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Demonstranten auf der B2, kurz vor der deutsch-polnischen Grenze.
© Oliver Bilger

Pendler protestieren an der polnischen Grenze: „Wir wollen nicht, dass unser Leben in zwei Stücke gerissen wird“

Polen will das Virus aussperren – und sperrt Tausende Deutschland-Pendler ein. Die fürchten um die deutsch-polnischen Beziehungen. Und um Europa.

Marta Szuster will gegen die Grenze protestieren, doch dafür muss sie zunächst selbst eine ziehen. Zwei lange Kreidestriche hat sie quer über die Bundesstraße 2 geführt, einer blau, der andere weiß, knapp zwei Meter breit, vom linken zum rechten Fahrbahnrand. 

Die polnischen Grenzschützer in ihren Flecktarn-Anzügen schauen interessiert zu. Sie sind allerdings auch Teil des Problems, das Szuster hier in der Uckermark, zwischen blühenden Raps- und jungen Getreidefeldern, beseitigen möchte.

Aus dem Südwesten führt die B2 einmal diagonal durch Brandenburg. Ganz im Nordosten verwandelt sich die deutsche Bundesstraße fast unbemerkt in die polnische Nationalstraße, die Droga krajowa 13, Richtung Stettin. 

Zwischen den Örtchen Rosow und Rosowek markieren zwei schmale Grenzpfosten den Übergang, davor und dahinter Hinweisschilder am Straßenrand: Bundesrepublik Deutschland, Rzeczpospolita Polska. Autofahrer, die daran vorbeirauschen, nehmen kaum Notiz. Und wer hier lebt, sieht nicht zwei Staaten, sondern eine gemeinsame Region – normalerweise. Aber was heißt das noch in diesen Wochen.

Still ist es nun am vergangenen Freitag an der B2, weil kein Auto mehr über den Straßenabschnitt fährt, Schranken und Verbotsschilder stehen auf der Fahrbahn. Große, mit Sand gefüllte Barrikaden blockieren die Durchfahrt. Tag und Nacht patrouillieren Grenzschützer. Niemand darf passieren, seitdem Polens nationalkonservative Regierung im Kampf gegen das Coronavirus schwere Geschütze aufgefahren hat. Auf keinen Fall soll es aus Deutschland eingeschleppt werden.

Die 39-Jährige Marta Szuster versteht diese Sorge, denn die polnische Medizinversorgung sei der Pandemie kaum gewachsen. Trotzdem wünscht sie sich, dass die Regierung sieht, welchen Kollateralschaden sie diesseits und jenseits von Oder und Neiße anrichtet. Wie viele Menschen in der Region befürchtet Szuster gravierende langfristige Schäden für die Beziehungen beider Länder – und den europäischen Gedanken.

Marta Szuster will sich ihr Leben "nicht in zwei Stücke reißen lassen".
Marta Szuster will sich ihr Leben "nicht in zwei Stücke reißen lassen".
© Oliver Bilger

In der Nacht vor der Demonstration, sagt Marta Szuster, habe sie vor lauter Aufregung nicht schlafen können. „Wir wollen nicht, dass unser Leben in zwei Stücke gerissen wird.“

„Warschau versteht das Grenzgebiet nicht“

Seit Mitte März sind Polens Außengrenzen dicht. Bis auf wenige Ausnahmen dürfen Ausländer nicht mehr ins Land. Seit Ende März müssen Pendler, wie alle polnischen Bürger, die aus dem Ausland einreisen, für zwei Wochen in eine strenge Quarantäne. Die Regierung, sagt Szuster, während sie einen geeigneten Platz sucht, um Flaggen aufzuhängen, habe unüberlegt gehandelt, als sie die Tore zu den Nachbarn schloss. „Warschau versteht das Grenzgebiet überhaupt nicht.“

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Betroffen sind zehntausende Berufspendler entlang der 460 Kilometer langen Grenze: vom Stettiner Umland im Norden bis nach Görlitz und Zittau im Süden. Allein nach Brandenburg und Berlin kommen 25.000 grenzüberschreitende Arbeiter. In der ganzen Bundesrepublik sollen es fast 70 000 sein. Die Schließung der Grenze hat Folgen: wirtschaftliche, politische, soziale.

Wer sich entschieden hat, für den Job in Deutschland zu bleiben, ist seit Wochen getrennt von seiner Familie. Wer bei seinen Liebsten auf der polnischen Seite bleibt, verliert seine Einkünfte und vielleicht seinen Job. In deutschen Betrieben fehlen Arbeitskräfte: bei Pflegediensten, in Kliniken und Fabriken, Schulabschlüsse sind in Gefahr, die Gesundheit ist es bisweilen auch. Ihr Vater, erzählt Szuster, lebt in Stettin und müsste bei seinem deutschen Arzt den Herzschrittmacher kontrollieren lassen.

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„Wir wollen den Menschen helfen, die jetzt in dieser dramatischen Lage sind“, sagt sie. Deshalb will sie demonstrieren, gemeinsam mit vielen anderen an verschiedenen Orten entlang der Grenze. Das ist wegen Corona nur unter strengen Auflagen möglich. Und so malt Szuster Kreidemarkierungen auf den Boden, für jeden Demonstranten eine, Europa-blau und mit je zwei Meter Abstand. Ab halb eins am Morgen hat sie Masken aus Stoff geschnitten, Desinfektionsmittel und Einweghandschuhe stehen ebenfalls bereit.

Der Protestaufruf stammt ursprünglich aus Polen und hat sich über Facebook schnell verbreitet. Wer ihn gestartet hat, weiß Szuster nicht, aber sie zählt zu den ersten, die sich auf deutscher Seite anschlossen. Ihr Einsatz für die deutsch-polnischen Beziehungen ist für sie so normal wie ihr grenzüberschreitender Alltag. 

Szuster ist in Stettin geboren, aber in Hamburg aufgewachsen. Später zog es sie zunächst zurück in die Geburtsstadt, anschließend ins benachbarte Gryfino, wo ihr Mann im Kohlekraftwerk arbeitet. Seit zehn Jahren lebt ihre Familie im Dorf Staffelde auf deutscher Seite. Ihre drei Kinder sprechen beide Sprachen fließend.

Wer die Brücke nach Slubice überqueren will, muss fieberfrei sein.
Wer die Brücke nach Slubice überqueren will, muss fieberfrei sein.
© Annegret Hilse/Reuters

Geteilt ist derzeit auch das Leben in der Doppelstadt Frankfurt-Slubice. Normalerweise passieren pro Tag Tausende die Stadtbrücke über die Oder: auf dem Weg zur Arbeit, zum Tanken und für billige Zigaretten. Jetzt herrscht unter den parabelförmigen Stahlbögen kaum Betrieb. Nur mit Sondergenehmigung, etwa für den Warenverkehr, sind Grenzübertritte noch möglich. Lkw-Fahrer sind von der zweiwöchigen Isolation befreit.

Alle anderen müssen umkehren, wie ein hochgewachsener Grenzschützer vor einem Zelt als provisorische Grenzstation in knappen Worten anweist. „Sie dürfen nicht passieren.“ Auf der Brücke misst ein Kollege im weißen Ganzkörper-Schutzanzug die Körpertemperatur von jedem, der sich nähert.

„Manche mokieren sich, weil es ja angeblich keine Grenze mehr gibt“

Nur knapp 250 Meter weiter, auf der anderen Brückenseite, stehen deutsche Bundespolizisten und Zöllner vor ihren Einsatzwagen, überprüfen stichprobenartig die wenigen Reisenden. „Der Großteil nimmt es hin“, sagt ein Beamter. „Manche mokieren sich, weil es ja angeblich keine Grenze mehr gibt.“ Trotz EU und Schengen, belehrt er, gebe es diese natürlich „trotzdem noch“.

Das wird in Frankfurt gerne anders gesehen, wie der Slogan auf einem Schild am Brückenrand, gleich neben den Polizisten beweist: „Ohne Grenzen. Bez granic“ steht da. Das Frankfurter Stadtmarketing hat zudem ein zweisprachiges Banner ans Brückengeländer gehängt: „Im Herzen vereint und gemeinsam stark. Wir sehen uns bald wieder.“ Einige Meter weiter, an der Oderpromenade, hängt noch ein Gruß an die Nachbarn, auf einem bemalten Laken heißt es dort auf Polnisch: „Wir vermissen euch.“

Von der Stadtbrücke ist es nicht weit bis zum Karl-Liebknecht-Gymnasium, von 870 Schülern stammen 69 aus Polen, seit fast 30 Jahren besteht die grenzübergreifende Kooperation. 21 polnische Abiturienten mussten nun aber um ihren Schulabschluss bangen. Offiziell gehören sie zum polnischen Bildungssystem, das wurde im März plötzlich ein Problem, als Warschau den Lehrbetrieb stoppte – eine Woche bevor Brandenburg den Unterricht aussetzte.

Natalia Wehling verpasste fast ihre Abiturprüfungen.
Natalia Wehling verpasste fast ihre Abiturprüfungen.
© Oliver Bilger

Natalia Wehling und die anderen 20 angehenden Abiturienten mussten zu Hause bleiben. Die 18-Jährige mit mittellangem, dunkelblonden Haar, empfand es als „frustrierend, dass andere zur Schule gehen konnten“, während sie sich selbst sorgte, ob sie überhaupt am Abitur teilnehmen kann. „Ich wusste nicht, was aus dem Abi wird.“ Das Schuljahr wiederholen wollte sie nicht. Gleichzeitig befürchtete sie, dass sich die „großen Behörden“ in Warschau kaum für das Problem der Schüler aus Slubice interessieren.

Dass Wehling nun doch neben dem Schulsportplatz sitzen und über die Schwierigkeiten berichten kann, hat ihr Schulleiter Torsten Kleefeld möglich gemacht. Er kontaktierte Stadtverwaltung und Bildungsministerien. Erwog, die Abschlussprüfungen an der Partnerschule in Slubice abzunehmen, wollte die Aufgaben über den Grenzschutz weiterreichen lassen, verwarf diesen Gedanken aber rasch wieder.

Die Schüler überquerten die Brücke wie in einem Konvoi

In den Osterferien kam die rettende Idee: Die Schüler sollten für die Prüfungszeit ins Internat nach Frankfurt ziehen. Das Gesundheitsamt erteilte eine Ausnahmegenehmigung für vier Wochen, Stadtverwaltung und Elternverein übernahmen die Miete.

Am Sonntag vor zwei Wochen, berichtet Wehling, habe sie in Polen hektisch ihre Sachen ins Auto gepackt. Dann überquerte ein ganzer Konvoi von Schülern die Brücke. Auf der deutschen Seite wartete Rektor Kleefeld auf seine Abiturienten – „ein bewegender Moment“, wie er sagt.

Drei Jahre lang „haben die Schüler hier ihre Runden gedreht“, erzählt Kleefeld, „sie wollen jetzt nicht aus dem Rennen ausscheiden“. Wehling bereitet sich nun auf die letzten Prüfungen in Mathe, Polnisch, Bio und Geschichte vor.

Boba Preuß würde sich auch eine ähnlich unbürokratische Lösung für ihr Unternehmen, einen privaten Pflegedienst, wünschen. Preuß macht es zu schaffen, dass seit vier Wochen eine polnische Krankenschwester nicht zur Arbeit kommt, Schwester Anja hat als eine der wenigen Mitarbeiterinnen eine Ausbildung für die Intensivpflege absolviert.

Hieer geht es nicht weiter. Seit Mitte März sind die Grenzen nach Polen geschlossen.
Hieer geht es nicht weiter. Seit Mitte März sind die Grenzen nach Polen geschlossen.
© Oliver Bilger

Stattdessen muss Geschäftsführerin Preuß ihre Schichten übernehmen. „Wir sind solidarisch“, sagt die 37-Jährige, sie will ihre Mitarbeiterin über die Corona-Zeit halten, zumal es schwierig ist, Fachkräfte zu finden. Sie weiß jedoch von anderen Betrieben, bei denen die finanzielle Belastung so hoch sei, dass sie Angestellte kündigen mussten, nachdem sie all ihre Urlaubstage aufgebraucht hatten.

Zwar könnte die Pflegerin als Berufspendlerin 65 Euro als Aufwandsentschädigung in Brandenburg bekommen, wäre aber getrennt von Mann und Kindern – für die Mitarbeiterin keine Option. Preuß kann das verstehen, hätte wohl genau so entschieden. Zumal niemand wisse, wie lange die Situation dauern wird.

Sie nennt die Schließung der Grenze "diktatorisch"

Nicht begreifen kann sie allerdings, wieso die polnische Regierung die Zusammenarbeit und Nachbarschaft in der Region aussetze, mit ihren Corona-Maßnahmen „Ängste schürt in der Bevölkerung“ und Freiheiten einschränke. Preuß, die auch stellvertretende Kreisvorsitzende der Linken ist, meint, Polens Regierung versuche die Bürger unter ihrer Kontrolle zu halten, und sie könne sich bei den Wählern beweisen, indem sie die Grenze nun selbst steuert. Sie nennt das „diktatorisch“ und wünscht sich, dass die Regierung die Lage bald normalisiert.

Damit dies passiert, versuchen die Menschen in der Region auf ihre Regierungen einzuwirken. Zu Ostern schrieb der ärztliche Direktor des Asklepios Klinikums Uckermark in Schwedt gemeinsam mit der medizinischen Universität Stettin einen Brief an Präsident Andrzej Duda und Kanzlerin Angela Merkel mit der Bitte, dafür zu sorgen, dass „das Europa der Bürger in unserer Region erhalten bleibt“.

[Die Recherche für diese Reportage wurde mit Mitteln des WPK-Recherchefonds Covid-19 gefördert.]

Groß sei die Sorge „um die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen“, heißt es in dem Schreiben weiter. „Wir befürchten, dass die mühsam erreichte Annäherung und das gute nachbarschaftliche Zusammenleben durch neue Grenzziehungen beeinträchtigt oder langfristig sogar zerstört werden könnte.“ Es sei „schmerzhaft zu sehen“, wie Errungenschaften der Vergangenheit „nun aufs Spiel gesetzt werden“.

Nach Krieg und Feindschaft sind in der Grenzregion Vertrauen und Freundschaft gewachsen. Jetzt, so die Furcht, könnten politische Entscheidungen auseinander reißen, was die Menschen über Jahrzehnte hinweg zusammengebracht habe.

Eine Antwort auf das Schreiben gab es bislang nicht, am Wochenende setzte sich immerhin Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, zugleich Koordinator der deutsch-polnischen Zusammenarbeit im Bund, für eine pragmatische Lösung für Pendler ein. Marta Szuster ist überzeugt, dass diese kurz bevorsteht. „Die Chancen stehen gut, dass unser Protest Erfolg hat.“

Am Freitagabend stehen 20 Demonstranten auf den kreisrunden, blauen Markierungen mitten auf der B2. Dutzende mehr Menschen laufen mit Abstand auf der Grenzlinie auf und ab. Auch hinter den Straßensperren, auf der polnischen Seite, haben sich einige Dutzend Menschen versammelt. Weil Demonstrationen verboten sind, haben sie sich zu einem Spaziergang verabredet. Marta Szuster verliest ein Manifest mit der Forderung, wenigstens für die Pendler die Grenze wieder zu öffnen.

Tatsächlich scheint der Protest etwas in Bewegung gesetzt zu haben

Den großen Zulauf zu den Protesten entlang der gesamten Grenze wertet die Aktivistin als Erfolg. Ebenso wie die wachsende Unterstützung der polnischen Opposition für die Belange der Pendler. Szuster ist optimistisch – und kämpferisch zugleich. Sie geht fest davon aus, „dass die Regierung Angst bekommt“. Tatsächlich scheint der Protest etwas in Bewegung gesetzt zu haben. Die Regierung will in den kommenden Tagen über Lösungen für Pendler beraten. Die Angelegenheit, schränkt ein Sprecher am Montag dennoch ein, sei allerdings schwierig. Entlang der Grenze sind viele darauf eingestellt, dass die Übergänge noch bis Mitte Juni geschlossen bleiben könnten.

Über den Demonstranten auf der B2 schwirrt eine Drohne der polnischen Sicherheitskräfte. Zwei Jugendliche mit Geige und Querflöte übertönen das Surren mit der Ode an die Freude.
Die Recherche wurde mit Mitteln des WPK-Recherchefonds Covid-19 gefördert.

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