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Das Soziologenehepaar Saskia Sassen und Richard Sennett
© Mike Wolff

Star-Soziologen im Doppelinterview: Richard Sennett zu Saskia Sassen: „Du bist Optimistin!“

Als Paar sind die Soziologen Saskia Sassen und Richard Sennett, als hätte Woody Allen sie erfunden. Ein Gespräch über die terrorisierende Mutter von Sennett, Kooperation und Kapitalismus.

Mrs. Sassen, Mr. Sennett, wir hatten nach Monaten des Wartens die Hoffnung schon aufgegeben, Sie je gemeinsam interviewen zu können. Konferenzen in aller Welt, Buchprojekte, Lehrtätigkeit: Sie sind verheiratet – aber offenbar selten in derselben Stadt.

Saskia Sassen: Wir verbringen viel Zeit zusammen, aber es können Wochen vergehen, in denen wir uns nicht sehen.

Richard Sennett: Wirkt das sehr komisch auf Sie? Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Allerdings haben wir gerade etwas getan, was, glaube ich, ziemlich vernünftig ist: Wir haben ein Haus auf dem Land gekauft, 45 Minuten entfernt von London, in der Nähe von Cambridge. An den Wochenenden haben wir dort ein gemeinsames Leben, sehen Freunde und die Familie. Unsere Kinder wohnen in London.

Sie beschäftigen sich beide mit Städten und dem urbanen Zusammenleben, viele Jahre haben Sie zusammen in New York verbracht. Warum plötzlich die Entscheidung fürs Landleben?

Sassen: Wir haben ja noch eine Wohnung in New York. Leider nicht mehr die alte, das frühere Studio des Malers Edward Hopper. Das war so ein fantastischer Ort, viel Glas, das Licht war sehr speziell dort. Leider ist es fast zusammengefallen, irgendwann durfte dort niemand mehr wohnen. Heute befinden sich in dem Gebäude Büros des Zentrums für Afrikastudien.

Sennett: Jetzt ist das Dach repariert, es gibt keine undichten Stellen mehr. All die vertrauten Dinge sind verschwunden. Ich verbinde mit diesem Haus so viele Erinnerungen, wenn ich es heute sehe, überkommt mich das Gefühl eines tragischen Verlusts.

In Ihren Werken sprechen Sie oft davon, dass Menschen sich nicht an das Gewohnte klammern sollten.

Sennett: Nun ja, lesen Sie mich, hören Sie mir nicht zu! Ich bin ein Mensch voller Widersprüche.

Sassen: Ganz anders als die meisten von uns, was?

Sie bedauern, dass New York zu schick geworden ist?

Sennett: Es ist mittlerweile sehr kommerziell. Ich bin mit 16 Jahren in die Stadt gekommen, das war 1959, damals war ich noch Musiker. Innerhalb eines Tages fand ich eine Unterkunft im Zentrum, die ich mir leisten konnte.

Sassen: Heute wäre das unmöglich. Als Künstler müssen Sie an den Rand ziehen. Das geht so weit, dass sich die angesagten Plätze in der Peripherie finden, in Brooklyn oder Queens.

Sennett: Ich zog damals ins West Village, in einen Raum über „Dirty Dick’s Fuckhole Bar“. Tagsüber kehrten da die Griechen ein, die die Schiffe entluden, bei Nacht war es eine Transvestitenbar, die der Mafia gehörte. Ich teilte mir das Bett mit einem anderen Jungen und einem Mädchen, wir schliefen nacheinander in Schichten. Das war New York. Ich war jung, eine himmlische Zeit.

Mrs. Sassen, wann kamen Sie in die Stadt?

Sassen: Mitte, Ende der 70er Jahre. Damals begann gerade eine Wirtschaftskrise, deshalb standen bald viele Räume leer, wo man so viel Lärm machen konnte, wie man wollte. Ich fing an, zum Thema Immigranten zu forschen und kam in Kontakt mit der dominikanischen Gemeinde. Ich bin in Argentinien aufgewachsen, deshalb spreche ich Spanisch. Und so lernte ich viele Leute kennen, die nachts die Büros der Wall Street putzten. Die sagten zu mir: Komm und iss Lunch mit uns! Lunch gab es bei denen um Mitternacht.

Was haben Sie in den Wall-Street-Büros erfahren?

Sassen: In der Zeitung konnte man lesen – wir reden jetzt über die späten 80er Jahre –, dass die großen, etablierten Firmen alle aus ihren riesigen Gebäuden auszogen, zehntausende Jobs waren verloren gegangen. Ich habe die Putzkräfte gefragt: Für wen arbeitet ihr dann? Und sie sagten: Wir zeigen’s dir! Dann sind wir in die Büros, auch in die der Vorstände. Nicht, dass wir die Schubfächer geöffnet hätten! Doch ich konnte erkennen, dass da jetzt kleine japanische und deutsche Firmen eingezogen waren, die schließlich größer werden sollten. Diese scheinbar unsichtbare Entwicklung entfaltete sich dort vor meinen Augen.

Sassen: Die Armut hat man in New York ausgesperrt

Das Soziologenehepaar Saskia Sassen und Richard Sennett
Das Soziologenehepaar Saskia Sassen und Richard Sennett
© Mike Wolff

Sie haben erwähnt, dass ärmere Leute in New York an den Stadtrand verdrängt werden. Ähnliches lässt sich inzwischen auch in Berlin beobachten.

Sassen: Es gibt interessante Daten darüber, wie viele Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen geworfen werden, weil sie nicht mehr dafür zahlen können. In einem Vergleich fast aller EU-Länder kommt Ungarn auf den ersten Platz, dort ist es am schlimmsten, aber auch Deutschland gehört zur Spitzengruppe. Jedes Jahr gibt es hier 100 000 solcher Fälle.

Sennett: Besonders in den USA nimmt die soziale Ungleichheit zu. Und die unteren Schichten werden zunehmend unsichtbar.

Sassen: Städte sind Räume, wo Sie das sehr gut erkennen können, oder eben gerade nicht. New York ist in den 90er Jahren schön und sauber geworden. Die Armut hat man ausgesperrt. Etwas, das Sie zum Beispiel nicht auf den ersten Blick sehen: Sie gehen durch ein Viertel der unteren Mittelschicht, und die Fassaden sind die gleichen wie vor 20 Jahren, doch dahinter leben jetzt vielleicht mehrere Generationen zusammen – oder der Eigentümer ist verarmt.

Wir möchten gern noch mal über Sie beide sprechen. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Sennett: Das war in den 80ern, ich war damals Direktor des „New York Institute for the Humanities“ der New York University, an dem zum Beispiel Susan Sontag arbeitete. Wir waren alle eher Schriftsteller und Dichter, und so holten wir Saskia als unsere Vorzeige-Ökonomin.

Sassen: Es war eine interessante Zeit, durch den wirtschaftlichen Niedergang eröffneten sich auch an den Unis Freiräume.

Sennett: Ich erlebe immer wieder, dass Europäer die amerikanischen Universitäten verherrlichen. Tatsächlich waren die Unis in den USA damals rigide, langweilige Orte. Ein Beispiel: Ich versuchte meinen guten Freund Joseph Brodsky ...

... den russisch-amerikanischen Schriftsteller ...

... an die NYU zu bringen. Er hatte nicht promoviert. Und so sagte die Uni mir: Wir haben Kurse über Brodsky, aber lehren darf er hier leider nicht, das verlangen die akademischen Regeln und so weiter. Wir verschafften ihm trotzdem einen Job. Nach seinem Nobelpreis konnte ihn sich die NYU sogar als Professor vorstellen.

Mr. Sennett, Sie befassen sich mit Themen wie Vereinzelung und dem Wert handwerklicher Arbeit, Mrs. Sassen, Sie eher mit Wanderungsbewegungen von Kapital. Diskutieren Sie privat über Soziologie?

Sennett: Die Leute stellen sich das so vor, aber die Wahrheit ist, wir tun das überhaupt nicht. Ich glaube sowieso, die Vorstellung, dass man mit jemandem einen interessanten Dialog zu einem Thema führen kann, ist falsch. Man entwickelt viel anregendere Gedanken, wenn man sich mit Leuten unterhält, die aus einer ganz anderen Ecke kommen. Quasi nebenbei. Ich habe viel über Sozialphilosophie gelernt durch Gespräche mit einem Ökonomen – ein Mann, der den Namen Hannah Arendt noch nie gehört hat.

Der Historiker Fritz Stern und seine Frau Elizabeth Sifton haben vor kurzem zusammen ein Buch geschrieben, über den Theologen Dietrich Bonhoeffer und dessen Schwager Hans von Dohnanyi, Widerstandskämpfer gegen Hitler. Laut der „Zeit“ gibt es darin keinen Satz, „dem nicht beide zustimmen und der nicht wie ein gemeinsamer klingt“.

Sennett: Das ist ja grauenhaft. Gosh!

Sie lachen. Dabei trägt Ihr neuestes Werk den Titel „Zusammenarbeit“.

Sennett: Die Idee, dass Zusammenarbeit bedeutet, man komme mehr und mehr auf die gleiche Wellenlänge, man verstehe sich immer besser, die ist infantil. Ich sehe das total anders. Der ganze Trick sozialer Interaktion besteht darin, eine Beziehung zu unterhalten und gleichzeitig die Distanz oder besser gesagt seine eigene Integrität zu bewahren. Andere unbedingt verstehen zu wollen bedeutet, eine soziale Verbindung zu zerstören. Die lateinischen Völker, Italiener oder Franzosen, verstehen das viel besser als die protestantischen Kulturen des Nordens.

Sassen: Als jemand, der in Lateinamerika aufgewachsen ist, kann ich das bestätigen. Man muss nicht alles teilen und in allem übereinstimmen.

Sennett: Meine Fähigkeit zur Selbstreflexion ist wenig ausgeprägt

Das Soziologenehepaar Saskia Sassen und Richard Sennett
Das Soziologenehepaar Saskia Sassen und Richard Sennett
© Mike Wolff

An dieses Prinzip halten Sie sich auch in Ihrer Ehe?

Sennett: Fragen Sie mich gern etwas über den Komponisten Alban Berg oder übers Cellospielen, da bin ich ganz bei Ihnen. Aber meine Fähigkeit zur Selbstreflexion ist wenig ausgeprägt und Saskias sogar noch weniger. Saskia, es gibt ein Thema, über das ich mich nie gut mit dir unterhalten habe, und zwar über Musik. Ich hatte überhaupt noch keine gute Konversation über Musik mit Nicht-Musikern. Das ist eine Welt für sich, keine Ahnung, warum.

Sassen: Ich interessiere mich für avantgardistische bildende Kunst, damit kann Richard weniger anfangen.

Sennett: Aber lassen Sie mich ein Beispiel nennen für das, worüber ich gerade sprach. Ich bin in Chicago groß geworden, in Cabrini Green ...

... einem Armenviertel. Ihre Mutter, bei der Sie aufwuchsen, war Kommunistin ...

Sassen: Sie war der Terror! Eine orthodoxe Kommunistin.

Sennett: Stalinistin.

Sassen: Und zwar noch zu einer Zeit, als das keiner mehr war.

Sennett: Also, in meiner Kindheit lebten in Cabrini Green nur Schwarze und Weiße. Später kamen viele Latinos hinzu. Zwischen ihnen und den Afro-Amerikanern entstanden Spannungen, Anfang der 80er Jahre lieferten sich beide Gruppen heftige Straßenkämpfe. Es war so schlimm, dass die Polizei nicht ins Viertel ging und auch keine Krankenwagen mehr dorthin fuhren. Ich kehrte damals zurück, um zu vermitteln. Und der Moment, an dem wir tatsächlich einen gewissen Fortschritt machten, war, als die schwarze Gruppe zu den Latinos sagte: Wir verstehen euch einfach nicht! Da gab es plötzlich eine Verbindung – sie mussten nicht in allem übereinstimmen. So entstand die Idee für das Buch über Zusammenarbeit.

Wie ist die Sache ausgegangen?

Sennett: Leider nicht mit einem Happy End. Für eine Weile ging die Gewalt zurück. Am Ende wurde das Viertel abgerissen. Man versprach den Bewohnern neue Häuser. Tatsächlich kamen sie in Übergangsbehausungen, und dann, da das Problem damit gelöst war, vergaß man sie. Wir sprechen hier über 38 000 Menschen. Diese Leute aus der amerikanischen Mittelschicht, die immer sagen „Wir sind alle Amerikaner“, die kämen nicht im Traum darauf, armen Schwarzen und Latinos zu helfen.

Sassen: Und raten Sie mal, was dann passierte! Auf dem Grund der abgerissenen Häuser entstanden Wohnungen für die Mittelschicht und die obere Mittelschicht. Heute ist die Gegend von Cabrini Green sehr schick. Ein paar übrig gebliebene arme Leute haben begriffen: Es ging nicht darum, uns zu helfen, die wollten uns nur loswerden.

Sie haben sich beide für die kapitalismuskritische Bewegung Occupy Wall Street engagiert. Ende 2011 wurden die Aktivisten aus ihrem Camp im Zuccotti Park vertrieben, seitdem ist es ruhig um sie geworden. Sind Sie enttäuscht?

Sennett: Überhaupt nicht. Die Bewegung gab vielen jungen Leuten eine Idee davon, dass sie etwas verändern können. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Wir haben jetzt eine Aktion ins Leben gerufen, bei der Menschen im Internet Plätze in New York vorschlagen sollen, an denen Occupy wieder stattfinden könnte, die Seite heißt theatrum-mundi.org. Am ersten Tag hatten wir gleich 18 000 Hits, das hat mich verblüfft.

Sassen: Während der Zeit von Occupy Wall Street gab es eine Umfrage, nach der 70 Prozent der Amerikaner sagten: Ja, es gibt zu viel Ungleichheit bei uns. Und von sozialer Ungleichheit zu sprechen, das war in den Staaten bisher, als würde man ein schmutziges Wort benutzen.

Mrs. Sassen ...

Sassen: ... lassen Sie mich etwas ergänzen. Überall auf der Welt entstehen Protestbewegungen der Mittelschicht. Die Mittelschicht, die wie keine andere vom liberalen Staat profitiert hat, fühlt nun besonders hart, dass sich dieser Staat von seinen Aufgaben – öffentliche Schulen, öffentlicher Verkehr und so weiter – zurückzieht. Die sagen: Staat, du hast versagt, ich habe alles getan, habe einen Abschluss, bin nicht im Knast gelandet – und trotzdem finde ich keinen Job und werde mir kein Haus kaufen können. Die Mittelschicht, diese am wenigsten revolutionäre Gruppe, das sind ja keine Rosa-Luxemburg-Anhänger, wird zum Storyteller eines gescheiterten sozialen Vertrags zwischen dem Staat und den Bürgern. Es tut mir leid, ich klinge, als würde ich eine Vorlesung halten. Jedenfalls ...

... was sollte sich denn Ihrer Meinung nach politisch verändern?

Sassen: Ich spreche nicht von einer Revolution. Wir müssen uns den Staat zurückholen. Re-occupy the state. Wissen Sie, Menschen haben 98 Prozent oder so genetisch mit den Affen gemein: Schon zwei Prozent können einen großen Unterschied machen, kleine Veränderungen das System in eine andere Richtung lenken.

Sennett: Du bist Optimistin.

Sassen: Ich bin in Lateinamerika aufgewachsen, da haben wir viel politisch gekämpft. Obwohl, ich sehe mich eigentlich nicht als Optimistin.

Und Sie, Mr. Sennett, Sie sind Pessimist?

Sassen: Ach was, so wie er immer strahlt, kann er kein Pessimist sein.

Sennett: Wir haben keine politische Linke mehr, an die noch jemand glauben würde. Manche Linke sehen die Zukunft weiter in der Veränderung durch Wahlen, ich eher in sozialen Bewegungen und sozialem Engagement – Verbindungen zwischen sehr unterschiedlichen Menschen. Es gibt diese ehemaligen Microsoft-Programmierer, die die Firma verlassen und sich zusammengeschlossen haben, weil sie bessere Arbeit leisten wollen. So etwas gibt mir Hoffnung. In Frankreich existieren 78 000 Genossenschaften, die niemand als Teil der Polis betrachtet.

Zum Beispiel?

Sennett: In kleinen Städten tun sich Leute in Beerdigungsvereinen zusammen. Wenn einer sich kein Begräbnis leisten kann, kümmern die sich. Die klassische Politik wird gegenüber solchen Formen von Aktivismus irrelevant werden.

Sassen: Sie kann weiter relevant sein.

Sennett: Nicht für mich.

Susanne Kippenberger, Björn Rosen

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