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Der Historiker Götz Aly.
© Susanne Schleyer

Familien in Berlin: Der Historiker Götz Aly ist Nachfahre des Urtürken

"Wissen Sie, ich bin ein pottnormaler Deutscher mit einem komischen Namen", sagt Götz Aly. Genau deshalb wird der Berliner Historiker andauernd nach seiner Herkunft gefragt. Und das ist eine lange Geschichte: Sie beginnt im 17. Jahrhundert. Teil drei unserer Sommerserie.

Genau 102 Nachkommen des ersten Türken in Berlin – sie nennen ihn den „Urtürken“ – stehen an einem sommerlichen Nachmittag vor einem sechsstöckigen 60er-Jahre-Bau in Charlottenburg. Graue Balkone, ein gepflegter grüner Vorgarten. Hier, am Anfang der Schlossstraße, lebte mit seiner Frau und den sechs Kindern ihr Vorfahre. Er ist schon seit 302 Jahren tot.

Einer der Nachkommen reicht ein Bild herum, es zeigt ein zweistöckiges Einfamilienhaus, mit erhöhtem Parterre, mit Mansardenwalmdach und Gaubenfenster. Es ist das Haus des Urtürken, so, wie es hier mal stand. Die anderen blicken interessiert auf das Bild. Dann geht die Großfamilie – alle sind elegant gekleidet, eindeutig Mittelschicht – 200 Meter zum Schloss Charlottenburg, dorthin, wo der Urtürke gearbeitet hat.

Einer jener Nachfahren des Urtürken ist Götz Aly, ein deutscher Historiker mit Forschungsschwerpunkt Antisemitismus, Nationalsozialismus und Holocaust. In seinem Büro in der Mohrenstraße erzählt der 67-Jährige ein paar Wochen später von dem ungewöhnlichen Familientreffen. Geht man von einer Generationsspanne von durchschnittlich 35 Jahren aus, dann stammen Götz Aly und die anderen in sechster, siebter und achter Generation vom Urtürken ab.

Ahnenforschung interessiert ihn nicht

Trotzdem sagt der Historiker – ein hochgewachsener, eleganter Mann mit weißem Haar und Goldrandbrille auf der schmalen Nase –, Ahnenforschung interessiere ihn im Grunde nicht besonders. Ihn begeistert die jüngere Familiengeschichte, die ein, zwei, drei Generationen zurückreicht. Er hat nicht nur seine eigene erforscht, sondern die von sehr vielen Deutschen. In zahlreichen Büchern hat er ein präzises Bild der deutschen Gesellschaft gezeichnet in der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als Aly mit leiser, freundlicher Stimme erzählt, wie das Familientreffen nach dem Besuch im Schloss Charlottenburg weiterging, ahnt man, was der wahre Grund für seine Teilnahme an der Versammlung der Urtürken-Nachfahren ist.

Das Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961 bescherte Berlin zehntausende Zuzügler.
Das Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961 bescherte Berlin zehntausende Zuzügler.
© Ullstein

Nach dem Schlossrundgang klagen die Nachkommen, die sich gerade noch über den Vorfahren unterhalten haben, in der Villa Oppenheim bei Bouletten, Currywurst und Kartoffelsalat über den Nachnamen, den der ihnen hinterlassen hat. Aly. Wegen dieses Namens müssen sie am Flughafen immer mehr Zeit als Freunde und Bekannte einplanen, vor allem, wenn sie in die USA und nach Israel fliegen. Wegen ihm müssen sie immer wieder vom Urtürken erzählen. Wegen ihm sind sie hier.

Ein "pottnormaler Deutscher"

Die Nachfahren des Berliner Urtürken haben sich vor allem deshalb in Berlin getroffen, weil sie alle immer wieder und auf der ganzen Welt auf ihren Nachnamen angesprochen werden. Und nicht, weil sie gern Ahnenforschung betreiben. Von der Berlin-Türkei-Connection der Familie würden wahrscheinlich die wenigsten wissen. Wären da nicht die vielen Menschen, die den Namen Aly mit einem dunkelhäutigen, dunkelhaarigen Menschen verbinden, und angesichts der hellhäutigen helläugigen Alys ungläubig fragen: „Aly? Wieso heißt du denn so?“

„Das geht mir so, meinen Eltern, meinen Kindern und auch meinen Enkeln“, erzählt Götz Aly, der wohl berühmteste Nachkomme des Urtürken, und lächelt. Er wirkt eher belustigt als genervt. Dann erzählt er, dass er, der älteste Sohn, auch den türkisch-arabischen Zweitnamen Haydar trägt. So soll der Urtürke im osmanischen Reich geheißen haben. Der Zweitname ist eine Familientradition der Alys, die aus den Zeiten der Romantik stammt, wo alles Orientalische schick war.

Fragt man ihn heute zu lange nach dem orientalischen Vorfahren und möglichen Verbindungen zu seinem jetzigen Leben, dann blickt er einen irgendwann mit seinen hellblauen Augen an und sagt, immer noch leise und freundlich: „Wissen Sie, ich bin einfach ein pottnormaler Deutscher mit einem komischen Namen.“ Ein pottnormaler Deutscher, dessen Stammbaum bis ins Jahr 1686 reicht und an dessen Wurzeln ein Türke sitzt, der erste Berlins.

In seinem Büro hängt eine Zeichnung vom Urtürken, gleich am Eingang

Der kam gegen seinen Willen, als Kriegsbeute der preußischen Truppen, während der zweiten Türkenkriege. Der preußische General von Beyfus hatte ihn nach der Schlacht von Ofen, dem heutigen Budapest, mitgenommen. Damals war es Mode unter Adligen, dunkelhäutige Diener zu haben, einen Kammermohren oder eben einen Kammertürken. Ob Friedrich Aly allerdings wirklich aus der Gegend der heutigen Türkei kam, ist zweifelhaft. Das Osmanische Reich erstreckte sich Ende des 17. Jahrhunderts vom heutigen Westchina bis nach Marokko.

Etwa sechs Prozent der Berliner haben heute türkische Wurzeln.
Etwa sechs Prozent der Berliner haben heute türkische Wurzeln.
© Kitty Kleist-Heinrich

Nachdem General von Beyfus der Kurfürstin und späteren Königin Sophie Charlotte den osmanischen Kriegsgefangenen geschenkt hatte, wurde der jedenfalls fortan nur noch Kammertürke genannt. Sophie Charlotte ließ ihn auf den Namen Friedrich Aly taufen. Es war der zweite Kammertürke der Kurfürstin, aus ihrer Heimat Hannover hatte sie bereits Friedrich Wilhelm Hassan mitgebracht. Die Aufgabe von beiden war es, Gäste zu Sophie Charlotte zu führen, Getränke und Kuchen zwischen den Mahlzeiten zu servieren, ihre Briefe zu überbringen. Beide scheinen ihre Sache gut gemacht zu haben. Jedenfalls genossen sie hohes Ansehen, sie verdienten besser als die meisten deutschen Hofangestellten, konnten sich ein Haus ganz oben in der Schlossstraße leisten, in Sichtweite des Charlottenburger Schlosses. Friedrich Aly heiratete 1694 die Kammertürkin Marusch, die in der Zitadelle Spandau arbeitete und auf den Namen Sophia Henriette Zollin getauft war. Sie müssen sich schon vorher gut gekannt haben, zum Altar schritt sie schwanger.

Integration im Rekordtempo

Die Zeiten änderten sich für die Kammertürken, als Friedrich Wilhelm I., Sohn von Sophie Charlotte und späterer Soldatenkönig, 1713 den Thron bestieg. Er entrümpelte den aufgeblähten Hofstaat, entließ die Kammertürken. Friedrich Aly und Marusch zogen in ein einfaches Haus in der heutigen Oranienburger Straße, drei Jahre später starben sie. Ihre sechs Kinder zogen in die preußischen Landstädte, von einem ist bekannt, dass er als Militärarzt in Magdeburg arbeitete. Derzeit ist im Brandenburg-Preußen-Museum in Wustrau eine Ausstellung mit dem Titel „Türcken, Mohren und Tartaren. Muslime in Brandenburg-Preußen“ zu sehen, die auch von Friedrich Aly und seinen Nachkommen erzählt. Die beiden Urtürken und ihre Nachfahren scheinen sich in Rekordtempo in Preußen integriert zu haben.

In Götz Alys Büro hängt eine Zeichnung vom Urtürken, gleich am Eingang. Spätestens beim Hinausgehen blickt jeder Besucher auf den dunkelhäutigen Mann, der einen Turban trägt, einen dicken Schnauzer, Pluderhosen und einen langen Mantel. Götz Aly hat das Bild vor fast 40 Jahren in der Lipperheider Kostümbibliothek gefunden. Diese weltgrößte Sammlung zur Kulturgeschichte von Kleidung und Mode liegt im Berliner Kunstgewerbemuseum, gegründet hat sie Franz von Lipperheide, einer der ersten deutschen Modezeitschriften-Verleger, Ende des 19. Jahrhunderts. Götz Aly ist nicht sicher, ob das Bild wirklich Friedrich Aly darstellt oder doch Hassan, den anderen Kammertürken von Sophie Charlotte. Wieso hängt es gleich am Eingang? Fühlt er sich vielleicht doch nicht als „pottnormaler Deutscher“?

Eine Randnotiz im Lebenslauf

An seinem Schreibtisch, vor einer Wand voller Bücher über den Holocaust, sagt Götz Aly, das sei Zufall. „Der Urtürke ist eine Randnotiz in meinem Lebenslauf.“ Dann wiederholt er: „Der Urtürke würde in meinem Leben wahrscheinlich gar keine Rolle spielen, wäre ich nicht immer wieder gezwungen, mich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen.“

Es gibt nur einen Ort, wo Götz Aly seinen Nachnamen hilfreich findet: in Ostjerusalem. Zeigt er dort seinen Reisepass, erklärt, dass er von einem Osmanen abstamme, und ein wenig später, dass er zum Holocaust forsche, fragen viele Palästinenser: „Wurden in Deutschland wirklich so viele Juden ermordet?“ „Über solche Themen spricht man mit Arabern normalerweise nicht oft“, sagt Götz Aly.

In Israel, wo er sehr häufig in Archiven forscht, scheinen die Einwanderungsbehörden nach vielen Jahren und vielen Einreisen endlich verstanden zu haben, dass Götz Aly einfach ein deutscher Historiker ist. In den USA ist man sich da noch nicht sicher.

In Berlin wundert sich kaum jemand über den Nachnamen

In Berlin, wo 100 000 türkischstämmige Deutsche leben und noch mal so viele Menschen mit türkischem Pass, wo also ganze sechs Prozent der Bevölkerung türkische Wurzeln haben, wundert der Nachname kaum jemanden. Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebte in der Stadt eine kleine türkische Gemeinde. Nach 1961, nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, zogen jedes Jahr neue Türken zu. Weil in Kreuzberg, Tiergarten und Wedding zu viele auf einem Fleck lebten, verbot der Senat Ausländern 1980, in diese Gebiete zu ziehen. Es sollten sich keine Ghettos bilden. Heute allerdings schrumpft die Zahl der Berliner Türken, weil mehr zurück in die Türkei gehen, als Neuankömmlinge hierherziehen.

Vor allem türkische Journalisten sprechen Aly in Berlin auf seinen Namen an. Sie wollen wissen, ob er wegen seines Vorfahren irgendeine Verbindung zum Islam oder zur Türkei empfinde. Seine Antwort ist jedes Mal Nein. „Wenn überhaupt, fühle ich mich dem preußischen Protestantismus verbunden.“

Götz Aly ist, wie so viele, Wahlberliner. Geboren ist er in Heidelberg, aufgewachsen dort und in München. Dass er sich heute trotzdem als Berliner bezeichnet, hat wenig mit dem Urtürken zu tun und viel mit seiner eigenen Vergangenheit. 1968 kam er in die Stadt, zum Studium an der FU, engagierte sich in der Studentenbewegung. Unter anderem war er Mitgründer der maoistischen Zeitung „Hochschulkampf. Kampfblatt des Initiativkomitees der Roten Zellen in Westberlin“. Er sagt: „Wo man sich heimisch fühlt, hat doch wenig mit dem Stammbaum zu tun und viel mit den Erfahrungen, die man mit einem Ort verbindet.“

"Such doch mal was zu unseren Vorfahren"

Vor fast 40 Jahren, als er studierte , forderte sein Vater vor einem Aly-Treffen: „Du bist doch immer in Archiven unterwegs, such doch mal was zu unserem Vorfahren.“

Damals stieß er auf die Urtürkin Marusch, die osmanische Ehefrau von Friedrich Aly, die seiner Familie bis dahin unbekannt war, und mit ihr auf eine Familiengeschichte, die ihn viel mehr interessierte als die Urahnen. Während des Nationalsozialismus hatten ein paar seiner Onkel die Vorfahrin der Alys aus der Familiengeschichte getilgt, als sie den Ariernachweis konstruierten. Diesen Beweis, ganz deutsch zu sein, den die Nazis nach 1933 von Staatsbediensteten forderten. Um den Urtürken möglichst früh einzudeutschen, schoben ihm Götz Alys Verwandte eine deutsche Frau unter. Der Historiker fand damals auch heraus, dass das Bild, das in der Familie bislang als Porträt des Urtürken Aly galt, einen anderen zeigte. Das falsche Bild war im Nationalsozialismus wegen der blauen Augen des Porträtierten ins Familienalbum gerutscht.

Dass Aly nach dem Studium tatsächlich beschloss, als Historiker zu arbeiten – obwohl er erst als Journalist sein Geld verdiente, bei der „taz“, dann bei der „Berliner Zeitung“ –, hat aber nicht mit den beiden Urtürken zu tun, sondern wieder mit seiner eigenen Geschichte. Seine erste Tochter erkrankte kurz nach ihrer Geburt und ist seitdem schwerbehindert. Als das passierte, wurde Aly den Gedanken nicht los, dass sein Kind im Nationalsozialismus der Euthanasie zum Opfer gefallen wäre. Und er wollte verstehen, warum die Deutschen das zugelassen hatten. Seine Nachforschungen zur Geschichte der Euthanasie waren nur der Anfang. Es folgten 18 Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus, viele wurden Bestseller.

Tief in der deutschen Geschichte verhaftet

Seitdem gilt Götz Aly in der deutschen Öffentlichkeit als Experte für die Sozialgeschichte des Nationalsozialismus, des Holocaust, des Antisemitismus. Er hat Essays geschrieben für den „Spiegel“, die „Süddeutsche Zeitung“, die „Zeit“, viele Vorträge gehalten.

Sein Leben, so könnte man sagen, ist tief in der deutschen Geschichte verhaftet. Er lebt in Steglitz. Mit der türkisch-arabischen Community in seiner Heimatstadt Berlin hat er wenig zu tun. Gerade allerdings etwas mehr. Seine jüngste Tochter, die in Neukölln lebt, sucht nach einer Kita. Sie schaut genau, wie in den Häusern das Verhältnis von Mehmets zu Alexanders ist. „Wir sind selbst schuld, wenn sich Ghettos bilden“, sagt Aly.

Dann erklärt er, man müsse Migranten zwingen, Deutsch zu lernen. Und: „Man muss ihnen möglichst schnell die Chance zu sozialem Aufstieg geben, keine Sozialhilfe, sondern Arbeit.“ Migranten sollten positive Erfahrungen mit Deutschland verbinden, keine finanzielle Abhängigkeit, nur dann könne für sie das Land zu einer echten Heimat werden.

Er denkt nach, lächelt, sagt: „Beim Urtürken hat die erzwungene Integration zum Beispiel sehr gut funktioniert.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

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