Hart an der Grenze: Wie Polens Corona-Politik den internationalen Verkehr lahmlegt
Mit strengen Einlasskontrollen reagiert Polen auf das Coronavirus. Das hat weitreichende Folgen. Ein Ortsbesuch an der deutsch-polnischen Grenze.
Es ist noch früh am Vormittag, der Morgennebel über der Oder hebt sich gerade, da stehen zwei Zollbeamte an der Brücke nach Slubice und schauen, was kommt. Von Westen. Hinter ihnen fließt die Oder, wie sie das immer tut.
Die beiden Männer, der eine lang und drahtig, der andere klein und rund, haben die Straße im Blick, über die kommen muss, wer nach Slubice auf der polnischen Seite des Flusses will. Nur wenige Autos und ihre Insassen haben das an diesem Mittwochmorgen vor. Dennoch stauen sich bereits zwei Dutzend von ihnen auf der Oderbrücke.
Auf einem Schild an dieser Brücke stehen die beiden Städtenamen geschrieben, die sich diesen Flecken beidseits der Oder von jeher teilen: Slubice und Frankfurt. Und darunter in blauer Schrift auf silbernem Grund: „Ohne Grenzen“. Das war einmal.
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Drüben haben sie ein Zelt errichtet, und ein Mann im weißen Schutzanzug und mit Atemmaske steht davor. Temperaturmessung. Das ist sein Job. Er sei eigentlich Feuerwehrmann, sagt er.
Nach und nach werden Polen derzeit ins Land gelassen - und mit wenigen Ausnahmen nur die. Jeder muss ein Formular mit seinen Kontaktdaten ausfüllen. Handschriftlich.
„Die Polen sind ein bisschen anders“, sagt der Beamte in seiner blauen Uniform, der lange, hagere Typ mittleren Alters, der seine Hände in morgendlicher Kühle in der schusssicheren Weste vergräbt. „Wenn die Polen sich für Grenzkontrollen entscheiden, dann ziehen die das durch. Kümmert sie auch nicht, welche Konsequenzen das hat.“
So eine Situation haben sie hier noch nie erlebt
Er sucht mit dem Blick seinen Kollegen, der neben ihm stehend in der Morgenluft raucht. Der nickt. Beide kennen dieses Verhalten auf polnischer Seite aus der Zeit, da es noch Grenzkontrollen zwischen beiden Staaten gab. Am 21. Dezember 2007 wurden sie aufgegeben. Und von den 800 Zollbeamten, die in Frankfurt (Oder) stationiert waren, blieben im Laufe der Zeit nur noch 80 übrig – „wenn wir alles zusammenkratzen“, wie der Lange sagt.
Aber jetzt sei für sie ohnehin „Totentanz“. Sie jagen nicht Zigarettenschmuggler und Drogenkuriere, sondern sind der örtlichen Verkehrspolizei unterstellt, um eine Situation zu bewältigen, wie man sie hier auch noch nie erlebt hat: Lkws stauen sich auf der A12 vom Grenzübergang, wo jeder Lastwagenfahrer sich einem gesundheitlichen Schnelltest unterziehen muss, bis nach Fürstenwalde, was mehr als 40 Kilometer sind.
Am Abend wird die endlose Schlange an Lastern und Sattelschleppern sich bis zum Berliner Ring erstrecken, was einer Distanz von 70 Kilometern entspricht. Da ist der Moment gekommen, dass die Polizei drastischere Schritte einleiten wird.
Aber zunächst einmal tritt ein Lkw-Fahrer auf die beiden Zoll-Beamten zu. Mit starkem osteuropäischem Akzent will er wissen, ob er mit seinem Truck, den er weiter oben in der Stadt geparkt hat, die Brücke nach Slubice passieren dürfe. Als wenn die beiden Zoll-Beamten das entscheiden könnten.
Nein, sagt der Lange. Dieser Übergang sei dem Personenverkehr vorbehalten. Der Fahrer, ein Weißrusse, wie sich herausstellt, hat neun Stunden Stau auf der Autobahn hinter sich, kaum geschlafen. Er sucht verzweifelt ein Schlupfloch. Hier nicht, sagt der Lange.
Die Lage an der Grenze ist verwirrend: In der Innenstadt ist der Übergang für Pkw geöffnet worden, die Autobahn südlich von Frankfurt ist seit Mittwoch nur noch dem Güterverkehr offen.
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Das Gespräch zwischen dem Lkw-Fahrer und den Zollbeamten wird gestört von einer jungen Frau in Jogginghose und mit pinkfarbener Bauchtasche, die von der anderen Straßenseite laut brüllend fordert, dass die „scheiß Brücke endlich in die Luft gesprengt“ werde. Als wenn die beiden Zoll-Beamten das entscheiden könnten.
Ein Hauch apokalyptischer Hysterie schwingt mit in dem Geschrei dieser Verwirrten. Dabei könnte es ein ganz normaler Morgen an einer Flussbrücke sein, unter der das Wasser im Sonnenlicht funkelt und eine gewisse Milde in der Luft den Frühling ankündigt. Aber Europa hat sich entschieden, zur Eindämmung der Corona-Epidemie nun auch seine Binnengrenzen zu kontrollieren.
„Jemand muss den Stöpsel ziehen“
Was diese Kontrollen bewirken, sieht man auf einer Dutzende Fußballfelder großen Betonebene neben der Autobahn. Staub wird vom Wind aufgewirbelt, Dieselaggregate brummen, 600 Lkw stehen seit dem Vortag dicht an dicht auf der schattenlosen Fläche, und ein rätselhafter Magnetismus hat sie wie Bleispäne auf ein unergründliches Ziel ausgerichtet.
Dieser Parkplatz, ein Relikt aus der alten europäischen Grenzordnung, als die den ungehinderten Binnenverkehr noch nicht kannte, ist zu einer Art Überlaufbecken geworden, um der Lastwagenflut auf der Autobahn Herr zu werden. Vor allem aber sammeln sich hier alle jene Waren, die zur Produktion anderer Waren dringend benötigt werden.
Der alte Zollhof sei „das Epizentrum“ des Chaos’, sagt ein Uniformierter. Von Süden drängen Lkws auf Nebenstraßen heran. Nach Norden können sie nicht ausweichen. „Man sieht jetzt, wie fragil die ganze Angelegenheit ist“, fährt er fort, „und was es bedeutet, die Lagerbestände der Fabriken auf die Straße zu verlagern.“
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Am Mittwochvormittag, während die Polizisten vorort die Lkw-Walze zu kanalysieren versuchen, brechen überall in Deutschland weitere Lkws mit polnischen Kennzeichen zu einem der drei großen Grenzübergänge auf. Und bis Samstag dürften auch jene Fahrer diese Orte erreicht haben, die aus weiter entfernten europäischen Regionen anreisen.
„Jede Idee, das Chaos hier aufzulösen“, sagt ein Uniformierter, „ist zum Scheitern verurteilt, wenn wir kaum Lkws nach Osten loswerden können. Jemand muss den Stöpsel ziehen. Wird aber nicht passieren.“
Marius ist einer von denen, die auf dem Zollhof gestrandet sind und sich abgehängt fühlen. Dass die Gemütslage des Hünen von vielleicht zwei Metern einen Tiefpunkt erreicht hat, ist seiner Tonlage deutlich anzumerken. Er kocht. Der Pole hat das ernste Gesicht und den Bart von Metallica-Frontmann James Hetfield und steht zwischen den Lkws mit einer Gruppe Landsleute zusammen.
Wenn der Diesel alle ist, verfaulen mehrere Tonnen Obst
„Die Polizisten sagten gestern Vormittag, dass wir Platz machen sollten auf der Autobahn für den Pendlerverkehr“, beklagt sich der 43-Jährige. „Ok, das haben wir gemacht.“ Aber es gefällt ihm ganz und gar nicht. Er deutet zur A12 und auf die endlose Kolonne. „Wir versauern jetzt hier. Man ruft seinen Boss an, der verspricht Hilfe. Aber Hilfe kommt nicht. Wir sind ja nur die Fahrer.“
Sein Dieselvorrat, der die Kühlanlage seines Trucks am Laufen hält, ist nach der langen Verzögerung von 19 Stunden beinahe aufgebraucht. Wenn sie ausfällt, verfaulen ihm mehrere Tonnen Obst.
Aber schwerer als ein solcher Engpass wiegt die Zeit, die verlorengehe. Obwohl es in Polen viele Varianten gibt, einen Lkw-Fahrer zu entlohnen, laufen doch alle auf dasselbe hinaus, sagen die Männer: Wenn du nicht fährst, kriegst du kein Geld.
Manche Fuhrunternehmen bauen einen finanziellen Puffer von einem Tag pro Tour für Standzeiten ein, aber meistens besteht der bezahlte Arbeitstag eines Fahrers aus den Stunden, die er am Steuer sitzt. „Ich habe so viel Zeit, ich könnte zu Fuß nach Hause gehen“, sagt Marius verärgert. Seine Vorräte reichten noch für zwei Tage.
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Auf dem Gelände befindet sich immerhin ein großer Supermarkt. Wie das Geschäft laufe? Die Frau hinter der Kasse zuckt mit den Schultern. „Haben nichts gekauft“, sagt sie, „nur Brot und Bier.“
Zwischen die Sattelschlepper hat sich auch ein kleiner Pritschenwagen verirrt. Gesteuert von der einzigen Frau weit und breit. Camille, 21 Jahre alt, das blonde Haar zu einem kleinen Dutt zusammengebunden, hat große, runde, übernächtigte Augen, ist Französin aus Lille. Seit sie ihr Studium abgebrochen hat, verdingt sie sich als Fernfahrerin. „Ich bin für mich, niemand sitzt mir im Nacken“, erklärt sie ihre Motivation, in der Hand ein Smartphone, in das sie unablässig Botschaften tippt.
Normalerweise erledigt sie eine Tour nach Polen in drei Tagen. Wie viele es diesmal werden, kann sie nicht abschätzen. Wie überhaupt die ganze Situation vollkommen unklar ist. Geladen hat sie eine Palette und acht Kartons für das VW-Werk in Poznan. Aber darf sie als Französin über die Grenze? Sie wartet darauf, dass man ihr sagt, was sie tun soll. Umkehren oder es weiter versuchen?
Wasser, Apfelschorle und Energieriegel
Ein Herr in neongelber Warnweste reicht ihr eine Wasserflasche und Snacks durchs Fenster. Normalerweise hat der Chef des Mineralölkonzerns Orlen, der in Deutschland die Star-Tankstellen betreibt, anderes zu tun, als sich auf Parkplätzen herumzutreiben. „Viele Fahrer denken“, sagt Waldemar Bogusch, „dass wir ihnen etwas verkaufen wollen und winken deshalb ab.“
Dabei will der kahlköpfige Mann den Leuten in ihrer Not beistehen. Arme Schweine seien das doch. Gefangene einer Situation, die ihnen keine Rast und keinen Schlaf erlaube und sie trotzdem nicht vorwärts kommen lasse.
Bogusch hat zwei seiner Vertrauten von Elmshorn, dem Sitz der Star-Zentrale, hierher beordert, die Transporter vollgeladen mit Wasser, Apfelschorle und Energieriegeln. Wer von den Fahrern wissen will, warum, dem zeigt er nur das Logo seiner Firma. Und sie nicken.
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In den Morgenstunden drohte die Lage durch energische Typen wie Marius auf dem Parkplatz zu eskalieren. Sie beschwerten sich lautstark bei der Polizei, dass sie schlechter behandelt würden, als jene, die auf der Autobahn weiterfahren könnten.
Die Polizei sieht sich gezwungen, das provisorische Rückhaltebecken leerlaufen zu lassen, indem sie die Wartenden in den Autobahnverkehr einfädelt. 600 Lkw, das entspricht einer Kolonne von zehn Kilometern. Der erste würde die Grenze erreichen, während die meisten hier immer noch warten.
Auf der Suche nach einer Ausweichroute sind viele Fahrer auf Schwedt gekommen. Die 35.000-Einwohner-Stadt liegt Oder-abwärts. Eine schmale Straße führt durch die im Frühjahr überflutete Auenlandschaft zur Grenzbrücke.
Mit Elan durch die Corona-Krise - noch
Drei junge polnische Männer sind nach ihrer Frühschicht schnellen Schrittes auf ihr unterwegs. Drei Kilometer durchs Marschland. Als Mitarbeiter eines deutschen Paketdienstleisters sind sie das Pendeln gewohnt. Auf beiden Seiten der Grenze haben sie jetzt ein Auto stehen. Aus drei Stunden Stau machen sie auf diese Weise 40 Minuten Fußweg.
Ihr Tempo zeigt, mit welchem Elan sie sich durch die Krise bewegen. Wer weiß, wie lange noch. „Wenn das jetzt Monate lang so weitergeht“, japst einer von ihnen, „wäre das eine Tortur.“
Jedem, der die Grenze passiert, wird ein Messgerät an die Stirn gehalten. Auf der Brücke stehen bewaffnete Soldaten und reichen Kontaktformulare durchs Seitenfenster. Manche Autos sind mit den Habseligkeiten eines Lebens in der Fremde beladen.
Wie eine Perlenschnur reiht sich in Schwedt Truck an Truck zwischen Plattenbauten. Und einige der Einwohner betrachten das Schauspiel belustigt, während sie Besorgungen erledigen. Ein Ärgernis scheint der Andrang nicht zu sein. Die Fahrer seien sehr diszipliniert, sagt ein Polizist am Straßenrand, würden die Zufahrten frei halten und den normalen Verkehr kaum beeinträchtigen.
Die Stadt hat mobile Toiletten entlang der Hauptverkehrsachse aufgestellt sowie Müllcontainer. Das DRK sieht keinen Handlungsbedarf. Die Fahrer, sagt ein Rot-Kreuz-Mitarbeiter, seien lange Wartezeiten ja durchaus gewohnt. Sie wüssten, sich zu versorgen. Was die Situation in der Stadt außergewöhnlich mache, sei der Umstand, dass die Schwedter nun selbst mit ihren Kindern in ihren Wohnungen festsäßen und den ganzen Tag Zeit hätten, sich die Kolonne vor ihrem Fenster anzusehen.
An einem Asia-Imbiss lässt sich ein älterer Herr sein Essen durch einen schmalen Schlitz herausreichen. Die Frau hinter der Glasscheibe lacht. Sie deutet auf den brummenden Bandwurm vor ihrem Laden. „Ganzen Tag voll“, sagt sie, „aber keiner essen.“ - „Kein Geld“, erklärt der Mann. - „Ja, kein Geld.“
Am Abend beschließt die brandenburgische Polizei, den Zugang zur A12 für Pkw zu schließen. Der Lastverkehr belegt nun beide Spuren, was den Rückstau erstmal wieder vom Berliner Ring fernhalten sollte. Immerhin beschleunigen auch die polnischen Grenzbehörden am Donnerstag den Abfertigungstakt auf sechs Lkw pro Minute.