In der Heimat des Berlin-Attentäters: Wie Tunesier gegen Islamismus kämpfen
Als die Nachricht vom Anschlag kommt, halten die Menschen in Sousse nur kurz inne. Sie kennen das schon: den Terror und das Stigma. Viele IS-Terroristen stammen aus der Gegend, auch der Attentäter vom Breitscheidplatz. Doch die Jugend will sich der Gewalt nicht beugen. Unser Blendle-Tipp.
Mit einem Schlag steht alles, was sie im vergangenen Jahr aufgebaut haben, infrage. Sabrine Ibrahim und Hanen Jrad sitzen mit einigen anderen jungen Frauen und Männern im Obergeschoss eines traditionellen Teehauses im Herzen der Altstadt von Sousse. Ziemlich jung sind die Aktivisten, die ihrer Stadt endlich die Angst vor Islamisten nehmen und wieder Selbstbewusstsein geben wollen. Es ist Sommer, plötzlich piepen und klingeln die Telefone. Eilmeldung: „Attentat in Nizza, mindestens 50 Tote, 300 Verletzte.“
Der Täter kommt von hier. Aus Sousse. Wieder einmal.
Sousse ist eine Hafenstadt am Mittelmeer, knapp 200 000 Einwohner. Tourismus ist der wohl wichtigste Wirtschaftsfaktor – früher zumindest. Schon im Sommer 2015 war Sousse in die Schlagzeilen geraten. Ein Attentäter, der sich zum „Islamischen Staat“, dem IS, bekannte, ermordete 38 Urlauber am Strand. Der Täter war während des Studiums im konservativen Nachbarort Kairouan radikalisiert worden. Und auch Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz, stammte aus der Provinz Kairouan. Seine Familie lebt in Oueslatia, einem kleinen Ort nahe Kairouan. Dort nahmen Sicherheitskräfte am Wochenende drei Männer fest, die offenbar mit Amri in Verbindung standen, darunter ein Neffe Amris. Er soll zugegeben haben, dass er mit dem mutmaßlichen Attentäter Kontakt hatte. Sein Onkel habe gewollt, dass er dem IS die Treue schwöre.
Dem tunesischen Innenministerium zufolge sind rund 3500 Tunesier als IS-Kämpfer nach Syrien oder Libyen gegangen. Schon 2013 hatte in Sousse ein Islamist vor einem Hotel einen Sprengsatz gezündet, getötet wurde nur er selbst. „Terrornest“, hieß es nach dem Massenmord am Strand in internationalen Medien. Der Ruf der Stadt lähmt ihre Bewohner. Wer aus dieser Gegend kommt, ist auch innerhalb Tunesiens gebrandmarkt. Wer bleibt, muss sich selbst eine Zukunft aufbauen – und das Land gleich mit.
Sabrine Ibrahim ist nach dem ersten und zweiten Anschlag in Sousse geblieben. Sie bleibt nach dem Attentat von Nizza und dem Anschlag von Berlin. Ibrahim ist eine schmale Frau in Hosen, 25 Jahre alt, die Haare hat sie mit einem schlichten Kopftuch bedeckt. Vor einigen Monaten hat sie ihre Ausbildung als Mechatronikerin abgeschlossen. Doch statt, wie geplant, in einer Autowerkstatt Geld zu verdienen, hat Ibrahim ein Start-up für interaktive Lehrmittel gegründet. Sie ist jetzt Chefin eines dreiköpfigen Teams, das mit Lernsoftware den Unterricht in Tunesiens Grundschulen fördern will. Zögernd, aber stolz unterstützten ihre Eltern die Tochter finanziell. Nun, sagen sie, bekämen sie etwas zurück. Aus Sabrine Ibrahims entschlossenem Engagement schöpfen sie Hoffnung, dass sich in Tunesien doch was bewegen lässt.
Erst ein paar Jahre ist es her, dass die Hoffnungen der ganzen Welt auf dem Land ruhten. Als sich im Dezember 2010 der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen Korruption und Ungerechtigkeit öffentlich selbst verbrannte und landesweite Unruhen auslöste, bis Diktator Ben Ali fluchtartig das Land verließ. Die Aufbruchsstimmung von damals erfasste die ganze Region, es war der Beginn des arabischen Frühlings, einer Bewegung, die Libyen, Ägypten, Syrien, Jemen und Marokko erfasste. Für ein paar Monate schien es, die arabische Welt könnte sich ein Beispiel an Tunesien nehmen, sich von ihren Autokraten emanzipieren.
Heute ist von Frühling keine Rede mehr. Die Revolutionen sind gescheitert. Wo sich die alten Eliten nicht an der Macht halten konnten, herrscht nun Chaos. Der Bürgerkrieg in Syrien, Stammland des IS, ist eine Folge dieser Bewegung. Auch in Tunesien gelang es in der unkontrollierten Zeit nach dem Zusammenbruch des Regimes zahlreichen Hasspredigern, ins Land zu gelangen und in Moscheen junge Leute ihrer salafistischen Gehirnwäsche zu unterziehen.
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Annette Wagner