichten von Schimmel in der Unterkunft"

Berenice Böhlo
Berenice Böhlo
© Mike Wolff

Die Zustände innen sind in Ordnung?

Das hängt von der Heimleitung ab. Mandanten berichten mir von Schimmel, von wenigen Duschen, dass die Trennung von Mann und Frau nicht gewährleistet ist. In einem Heim sah ich zwei verrostete Klettergerüste für fast 200 Kinder. Und die gehen nicht zur Schule, hängen den ganzen Tag rum.

Während der Jugoslawien-Kriege kamen etwa 350 000 Flüchtlinge zu uns. Davon sind bis auf 20 000 alle wieder zurückgegangen. Wie groß ist der Prozentsatz Ihrer Mandanten, die heimwollen?

100 Prozent. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der gesagt hätte, ich möchte unter allen Umständen hier leben. Wenn sich die Verhältnisse ändern, die Heimat lebbar wird, würden sie zurückkehren. Ich vertrete eine Roma-Familie, Mann, Frau und zwei Söhne, und der Vater meinte, wenn man ihnen in Serbien ein Zimmer gäbe, halb so groß wie hier, das warm ist, wo sie essen und schlafen könnten, dann gingen sie.

Serbien wurde erst kürzlich zum sicheren Herkunftsland erklärt.

Wenn man die Lageberichte vom Auswärtigen Amt zur Situation der Roma liest, ist das besorgniserregend. Die Gesellschaft dort ist komplett ethnisch organisiert, die Kroaten haben in einem Dorf die Verwaltung, dafür regeln die Serben das Transportwesen. Die Roma stellen nirgends einen Bürgermeister, sie sind im Krieg zwischen die Fronten geraten. Sie führen eine Nischenexistenz, sammeln Schrott. Eine Familie hat mir ausgerechnet, dass sie zu viert plus Großmutter ungefähr 1000 Euro im Monat für Heizöl, Miete und Essen brauchen. Im Winter, wenn Schnee liegt, verdienen sie nur 500. Dann kaufen sie Bustickets und kommen hierher.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt, um denen zu helfen, die existenziell in Not sind, müsse man aussortieren. Kriegsflüchtlinge statt Wirtschaftsflüchtlinge. Das klang ehrlich.

Dieser Begriff Wirtschaftsflüchtling ist problematisch, weil da immer mitschwingt „nur“ Wirtschaftsflüchtling, im Gegensatz zu denen, die aus politischen Gründen fliehen.

Sogar die „taz“-Kolumnistin Bettina Gaus, die lange in Afrika lebte, sagt: „Alle, die aus Armutsgründen kommen, aufzunehmen, halte ich für eine nicht erfüllbare Forderung.“

Man muss einen Schritt vorher ansetzen: Wir leben in einer Welt von tiefgreifender Ungleichheit, was für Konsequenzen ziehen wir daraus? Was machen wir mit jemandem, der möchte, dass es seinen Kindern besser geht? Sagen wir als Gesellschaft, wenn du in Mali geboren bist oder im Tschad, dein Land immer wieder in Kriegsgeschehnisse hineingezogen wird und du in existenzieller Armut lebst, hast du Pech gehabt? Diese Leute berufen sich auf wirtschaftliche, kulturelle und soziale Menschenrechte, die sind in der UN-Charta verankert! Ich bin mir sicher, wenn der Weg nach Europa nicht so gestaltet wäre, dass man sein Leben aufs Spiel setzt, würde sich das direkt auf die Migrationsbewegung auswirken. Dann könnte jemand herkommen, mit eigenen Augen sehen, wie die Möglichkeiten sind, und es sich überlegen.

Eine Welt ohne Grenzen? Sie träumen.

Das sind einfach Grundprinzipien, Grundrechte, die stehen aus meiner Sicht nicht zur Disposition.

Bei Ihnen muss niemand draußen bleiben?

Ein Armutsflüchtling wäre für mich jemand aus Griechenland oder Spanien, der dort kein Geld für Urlaub hat und auf größere Anschaffungen verzichten muss. Anders als die Roma in Serbien wird dort niemand mit staatlicher Duldung ausgegrenzt.

In Deutschland wurde jüngst die Residenzpflicht aufgeweicht, das muss Sie freuen.

Die Residenzpflicht ist europaweit ein absoluter Sonderfall gewesen. Dass es das überhaupt in Deutschland gab, dass jemand eine 30-Kilometer-Zone nicht verlassen darf, ist doch unglaublich. Ich kann die Lockerung nicht als große Errungenschaft sehen, das war längst überfällig.

Flüchtlinge dürfen nun arbeiten, nach drei statt nach neun Monaten.

Das ist leider keine grundsätzliche Arbeitserlaubnis. Erst nach 15 Monaten entfällt die sogenannte Vorrangprüfung. Die ist das eigentliche Problem, damit kann man keine Arbeit finden. Das muss man sich so vorstellen: Ein geflüchteter Tischler findet Arbeit hier in Berlin, und der Betrieb sagt, wir würden ihn gerne einstellen, dann sagt die Arbeitsagentur, super, wir haben 300 arbeitslose Tischler, Deutsche oder bessergestellte Ausländer – abgelehnt.

Viele Unternehmen würden gern Flüchtlinge einstellen. Laut BfA hat jeder fünfte Asylsuchende einen universitären Abschluss, ein Drittel sind quasi Facharbeiter. Arbeitgeberverbände sind doch gute Lobbyisten in der Politik. Warum funktioniert das nicht?

Innerhalb der Entscheidungsträger herrschen unterschiedliche Logiken, die sich ausbremsen. Das Bundesinnenministerium, so meine These, beharrt immer noch auf Migrationsabwehr. Ich weiß jedoch von einer Art Feldforschung, bei der Hochqualifizierte noch im laufenden Asylverfahren arbeitsrechtliche Aufenthaltstitel bekommen können. Um diese Elitegruppe abzuschöpfen. Aber die Grundeinsicht, dass es Migration immer gegeben hat, immer geben wird, das ist menschheitsgeschichtlich so, hat der Gesetzgeber noch nicht zur Kenntnis genommen.

"Und schon wird Betrug unterstellt"

Berenice Böhlo
Berenice Böhlo
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In diesem Jahr kamen mehr als 200 000 Flüchtlinge nach Deutschland. Sicher nicht, weil sie hier so schlecht behandelt werden.

In der EU gehen die Schutzquoten extrem auseinander. Je nachdem, in welchem europäischen Land man landet, hat man Chancen von 20 oder 99 Prozent. Da ist es aus Sicht des Flüchtlings extrem sinnvoll, dahin zu gehen, wo er eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, Schutz zu bekommen.

In Potsdam heißt die Ausländerbehörde jetzt „Willkommensbehörde“. Ein Fortschritt oder Orwell’’scher Hokuspokus?

Das ist sicher ein ernst gemeintes Anliegen – und höchste Zeit. Warten wir, ob’s was bringt. ]

/ ]Woran hapert es am meisten?

An Kenntnis von Fremdsprachen. Auch an interkultureller Kompetenz. In vielen Kulturen ist es unüblich, sein Geburtsdatum zu kennen oder das der Eheschließung. Dann kommt in der Behörde sofort ein Verdacht, oh, wieso weiß die Person das nicht gleich? Und schon wird Betrug unterstellt.

Wer flüchtet, ist in der Regel bettelarm, wenn er hier ankommt. Wie bezahlt man Sie?

Meist haben die Leute Angehörige oder wir vereinbaren kleine Raten, 25 Euro. Es gibt auch Rechtshilfefonds.

Ihre Mandanten kommen einmal im Monat vorbei und bringen Scheine und Münzen?

Ja, das gibt es.

Eine aktuelle Studie der Bosch-Stiftung stellt fest, dass zwei Drittel der Deutschen sich vorstellen können, Flüchtlingen zu helfen. Nur wie?

Es gibt gute Webseiten. Eine ist „Moabit hilft“. Da geht es konkret um ein Wohnheim, ein Button zeigt, was gebraucht wird. Diese Sachspenden kommen direkt bei den Bedürftigen an. Es gibt Initiativen, die Deutschunterricht in Wohnheimen anbieten oder die Leute auf ihrem Gang zur Ausländerbehörde begleiten. Oder Xenion, eine Art Mentorenprogramm, da kann, wer etwas Zeit hat, eine Patenschaft für einen Flüchtling übernehmen. Einer meiner Mandanten hat so das Fahrradfahren gelernt.

Frau Böhlo, Ihr Vater ist mit 18 aus der DDR geflüchtet. Prägt das?

Kurz vor dem Mauerbau ist er ganz allein nach West-Berlin abgehauen. Ich war als Charlottenburger Kind viel bei Verwandten im Osten und habe ständig diese schrecklichen Grenzkontrollen erlebt.

Was war so schlimm für Sie?

Der Tonfall. Diese Machtposen. Und das Gefühl der eigenen Ohnmacht. Ich bin nach dem 9. November, noch bevor die Mauer offiziell offen war, am Brandenburger Tor nachts drübergeklettert. Es war, als ob man den Ozean in einer Minute überquert.

Sie hätten erwischt werden können.

Es hat mich gereizt, diese Grenze zu überwinden. Der Mauerfall hat doch gezeigt, Grenzen sind nicht gottgegeben und unveränderbar, sondern staatlich geschaffen. Ich dachte da schon, das reicht noch nicht, es gibt noch mehr Mauern, die fallen müssen.

(Böhlos Handy klingelt: „Oh, das ist die Polizei, da muss ich kurz dran, es gibt wieder mal Stress.“ Sie geht raus und telefoniert ein paar Minuten.)

Sie wirken sehr beherrscht, Sie reden ganz ruhig – platzt Ihnen denn nie der Kragen?

Ooooh doch. Ich habe den Einsatzleiter bei einer Polizeiaktion gegen Flüchtlinge angebrüllt. Und er war nicht der Einzige.

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