Berliner Wurzeln: Familie mit Geschichte: Ärztin in dritter Generation
Großvater: berühmter Berliner Chirurg. Vater: ebenfalls. Da konnte sie doch nicht dasselbe tun. Also wurde Anna Zielke Radiologin – und ist mit 34 Jahren Oberärztin. Steile Karrieren sind in dieser Familie offenbar keine Seltenheit. Teil zwei unserer Sommerserie.
Ein Freitagnachmittag auf der Wiese vor dem Kreuzberger Urbankrankenhaus, Fototermin. Anna Zielke, 34 Jahre, Oberärztin der Radiologie. Sie ist verantwortlich für das MRT, eine Röhre zum Aufspüren von Verletzungen, Wucherungen, Tumoren. Vor zwei Jahren wurde Zielke Oberärztin. Ein früher Karrieresprung. Und Zielke kann einen Trick, der ihr in abergläubischen Kreisen zu viel Ruhm verhelfen könnte: Auf der Wiese vor dem Urban findet sie vierblättrige Kleeblätter, eines nach dem anderen.
Ist die Liegefläche am Landwehrkanal, beliebter Sauf- und Sitzort der Kreuzberger Freizeitorientierten, ein guter Ort für Pflanzen in Mutationslaune? Kann Anna Zielke anders gucken? Sieht sie Abweichungen schneller als andere Menschen? Oder hat sie einfach Glück?
Ist es Glück, mit 32 Jahren zur Oberärztin der Radiologie befördert zu werden, weisungsbefugt gegenüber rund zwei Dutzend anderen? Oder doch eher Fleiß? „Wenn man keine Zeit hat, sich nicht auf die Arbeit konzentrieren kann, dann schafft man es nicht“, sagt sie. Das ist das eine: der Fleiß.
Wie der Vater, so die Tochter
Das andere ist die Tradition: Steile Arztkarrieren sind in ihrer Familie keine Seltenheit. Wie der Vater, so die Tochter. Und wie der Großvater, so der Vater. Das geht schon recht lange so. Und wird immer filigraner, immer anspruchsvoller. So lässt sich die Medizingeschichte auch als eine Geschichte von Verfeinerungen lesen. Als eine Geschichte über den technischen Fortschritt. Über Brüche, Verformungen und Zerstörungen – und die verschiedenen Wege, im Laufe der Zeit die Dinge wieder ins Lot zu bringen, immer besser, feiner. Und immer teurer. Eine Geschichte, die sich auch an der Familie Zielke erzählen lässt. Ärzte seit Generationen.
Am 16. Dezember 1943 darf man sich Chefarzt Hans Zielke als einen zufriedenen Menschen vorstellen: Seine Methode funktioniert. Was tun mit gebrochenen Knochen, die schlecht oder schief zusammenwachsen, fragte sich Zielke einst als Oberarzt der Chirurgie in Berlin-Spandau. Die Antwort: Man nehme einen etwa fingerlangen Zylinder aus Elfenbein und benutze ihn als Bolzen zur Verbindung der gebrochenen Knochenteile, direkt hineingehämmert in das Knochenmark. Vor elf Jahren entwickelte er die Methode, schreibt Zielke am 16. Dezember 1943, erst an Hunden, dann an Menschen.
Rund 250 Operationen später steht fest: Die Sache klappt. „Unter all diesen Operationen ist nicht ein einziger Todesfall zu verzeichnen, mit Ausnahme von zwei herzkranken betagten Schenkelhalsbrüchen“, schreibt Zielke. „Lange eiternde Schussverletzungen des Polenfeldzuges“ hätten in zwei anderen Fällen dazu geführt, dass das Elfenbein versagte. Ansonsten aber: Zufriedenheit. Wohl auch, weil die Operation „einfach und billig“ in nur „20 – 30 Minuten“ zu erledigen sei. Sogar Ferdinand Sauerbruch habe Zielkes Methode „besonders anerkannt“.
Sauerbruch war eine Koryphäe, der Über-Arzt der damaligen Zeit. Ein Chirurg, der bei seinen Prothesen ebenfalls auf Elfenbein zurückgriff. 1927 kommt Sauerbruch an die Charité, wo auch Hans Zielke operierte. Heute arbeiten rund 13 000 Menschen in der Charité, die als ältestes Berliner Krankenhaus auf eine lange Geschichte zurückblickt. Elfenbein dürfte dabei nicht mehr zum bevorzugten Prothesenmaterial gehören. Anders zu den Zeiten, als Anna Zielkes Großvater Hans hier noch operierte.
Elfenbein in der Medizin zu benutzen ist damals keine Besonderheit. Zwei Weltkriege und die dazugehörigen Verstümmelungen lassen die Nachfrage nach Prothesen rasch steigen, irgendwie müssen die Kriegsversehrten schließlich wieder eingegliedert werden. Andere erproben Elfenbein-Unterkiefer. Schon Jahrzehnte zuvor wurde das erste künstliche Kniegelenk aus Elfenbein eingesetzt – und funktionierte nicht. Schon bald werden die neuen Prothesen, die Zylinder und Bolzen aus Metall sein, aus Titan.
Die Erfindung ihres Vaters ist ein Scoop, er reist durch die Welt
Großvater Zielke verlässt Berlin nach Kriegsende, geht zusammen mit seiner Frau Helene nach Ahrensburg ins Hamburger Umland. Kauft ein altes Hotel und baut es um in eine Klinik. Sein Sohn Klaus kommt mit. Auf Anweisung seines Vaters lernt er erst mal ein Handwerk, er wird Tischler. Und macht dann etwas komplett anderes, studiert Medizin. Das wäre die eine Lesart. Die andere Lesart ist die Familiensaga: Klaus Zielke bleibt Tischler, arbeitet weiter mit Hammer, Säge und Meißel. Streng genommen hebt er das Handwerk der Tischlerei nur auf eine höhere Stufe, bleibt aber – wie sein Vater – den Knochen treu.
Natürlich, die Ansprüche steigen, die Fähigkeiten der Ärzte auch. Aber am Ende steht Anna Zielkes Vater Klaus genauso wie sein Vater mit Hammer, Säge und Meißel im OP-Saal. Ob nun Tischler oder Chirurg oder beides – zumindest die groben Werkzeuge sind so unterschiedlich nicht. Es ist ja durchaus – willkommen in der Wortspielhölle – ein Knochenjob, schweißtreibend, anstrengend.
Der Vater stellt eine neue Operationsmethode vor
1975, ein paar Jahre vor der Geburt seiner Tochter Anna, stellt Klaus Zielke eine neue Operationsmethode vor: Ventrale Derotationsspondylodese nennt sich das Verfahren, mit dem sich gekrümmte Wirbelsäulen begradigen lassen. Und zwar von vorne, durch den Brustkorb oder die Bauchhöhle, je nachdem, an welchen Stellen die Wirbelsäule krumm ist.
Die Rippen werden mit einer Zange durchtrennt, die Lunge wird zur Seite gedrückt. Bis der Operateur an der Wirbelsäule arbeiten kann, an diesen Knochen mit ihrer weiß-gelblichen Farbe. Die leicht schimmern, wenn sie anfänglich noch von Bändern umgeben sind. Einmal dort angekommen, bohrt Zielke Schrauben in die einzelnen Wirbel und verbindet diese mit einem Titanstab. Die Wirbelsäule wird aufgerichtet, versteift, die Stabilität verbessert. Drei bis vier Liter Blut verloren die Patienten in der Anfangszeit, heutzutage ist es nur noch etwa ein halber Liter, sagt Anna Zielke.
Die Erfindung ihres Vaters ist ein Scoop, er reist durch die Welt, stellt seine Technik in Krankenhäusern vor oder operiert vor Ort gleich selbst. Im hessischen Bad Wildungen wird er Chefarzt, in Syrien lernt er seine spätere Frau Haifaa kennen, eine Gynäkologin. Ärzte, immer Ärzte. Ihr Bruder leidet an Kinderlähmung, kompliziert, die erste Operation verschlimmert die Sache eher. „Die damalige Technik in Syrien war zu primitiv“, sagt Haifaa Zielke heute. Sie begleitet ihren Bruder zur Operation nach Deutschland – und bleibt bei Hans Zielke. Anfangs unterstützt sie ihn bei der Arbeit, aber bald wird sie schwanger, dann Mutter, dann Hausfrau.
Als Anna Zielke geboren wird, bleiben noch zehn Jahre, bis ihr Vater aus gesundheitlichen Gründen seinen Chefarzt-Posten aufgeben muss. Bis dahin: Erinnerungen an eine glückliche Kindheit, ein Einfamilienhaus mit Garten. Glücklich, auch wenn die Eltern oft unterwegs sind, mal mit den Kindern, mal ohne. Mal passen Familienangehörige auf Anna und ihre jüngere Schwester auf, mal kümmert sich ein Kindermädchen. Chefarzt sein bedeutet auch, viel zu tun zu haben.
Freizeit? Privatleben? Fast nichts. "Natürlich ist das Wahnsinn"
Kann aber auch bedeuten, die wenige freie Zeit intensiv zu nutzen. Trotz Beruf: An Kindergeburtstagen hat der Vater frei, Zeit für Topfschlagen, Sackhüpfen, Spielen im Garten.
Wie lebt es sich in solchen Familien? Wer hält den Laden zusammen? Bei Zielkes ist es die Mutter, die ihre Arbeit als Gynäkologin aufgegeben hat und sich heute, da die Kinder lange schon aus dem Haus sind, manchmal darüber grämt. Wenigstens halbtags hätte sie doch im Job bleiben können!
Aber sie sagt auch, dass sie eine von denen ist, die sich hinten anstellen, denn „wenn man seine Familie liebt, dann kommt man als Letztes an die Reihe“. Das Rückgrat der Familie also, mit allen Klischees und Einengungen und Rollenfestlegungen? Hinter starken Männern stehen starke Frauen und so weiter? Das würde ihre Tochter nicht so sehen, aber wenn man unbedingt in Bildern reden will, „dann wäre meine Mutter die Wirbelsäule der Familie“.
Die Fußstapfen sind groß
Und der Vater? Ist derjenige, der die Fußstapfen hinterlässt, so groß, dass die Tochter lange überlegt, ob sie nicht zu groß sind. Und so hat es durchaus Gründe, dass sie Radiologin wird, keine Chirurgin: Man will nicht immer als die Zielke-Tochter durchs Berufsleben laufen. Auch wenn sie „großen Respekt vor seinen Leistungen“ hat. Und Stolz? Stolz ist sie nicht auf ihren heute 83-jährigen Vater; wie soll man stolz sein auf Dinge, zu denen man nichts beigetragen hat?
Was bleibt, sind die schönen Erinnerungen an eine Kleinstadt-Kindheit. An zugeparkte Straßen vor dem Haus, wenn der syrische Teil der Familie zu Festen vorbeischaute. An den Campingurlaub in Kanada, als sich der Mann aus dem Nachbarzelt die Axt ins Bein haute. Nicht tief, aber blutig. Und der Vater die Wunde nähte, direkt vor Ort, weil er in den Erinnerungen seiner Tochter ohnehin immer mit dem Arztkoffer unterwegs war.
Was bleibt, sind die schlimmen Erinnerungen. Der Urlaub in England, sie fahren eine Straße, plötzlich liegt da dieser umgestürzte Reisebus, die meisten Passagiere Kinder. Wie der Vater die Töchter hinter die Rückbank setzt, damit sie nicht sehen, was da passiert. Aber natürlich schauen sie über die Rückbank nach vorne, sehen, wie die Eltern loslaufen. Hören, wie der Vater der Mutter später im Auto die Geschichte von dem Mädchen erzählte, das mit den Beinen unter dem Bus eingeklemmt war. „Ich will nicht sterben“, habe es gerufen, immer wieder, und die Tochter hört alles mit, sieht die blutigen Handschuhe des Vaters.
Geschichten vom Elend, das so schnell hereinbrechen kann. Vom Touristen zum Katastrophenhelfer in ein paar Sekunden. Und dann ist man Arzt und geht dahin, helfen. Weil es der Beruf ist, immer, ein ganzes Leben lang. Obwohl es bedeutet, oft auch zu spät zu kommen. Ist das nicht auch ein schrecklicher Beruf?
„Der beste der Welt“, sagt Anna Zielke. Man muss es vom Ende her betrachten, denn natürlich sind es in der Summe mehr Gerettete als Tote. „Ich will Menschen helfen, so blöd das klingt“, sagt die Tochter. Weil es sich gut anfühlt, wenn sich ein Patient nach der Operation bedankt, die Erleichterung der Angehörigen spürbar wird.
Zurück zum Urban, seinen 600 Betten und mehr als 800 Ärzten, zum roten Teppich vor der Tür, zur mehrsprachigen Ansage aus den Lautsprecherboxen: Hier Rauchverbot! Klingt streng, ist aber eher eine unverbindliche Empfehlung. In den Raucherinseln qualmt das Personal, im Rauchverbot tun es die Patienten. Ein gutes Dutzend Menschen, viele graue Gesichter, die Haare strähnig. Sie tragen kleine Metallgerüste mit sich, in denen Beutel baumeln. Aus den Beuteln führen Schläuche unter ihre Morgenmäntel, verschwinden irgendwo in ihren Körpern. Sagen Sie, Frau Zielke, gibt es eigentlich deprimierendere Orte als Krankenhäuser, mal abgesehen von der Geburtsstation?
Also abhärten, abschalten, Kopf frei machen. So ist die Arbeit
Falsche Frage, braucht man keinem Menschen stellen, der neben der Arbeit auch einen Großteil seiner Freizeit im Krankenhaus verbringt. Die richtige Frage ist die nach der Haltung, dem Selbstverständnis.
„Ein bisschen Wahnsinn ist es, so viel Zeit zu opfern. Man muss sich ein Stück weit dafür aufgeben“, sagt sie. Natürlich lastet die Verantwortung auf ihr, sie auf sich zu nehmen, ist ein Lernprozess. Freizeit? Privatleben? Irgendetwas außerhalb der Klinik? Auch, aber wenig.
„Privat bekommen die Leute manchmal Angst vor mir. Manche schreckt das ab.“ Mit 32 Jahren Oberärztin zu sein – „das ist halt nicht immer einfach“. Ihr Vater wurde spät Vater, Familie und Karriere passen nicht zusammen, heute wie damals.
Am MRT im Urban angekommen, holt Zielke eine alte Teedose hervor. Darin ein paar Elfenbeinzylinder vom Opa, sie hat die mitgebracht, dass man so was mal sieht, in die Hand nehmen kann. Sieht so spektakulär nicht aus. Eine Handvoll Elfenbeinstifte mit ein paar Löchern, eingepackt in Küchenpapier. Alte Medizintechnik, ganz alte Medizintechnik. Daneben das MRT, Listenpreis bei Neuanschaffung rund 800 000 Euro. Das sind die Dimensionen: vom Knochendübel zum Hightech-Gerät in gerade mal 70 Jahren.
Und immer öfter: Tumore
Und so steht sie dann am MRT und sucht den Fehler in den Körpern ihrer Patienten. Die harmlose Sportverletzung, das gerissene Band, das beschädigte Gelenk. Aber auch die Tumore, von denen in letzter Zeit immer mehr in die Röhre kommen.
Unter ihnen auch die Patienten, deren Geschichten sie mitnimmt, nach Feierabend. Der Autohändler mit dem Faible für US-Karren zum Beispiel, ein Elvis-Fan. Einer von denen, wo sich Überschneidungen ergeben, gleiche Leidenschaften, gleiches Alter. Mitleid ist immer auch eine Form von Angst, dass einem das Gleiche zustößt. In dem Fall: ein Nierentumor, „aussichtslos, das wusste er auch“. Ein Jahr ist der Mann nun schon tot, vergessen, sagt Zielke, hat sie ihn nicht. „Man kann nicht mit jedem Patienten, der stirbt, mitsterben. Das geht einfach nicht.“
Also abhärten, abschalten, Kopf frei machen. So ist die Arbeit: morgens hin, gucken, bewerten, abends nach Hause. Am nächsten Morgen von vorne. Und wieder. Und wieder.
Eine Mühle.
Gelobt sei, wer sich drehen lässt.