Ministerpräsident auf Tour: Wie Michael Kretschmer die sächsische CDU retten will
Er will die Sachsen bei ihrem Stolz packen. Ministerpräsident Michael Kretschmer versucht das scheinbar Unmögliche: sein Land zu einen und die CDU zu retten. Viel Zeit bleibt ihm nicht.
Michael Kretschmer sitzt vor einem Obstteller mit hellen Weintrauben und blassroten Erdbeeren, die er nicht anrührt, vielleicht weil sie noch so unreif aussehen. So unausgegoren wie die politischen Zeiten gerade in diesem Bundesland. In dem genau deshalb der neue sächsische Ministerpräsident der CDU, der an diesem frostigen Märztag auf Sachsen-Tour ist, selbst kaum Zeit hat, um im Amt zu wachsen. Bald regiert er 100 Tage. Gerade hat er sich hier im kleinen Städtchen Oelsnitz im Vogtland die Behindertenwerkstätten des Obervogtländischen Vereins für Innere Mission angeschaut. Und nun bekommt er von der Vorsitzenden einen spontanen Einführungskurs in aktuelle Gesellschaftskunde. Es ist ein Vortrag, der mitten hinein führt in eine tief verunsicherte, von ihren Grundsätzen gespaltenen Gesellschaft – die Kretschmer nun wieder einen soll.
Die Vorsitzende räuspert sich, sie ist nervös, weil ihr das Anliegen so wichtig ist. Sie sagt: „Werte und Orientierungen gehen immer mehr verloren.“ Es ist ein Satz, der jeden Politiker sofort unter Druck setzt, denn er sagt indirekt auch: Und ihr seid schuld! Es gebe keine gemeinsame Grundhaltung mehr. Ein Beispiel sei, sie macht eine Pause – „Gender Mainstreaming“, also die Strategie zur Förderung der Geschlechtergleichstellung. Kretschmer guckt irritiert, das Thema hat er hier jetzt nicht erwartet. Die Vorsitzende fährt fort: „Die Leute verstehen das einfach nicht, und es verwirrt sie.“ Sie äußert die Sorge, dass das Thema im Schullehrplan auftaucht. Und dann: „Wir sehnen uns danach, dass die Politik Werte wieder definiert und mit uns gemeinsam erst diskutiert, damit gemeinsame Antworten wieder möglich sind, etwa zu Bildung, Pflege – oder Flüchtlingen.“
Die CDU hat diese Werte nicht geprägt, gibt er zu
Man könnte ihren Satz auch frei übersetzen, er würde dann lauten: Und wenn ihr beim nächsten Mal die Grenzen öffnet, dann fragt uns entweder vorher. Oder schafft Ordnung und Sicherheit. Kretschmers Aufgabe ist es, vereinfacht ausgedrückt, Wut und Fortschritt zu versöhnen. Oder noch einfacher: Er muss den rasanten Aufstieg der AfD stoppen, denn bald wird schon wieder gewählt in Sachsen. Im Frühjahr 2019 sind Kommunalwahlen, im Sommer Landtagswahlen.
Die Oelsnitzer Mission, die von der evangelischen Diakonie getragen wird, hat den Prozess, den sie von der Politik erwartet, vorweggenommen. Sie hat Schlagworte für Werte erarbeitet: Ehrlichkeit, Wertschätzung, Dienen, Glauben, Orientierung etwa. Alle Mitarbeiter werden danach geprüft, wie sie diese Werte leben. Sie nennen das Charakterbildung. Die Diakonie ist von der Wiege bis zur Bahre in alle Lebenslagen involviert – Krippe, Kita, Schule, Altenpflege, Hospiz.
Kretschmer, der ja als Ministerpräsident automatisch auch den Auftrag hat, Orientierung zu geben, sagt erstaunlich ehrlich: „Wir haben es vernachlässigt, darüber zu sprechen. Die CDU hat diese Werte nicht geprägt. Das ist ein Manko.“
Aber was ist nun sein Plan?
Auch denen zuhören, die brüllen
Ein paar Wochen zuvor, in einem Gespräch in der Kantine des Bundesrats, am Rande einer Debatte, sagt er: „Es geht um Zusammenhalt. Alles, was ich als Ministerpräsident tue, hat dieses Ziel. Denn wenn die Leute keine Hoffnung spüren und keinen Zusammenhalt, bin ich als Politiker gescheitert, weil ich zu lange nur doziert habe.“
Einige aus Sachsens politischer Elite halten diese Aufgabe für ein Himmelfahrtskommando. Dass die AfD bei der Bundestagswahl erstmals in einem Bundesland stärker als die CDU abschnitt, wirkt für sie bedrohlich wie eine Sturmflut. Kretschmer selbst hat es aus dem Bundestag gespült, er verlor das Direktmandat in Görlitz, das er vier Mal hintereinander gewonnen hatte, an einen AfD-Mann. In der sächsischen CDU herrschte nach diesem Desaster Angst vor dem Absturz als Volkspartei. Auch deshalb musste Kretschmers Vorgänger Tillich gehen. Die gute, alte Selbstgewissheit, dass Sachsens CDU immer weiterregiert, bereits seit 1990, ist vom Aufstieg der AfD zerstört worden. In dem Gespräch im Bundesrat sagt Kretschmer auch einen Satz, den er überall wiederholt wie ein Mantra: „Ich will Politik nicht für die Sachsen machen, sondern mit den Sachsen.“
Was das konkret heißen könnte, kann man im Vogtland erkunden. Denn am Abend nach Kretschmers Termin in Oelsnitz marschiert eine halbe Autostunde entfernt fast die gesamte sächsische Staatsregierung auf, um mit den Leuten in Reichenbach zu diskutieren. Es ist ein erstaunlich offenes, ja modernes Format für Sachsens bisher so strukturkonservative, stolze Partei. Kretschmer sagt zu den 300 Gästen: „Wir sind in Sachsen ein Klub der klaren Aussprache. Hart in der Sache, anständig im Ton.“
Jede Kommune bekommt Geld
Er kennt seine Pappenheimer, sie können wie man aus Freital oder anderswo weiß, sehr ausfällig werden. Aber auch dazu hat Kretschmer eine Haltung: Man müsse die Leute ernst nehmen, auch die, die brüllten, weil es „keine guten oder falschen Ängste gibt“. Kretschmer kann sehr ausdauernd dafür werben, Pragmatismus nicht mit Grundsatzlosigkeit zu verwechseln. „Meine Politik hat nicht den Anspruch, den Menschen zu sagen, wie es zu sein hat. Politik beruht darauf, zu nehmen was ist. Politiker dürfen nicht glauben, sie könnten eine Außenperspektive einnehmen und die Leute von dort aus beurteilen.“ Das verletze und irritiere sie und sei fatal, „weil politische Extremisten wie die AfD davon profitieren“.
In Reichenbach verziehen sich alle Staatsdiener nach der persönlichen Vorstellung artig in verschiedene Räume, um den Bürgern Rede und Antwort zu stehen. Kretschmer sitzt im Tanzsaal in der Mitte eines Stuhlkreises. Es sieht aus, als wolle man „Der Plumpsack geht um“ spielen. Erstaunlich ist, dass niemand über die Asyl- und Flüchtlingspolitik sprechen will – es geht um die Angst, als Kleinstadt demografisch auszubluten.
In seinen fast 100 Tagen Amtszeit hat Kretschmer ziemlich viel Geld für Neuerungen ausgegeben. Das ist seine Antwort auf die Frage, wie man Zusammenhalt neu schmiedet: Jede Kommune bekommt ein eigenes Budget, exakt 70 000 Euro; beim Breitbandausbau wird ihnen der kommunale Anteil von zehn Prozent abgenommen, das sind jeweils 80 000 Euro; die Volkshochschulen sollen mit der Landeszentrale für politische Bildung auch im ländlichen Raum wieder präsenter sein; die Polizei und die Feuerwehr bekommen mehr Geld und mehr Leute. Von seinen Bürgermeistern weiß Kretschmer, dass vor allem die Feuerwehr in vielen Orten mittlerweile ideologisch fest in Hand der AfD ist.
Das Kabinett hat er mit Weggefährten besetzt
Kretschmer hat in der kurzen Zeit auch schon Grundpfeiler der eigenen Partei gefällt wie morsche Bäume. In Sachsens CDU war es ein Glaubensbekenntnis, Lehrer nicht zu verbeamten. Kretschmer dagegen glaubt, dass er gute Lehrer nur unter seiner Devise „Leistung muss sich lohnen und belohnt werden …“ halten kann. In der entscheidenden, nicht-öffentlichen Fraktionssitzung, in der Kretschmer den Plan intern durchsetzt, sprechen einige Abgeordnete von „Sündenfall“. Kretschmer kontert ruhig: „Jeder ist aufgefordert, bessere Vorschläge zu machen.“ Um seine Pläne voranzutreiben, hat er das Kabinett an entscheidenden Stellen mit alten, politischen Weggefährten besetzt. Trotzdem loben die eigenen Leute ihn, weil er, anders als Tillich, den Dialog mit allen pflegt. Er habe schon als Generalsekretär „eher die Seele“ der Partei gestreichelt.
Im Bundesrats-Bistro ist Kretschmer distanziert höflich, auch misstrauisch. Fragt man ihn Persönliches, fragt er kurz angebunden zurück: „Noch andere Fragen?“ Vor allem aber zeigt er sein Talent, so zu tun, als verstehe er die ganze Aufregung gar nicht. Eine seiner Erklärungen, in die Schnittstelle zwischen Populisten und Demokraten gesprochen, lautet: „Populismus ist nichts anderes, als unsere demokratischen Leitplanken infrage zu stellen und zu verschieben.“ Aber man solle doch darüber nicht so erschrecken, sondern diskutieren. „Nicht jeder, der einen kritischen Punkt hat, ist radikal und fällt für ein Gespräch aus.“
Die Beruhigungsmaschine für alle
Es ist im Prinzip eine Beruhigungsmaschine, die Kretschmer permanent anwirft: Leute, keine Sorge, wir machen das schon! Daseinsvorsorge – das ist Kretschmers Schlüsselwort. Er setzt alles daran, dass der neue Rahmen, den er nun Städten und Kommunen gibt, das neue Miteinander auf Augenhöhe mit Bürgermeistern und Landräten, zu einem Ziel führt: zum Umdenken bei denen, die derzeit für die CDU verloren scheinen.
Genau deshalb will Kretschmer unter allen Umständen vermeiden, sich auf irgendeiner Seite, rechts oder links, verorten zu lassen. An der TU Dresden kann man das gut studieren, als er eine Rede zur Auftaktveranstaltung eines neuen Forschungsprojektes hält. Das Thema ist brisant und aktuell und lautet: Wie kann gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingen in Zeiten von Migration und Populismus? Mehr als 500 Leute sind an dem Abend in den Hörsaal 4 geströmt, Professoren, Dozenten, Studenten und viele andere Bürger. Ein Professor sagt, was wir jetzt hier brauchen, ist ein sächsischer Macron.
Alle erwarten eine Grundsatzrede. Kretschmer aber entzieht sich jeder Erwartung, stattdessen reicht er eher den Rechten die Hand, denn das sind die, die er zurückgewinnen muss, und betont fast aufreizend lässig: „Jede Stigmatisierung ist falsch.“ Soll heißen: Jede Schublade, die wir aufmachen, um Menschen hinein zu tun, schadet.
Einer, der Kretschmer noch aus der Jungen Union kennt, sagt, eigentlich sei der immer ein Moderator gewesen, ausgleichend, vorsichtig, total pragmatisch, „kein Schlachtenlenker“. Will man Kretschmers Verständnis vom Staat ergründen, muss man ihn im Bundesrats-Bistro doch nach Privatem fragen. Er ist in der DDR geboren, ein Wendekind, beim Fall der Mauer ist er 14 Jahre alt. Er sagt: „Mich stört sehr dieses Bild vom Vater Staat. Nicht der Staat hält sich die Bürger, sondern die Bürger haben sich den Staat geschaffen. Die sagen, was er zu tun und zu lassen hat. Politiker dürfen keine Volkserzieher sein.“
Alle seine Freunde hatten Abitur. Er holte es nach
Er kommt aus einem evangelischen Elternhaus, wird konfirmiert, die Opposition zur DDR besteht vor allem im christlichen Denken. Sein bester Freund aus Jugendtagen erinnert sich, dass Kretschmer kein überragender Schüler gewesen sei. Er ist ruhig, zurückhaltend, handwerklich begabt, aber „kein Leader“. Die Friedensgebete politisieren die Freunde. 1991 verlässt er mit der mittleren Reife die Schule, beginnt eine Lehre zum Büroinformationselektroniker.
Der Freund sagt: „Alle seine Freunde hatten das Abi.“ Kretschmer holt es nach, Abendschule neben der Lehre, später Fachabitur und Studium des Wirtschaftsingenieurswesens. Gleichzeitig engagiert sich Kretschmer in der Jungen Union, mit 18 wird er Stadtrat. Jetzt entwickelt der junge Kretschmer erstmals Ehrgeiz. Er klebt wie besessen Plakate für die CDU, schraubt einen Barkas B 1000 fahrtüchtig, einen legendären DDR-Kleintransporter; lackiert ihn weiß, klebt den CDU-Schriftzug drauf. Schließlich holt er den Deutschlandtag der Jungen Union 1996 nach Görlitz. Der Freund sagt: „Er hat gesehen, dass es sich lohnt, sich anzustrengen. Dass man dann etwas erreichen kann. Das hat ihn geprägt.“
Heute sagt Kretschmer über seinen Bildungsweg bescheiden, dass doch in Deutschland Aufstieg durch Bildung garantiert sei. Er findet aber schon: „Aber was man den Leuten nicht abnehmen kann, ist, dass sie sich auch anstrengen müssen.“ Was er nicht öffentlich sagt – dass er das schon auch von seinen Wutbürgern erwartet.
Neid und Recht und Ordnung
Fragt man beim politischen Gegner, in Sachsen oder in Berlin, redet niemand schlecht über ihn. Aus Sachsens SPD, Kretschmers Regierungspartner, ist zu hören: „Er ist liberaler als er vorgibt.“ Im persönlichen Umgang sei er zuverlässig. Kretschmer hat intern schon lange vor der Bundestagswahl die Fehler der CDU analysiert. Die Vernachlässigung des ländlichen Raums spielt eine herausragende Rolle, erst danach kommen Sicherheit, Bildung, Digitalisierung. Er gehört zu den Leuten in der CDU, meistens sind das Ostdeutsche, die glauben, dass das Jahr 2015, die Öffnung der Grenzen, vor allem ein Trigger dafür war, sämtliche andere Probleme und Sorgen der Menschen an die Oberfläche zu katapultieren. Was in der Asyl- und Flüchtlingspolitik gilt, gilt für Kretschmer deshalb auch für alle anderen Themen: Die Ordnung muss stimmen, Rechtstaatlichkeit muss das oberste Prinzip sein. Sonst bietet die Politik Raum für Vorurteile.
Am Abend in Reichenbach fragt eine junge Frau, was er dagegen machen wolle, dass Sachsen im übrigen Deutschland so kritisch gesehen werde, „auch weil wir hier ja so viele Nazis haben“. Die Frage ist der Finger in der Wunde. Kretschmer weiß, dass er hier den größten Balanceakt vollbringen muss – den Wütenden Selbstbewusstsein geben, ohne ihnen auf Dauer nach dem Munde zu reden. Er antwortet, dass er diese verallgemeinernde Stigmatisierung für „total ungerecht“ hält, dass man aber diesen Leuten außerhalb Sachsens wiederum Gründe liefern müsse, „neidisch zu sein auf uns“. Und dafür brauche man „Recht und Ordnung“. Es ist sein Dreiklang, mit dem er niemandem wehtun will. Es ist der Versuch, den Graben im Land über den Stolz zu kitten.