Große Koalition: Zahltag für die Kanzlerin
Die CDU bekommt, was übrig blieb. Angela Merkels Partei zahlt einen hohen Preis. Dass auch ein anderer ein Opfer bringen muss, tröstet niemanden. Eine Reportage.
Olav Gutting ist als Abgeordneter im Bundestag bisher nicht groß aufgefallen, aber an diesem Mittwochmorgen hat der CDU-Mann aus Karlsruhe gute Chancen, einmal kurz in die Zeitgeschichte einzugehen. „Puuuh!“, twittert Gutting: „Wir haben wenigstens noch das Kanzleramt!“ Der Rest der CDU schnappt nach Luft und schweigt.
So hatte das Angela Merkel also gemeint, als sie am Dienstagvormittag in die letzte Runde der Koalitionsverhandlungen ging und „schmerzhafte Kompromisse“ ankündigte? Fast 24 Stunden später wird die Einigung vermeldet. Alle könnten nun aufatmen, endlich die lange Quälerei zu Ende, jetzt noch der SPD-Mitgliederentscheid, dann kann es losgehen. Doch die Partei der Kanzlerin zahlt einen hohen Preis. Regieren kostet, und es tröstet niemanden, dass dafür auch ein anderer ein Opfer bringen muss.
Mittwoch früh weht eisige Luft in den Windfang vor dem Haupteingang zum Konrad-Adenauer-Haus. Die Sicherheitsleute wärmen ihre Beine nach der langen Nacht vor einem Heizgebläse. Im Warteraum für die Journalisten kapituliert kurzzeitig die Kaffeemaschine. Im Raum daneben warten drei dünne Mikrofonständer vor einer blauen Wand auf ihren Einsatz.
Sie warten vergeblich. Kurz nach halb zehn schlendern die SPD-Verhandler Thorsten Schäfer-Gümbel, Ralf Stegner und Natascha Kohnen zum Straßenrand. Sie werden blitzschnell umringt, geben aber nur bekannt, dass sie sich jetzt mal frisch machen und dann wiederkommen. Doch fünf Minuten später laufen die Eilmeldungsdrähte heiß. „Durchbruch!“ Kabinettsposten verteilt, große Brocken abgehakt, nur ein paar Reste zu klären.
Gegen die Morgensonne
Dann passiert wieder lange nichts. Eine halbe Stunde später rollen zwei schwarze Limousinen aus der Tiefgarage. In der ersten sitzt, kaum zu erkennen gegen die Morgensonne, die Kanzlerin. Wahrscheinlich will sie auch mal schnell duschen. Aber das Vorbeihuschen passt ins Bild dieses ausgefransten Morgens, an dem es der Zufall dem CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt überlässt, als Erster zu bestätigen: „Es ist gelungen, die Konflikte aufzulösen.“
Formal ist das richtig. Nach dem letzten Kraftakt gegen die Müdigkeit steht die Kabinettsverteilung, die 179 Seiten Koalitionsvertrag können ins Reine geschrieben werden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht in dieser Nacht die einen Konflikte bloß gegen die nächsten getauscht worden sind. Denn der Kompromiss, der den Knoten zwischen der regierungswilligen Union und der regierungsskeptischen SPD durchschlagen soll, lässt sich nach Parteien geordnet grob so zusammenfassen: Die SPD bekommt eine fette Ministeriumsbeute, darunter das Finanz-, das Außen- und das Arbeitsministerium. Dafür fallen die inhaltlichen Zugeständnisse sehr überschaubar aus. Die CSU hat ihre „Obergrenze“ schon im Säckel und kriegt drei Ministerien obendrauf, darunter ein „Superinnenministerium“, wie der General Andreas Scheuer schwärmt, nämlich für Innere Sicherheit, Bau und Heimat.
Die CDU bekommt, was übrig blieb: Verteidigung, Landwirtschaft, Gesundheit, Bildung. Allerlei Staatsminister, den Kanzleramtschef. Und Wirtschaft. Zum ersten Mal seit Ludwig Erhard. Immerhin. Das Haus soll Peter Altmaier übernehmen, was – neben seiner unverwüstlich sonnigen Art – dazu beitragen mag, dass Merkels Noch-Kanzleramtschef vom „guten Tag für unser Land“ spricht.
Das sieht nicht jeder so. Thomas de Maizière zum Beispiel scheidet aus dem Kabinett aus. Merkels ältester Weggefährte hat sich verrechnet. Er hätte vor kurzem Ministerpräsident in Sachsen werden können, aber er beschied die Sendboten aus Dresden, dass seine Zukunft in Berlin liege. Jetzt bleibt ihm nur noch, den Abgang selber zu verkünden, bevor es jemand anders tut.
Über seinen Nachfolger wird gleich noch zu reden sein. Doch vorher sind die nächsten Abgänge an der Reihe. Man kann sie am Vormittag erahnen, als das SPD-Verhandlungsteam per Whatsapp ein Foto verbreitet mit dem knappen Kommentar: „Müde. Aber zufrieden.“ Im Zentrum strahlen Andrea Nahles und Olaf Scholz, flankiert von Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz und Generalsekretär Lars Klingbeil. Von der Seite witscht Manuela Schwesig noch mit aufs Bild, von hinten grinst breit Nahles’ Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider. Neben ihm steht noch einer. Der lächelt vergleichsweise sparsam. Martin Schulz.
Das Gruppenselfie können sie demnächst im Willy-Brandt-Haus ins Foyer hängen. Es zeigt nämlich die neue Machtverteilung in der SPD. Der Parteivorsitzende Schulz ist Geschichte, eine sehr kurze Geschichte selbst für sozialdemokratische Verhältnisse. Der Rückzug ist der Preis für einen Stuhl im Kabinett. Seit Tagen haben sie ihm in der SPD-Spitze zugesetzt: Außenminister und Parteichef zusammen geht nicht, nicht für einen, der es vom 100-Prozent-Heiland zum König der Fehlentscheidungen gebracht hat.
Zuletzt hat auch noch sein Heimatverband NRW die Daumenschrauben angesetzt. Jetzt soll Andrea Nahles die neue starke Frau werden, die Fraktions- und Parteispitze in einer Hand vereint. Und der Hamburger Scholz wird der neue starke Mann im Kabinett: Finanzminister und Vizekanzler in einer Hand. Das dritte SPD-Großressort Soziales, um die vorläufige Liste noch rasch voll zu machen, könnte Heiko Maas führen oder die Berlinerin Eva Högl – aber vielleicht kommt es auch umgekehrt. Als Familienministerin ist Katarina Barley vorgesehen, die dort schon kommissarisch sitzt, für Umwelt weiter Barbara Hendricks.
Falls jemandem jetzt auffällt, dass ein bekannter Kopf in der Liste wie auf dem Foto fehlt – stimmt. Auch für Sigmar Gabriel ist Endstation.
"Passt scho", sagt Horst Seehofer
Bei der Union wollen sie mit Namen nicht rausrücken. Es bleibt aber beim Vorsatz. Der neue Job für Altmaier dringt durch und der alte für Ursula von der Leyen auch, sie bleibt Verteidigungsministerin. Weitere Namen stehen auf einer Liste aus dem Verhandlungssaal: Julia Klöckner, liest man dort, könnte aus Rheinland-Pfalz ins Agrarressort gehen, die Frauenunionschefin Anette Widmann-Mauz die Gesundheit übernehmen und Hermann Gröhe die Bildung; auf Altmaier im Kanzleramt folgt sein Staatsminister Helge Braun. Bei der CSU können sich Generalsekretär Scheuer und Vizegeneralin Dorothee Bär Hoffnung machen.
Womit wir zum Neuen im verwaisten Hause de Maizière zurückkehren können. Der Neue steht am frühen Nachmittag rechter Hand von der Kanzlerin vor einem der drei dünnen Mikrofonständer, die jetzt doch noch ihre Verwendung finden. „Wenn wir in Bayern mit einer Sache in besonders hohem Maße zufrieden sind, sagen wir: Passt scho“, sagt Horst Seehofer, und damit es wirklich jeder versteht, setzt er nach: „Passt scho.“
Der Horst! Wenn irgendwer einmal einen Preis für politische Überlebenskunst ausloben sollte, wäre der CSU-Chef ein ganz heißer Favorit. Zwar von Juristerei versteht er nichts, was, wenn es auch keine formale Voraussetzung darstellt, für die Leitung eines Verfassungsressorts nicht die ideale Voraussetzung ist – Seehofer nennt sich gelegentlich selbst einen „Erfahrungsjuristen“.
Aber sein Herzensressort Arbeit und Soziales wollten die Sozialdemokraten auf Biegen und Brechen nicht hergeben. Dafür darf Seehofer demnächst nicht nur über Deutschlands Sicherheit wachen, sondern auch noch Geld fürs Bauen ausgeben und für die Heimat. Dahinter verbirgt sich nach bayerischem Vorbild die Sorge für ländliche und anderweitig schwierige Regionen, also zum Beispiel im Osten, aber auch ein Stück politischer Kriegsführung mit Begriffen: „Heimat“ gehört ab jetzt nicht mehr der AfD.
Schulz steht von Merkel aus gesehen links. Er wirkt angestrengt und will zu Personalfragen nichts sagen. Dafür zählt er Punkt für Punkt für Punkt die „sozialdemokratische Handschrift“ im Koalitionsvertrag auf, von Milliarden für Familien und Kinder bis zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen, die „drastisch“ eingeschränkt werde.
Über den letzten Punkt, eine der Kernforderungen des SPD-Parteitags, kann man geteilter Meinung sein. Ob Juso- Chef Kevin Kühnert als Anführer der Anti-Regierungsbewegung auch das meinte, als er sich per Twitter „#fassungslos“ zeigte? „#NoGroko bedeutet nicht nur die Ablehnung eines Koalitionsvertrags (über den plötzlich niemand mehr spricht)“, schimpft Kühnert. „#NoGroko bedeutet auch die Absage an den politischen Stil, der heute aufgeführt wird.“
Da wird die SPD-Führung noch zu arbeiten haben an der Zustimmung ihrer Mitglieder. Wenigstens die Sorge hat Merkel nicht. Der CDU-Chefin steht nur ein Parteitag bevor. Zum Triumphzug wird der aber auch nicht. Parteivize Volker Bouffier versucht schon den Blick weg zu lenken von der Kabinettsliste. „Das Entscheidende ist, was wir in der Sache vereinbart haben“, sagt der hessische Ministerpräsident. Merkel selbst versucht es mit Küchenpsychologie: „Manchmal ist es so: Wenn man etwas nicht hat, dann bedauert man es“, sagt sie, und wenn man etwas kriege, dann bedauere man, was man dafür hingeben müsse.
„Bedauern“ ist ein freundliches Wort. Von solchen, die mit dem Luftschnappen fertig sind, hört man unfreundlichere. Aber wer regieren will, muss nun mal zahlen. Und zur Not, was hilft’s, für den klammen Partner in spe gleich mit.
Mitarbeit Stephan Haselberger